Deutschland scheitert dramatisch Ein Manko, das bereits bekannt war
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutschland ist ausgeschieden, aber die Leistung gegen Spanien macht Hoffnung auf mehr. Am Ende entschieden – wie so oft – Kleinigkeiten.
Joshua Kimmich lehnte am linken Pfosten des Tores vor der Fankurve, den Blick gesenkt. Bundestrainer Julian Nagelsmann reichte ihm die Hand, umarmte ihn, tröstete den Untröstlichen.
Noch eine ganze Weile lehnte der Bayern-Profi an dem Pfosten, dessen Innenseite noch knapp 40 Minuten zuvor ein ganzes Stadion und weite Teile der Nation in kollektive Ekstase versetzt hatte. Das Tor zum 1:1 von Florian Wirtz, das auch dank Mithilfe des Aluminiums zustande kam, es war am Ende wertlos.
Deutschland musste sich nach aufopferungsvollem Kampf geschlagen geben. Und dem Stuttgarter Publikum, das nach dem 2:0 in der Vorrunde gegen Ungarn bei dieser EM bereits zum zweiten Mal Zeuge eines Auftritts der deutschen Mannschaft werden durfte, blieb nach Abpfiff nichts weiter übrig, als das Team mit Applaus und Gesängen wieder aufzubauen. Als die Stadionregie dann allerdings noch übermotiviert den EM-Schlager "Völlig losgelöst" von Peter Schilling abspielte, war kaum jemandem zu Singen zumute. Wie auch?
Zu groß war noch der Schock über ein Ausscheiden, das nicht hätte sein müssen. Zu tief saß der Schmerz über die verpassten Chancen und die vertane Möglichkeit, eine über weite Strecken ausgeglichene Partie auf seine Seite gezogen zu haben. So bleibt Deutschland weiterhin seit 36 Jahren ohne Pflichtspielsieg gegen Spanien.
Es spricht für den Bundestrainer und Joshua Kimmich, dass sie die höchst umstrittene Entscheidung von Schiedsrichter Michael Oliver in der 106. Minute nur am Rand thematisierten. "Der Schiedsrichter wollte die Partie nicht mit einem Handelfmeter entscheiden", konstatierte Bayerns Rechtsverteidiger, der per Kopf die Vorlage zum 1:1 gegeben hatte.
Auch er wusste, dass seine Mannschaft es selbst verpasst hatte, den entscheidenden, gewinnbringenden Treffer zu erzielen. Es waren Kleinigkeiten, die über Sieg oder Niederlage entschieden, und voraussichtlich dieser Mangel an Effizienz, der der deutschen Mannschaft am Ende das Weiterkommen gekostet hat. Ein Manko, das sich bereits im Achtelfinale gegen Dänemark herauskristallisiert hatte, als man den Kontrahenten durch mangelnde Chancenverwertung zu lange im Spiel gelassen hatte.
Zwei Kopfbälle, die über Sieg und Niederlage entschieden
Kai Havertz sowie der eingewechselte Niclas Füllkrug hatten gemeinsam zehn Abschlüsse zu verzeichnen, ein Treffer wollte ihnen nicht gelingen. Insbesondere Füllkrug hätte spät in der Nachspielzeit der Verlängerung mit der letzten Aktion für einen zweiten Wirtz-Moment sorgen und das Stadion erneut zum Explodieren bringen können. Sein Kopfball rauschte hauchzart am Pfosten vorbei.
So waren es am Ende zwei Kopfbälle, die über Sieg und Niederlage entschieden. Denn während mit Füllkrug ein aktueller Dortmunder denkbar knapp scheiterte, köpfte mit Mikel Merino ein ehemaliger Dortmunder vor den Augen der eigenen Anhängerschaft sein Land ins Glück.
"Es ist traurig, dass es vorbei ist. Es gab eine Euphorie, ein Gemeinschaftsgefühl, das es lange nicht mehr gegeben hat", versuchte der mitgenommene Füllkrug das Turnierende zu verarbeiten. "Es wird von Sekunde zu Sekunde härter, das zu realisieren. In der Kabine ist Stille, der Trainer hat gute Worte gefunden. Aber im Moment gibt es keinen Trost."
Worte, die der Bundestrainer auf der Pressekonferenz auf ähnliche Art und Weise noch einmal wiederholte. Der Bundestrainer, das wurde bereits nach Abpfiff klar, wünscht sich einen bleibenden Effekt von diesem Turnier. Von dem, was Mannschaft und Fans über Wochen demonstrierten, soll auch in der Gesellschaft etwas ankommen.
Nagelsmanns Appell an die Gesellschaft
"Ich glaube, wir haben es geschafft, dieses Land ein wenig aufzuwecken und schöne Momente zu bescheren. Und ich hoffe, dass die Symbiose zwischen Fußballmannschaft und Fußballfans auch in der normalen Gesellschaft stattfindet", so Nagelsmann.
So bleibt von dieser Heim-EM vorerst die hoffnungvolle Erkenntnis, dass die deutsche Mannschaft eben doch noch einen mehr als passablen Ball spielen kann und sich ein Team gefunden hat, das füreinander einsteht. Das, und das gab sogar der Bundestrainer preis, sei in der Vergangenheit nicht immer so gewesen.
"Das, was man der Nationalmannschaft berechtigterweise vorgeworfen hat, dass sie ihren Job abspulen und dann nach Hause gehen, das hat man in keinem Spiel gesehen", so Nagelsmann."Die Spieler haben viel investiert auf dem Platz." Ein Investment, das am Ende ohne den gewünschten Ertrag blieb.
"Tut weh, dass man zwei Jahre warten muss, bis man Weltmeister wird"
Für Toni Kroos war es das letzte Spiel seine Karriere, auch Thomas Müller und Manuel Neuer könnten folgen. Ein kleinerer Umbruch wird für eine der ältesten deutschen Turniermannschaften überhaupt unumgänglich sein. Der Bundestrainer wird ihn vorantreiben – mit einem klaren Ziel.
"Das Traurigste ist, dass eine Heim-EM in meiner Karriere nicht mehr kommt. Das tut weh. Und dass man zwei Jahre warten muss, bis man Weltmeister wird, das tut auch weh." Kurz nach dem bittersten Moment seiner DFB-Karriere blickte der 36-Jährige wieder nach vorne. Denn auch er wird wissen, dass beim nächsten Mal vielleicht der eine Kopfball reingeht. Und der andere nicht.
- Eigene Beobachtungen vor Ort
- DFB-Pressekonferenz mit Julian Nagelsmann