Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.DFB-Elf vor der EM Man konnte sich nur verwundert die Augen reiben
Gegen Griechenland sicherte Pascal Groß der deutschen Mannschaft kurz vor Schluss den Sieg. Die Gesamtleistung war kurz vor EM-Start allerdings alles andere als überzeugend.
Aus Mönchengladbach berichtet Noah Platschko
Der Fußball ist manchmal ein seltsames Spiel. Während ein überzeugendes Remis einer Mannschaft lediglich mit einem Punkt belohnt wird, gibts es für einen schwachen Sieg gleich die dreifache Menge an Zählern. Soweit mit der einfachen Mathematik.
Wer nun am Freitagabend Zeuge des letzten Testes des DFB-Teams vor der Heim-EM werden konnte, der durfte sich verwundert die Augen reiben. Nichts war zu sehen von dem couragierten Auftritt beim 0:0 gegen die Ukraine vom Montag, dem starken Pressingspiel und den vielen aggressiven Balleroberungen an der Mittellinie.
Stattdessen bot die deutsche Mannschaft beim 2:1-Sieg gegen Griechenland insbesondere im ersten Durchgang ein pomadiges Ballgeschiebe an. Eine Unkonzentriertheit folgte auf die andere, gelungene Passstafetten waren eine Seltenheit. Und den ersten Torschuss überhaupt verzeichnete Bayerns Jamal Musiala erst in der 22. Minute (!) aus der Distanz. Ein enttäuschender Rückfall, denkt man an den Auftritt vier Tage zuvor im Max-Morlock-Stadion zurück.
Pfeifkonzert zur Pause
Die Leistung erinnerte an dunkle Zeiten in der Endphase unter Hansi Flick, in der Deutschland so lustlos und behäbig auftrat, dass man das Gefühl bekommen konnte, das DFB-Trikot zu tragen sei mehr Bürde als Ehre. Das Publikum im Borussia-Park versuchte zwar noch, mit einem halbgaren Wechselgesang verschiedenster Schlager ("Deutschland, Deutschland", "Steht auf, wenn ihr Deutsche seid" oder auch dem neuen Songliebling "Pyrotechnik ist doch kein Verbrechen") die Stimmung positiv zu halten. Doch spätestens in der 28. Minute, als Jonathan Tah weit in der gegnerischen Hälfte einen Pass ungenau ins Seitenaus spielte, ertönten die ersten unzufriedenen Pfiffe des Publikums, die zum Pausentee in ein unüberhörbares Pfeifkonzert mündeten. Ausgerechnet an dem Ort, an dem sich die deutsche Mannschaft vor zwei Jahren mit einem furiosen 5:2 gegen Italien in die Sommerpause verabschiedet hatte, drohte die Stimmung zu kippen.
Statt der Sommerpause 2022 erwartet nicht wenige Profis der deutschen Nationalmannschaft in nur wenigen Tagen das Highlight ihrer Spielerkarriere. Eine Heim-Europameisterschaft zu spielen, ist weiß Gott nicht jedem vergönnt. Umso besorgter muss man als Beobachter am Freitagabend sein und sich fragen, ob das Nationalteam dem großen Druck, der zweifelsohne auf ihm lastet, gewachsen ist.
Nagelsmann sucht nach Erklärungen
Wieso verfiel das deutsche Team zurück in diese alten, doch eigentlich längst hinter sich gebrachten Muster? Der Bundestrainer fasste sich nach einer entsprechenden t-online-Frage an die Stirn. "Ihr wisst ja, kurz und prägnant ist nicht meine Stärke", startete der Coach seine Ausführungen. "Es lag an verschiedenen Dingen. Wir hatten zu wenig Intensität, was daran liegen könnte, dass wir in einer Woche das Eröffnungsspiel haben und die Spieler heute alles so bisschen mit Auge gemacht haben."
Gleichzeitig sei man im Gegensatz zur Partie gegen die Ukraine auf einen Gegner getroffen, der "total befreit" aufspielen konnte, da sich die Griechen eben nicht auf ein Turnier vorbereiten mussten. Außerdem gebe es immer einen Ist-Zustand. Schon fast philosophisch führte der Bundestrainer aus: "Wichtig ist nicht, wo man ist oder wo man war, sondern wo will man hin. In der Halbzeit haben wir gezeigt, wo wir hinwollen."
Die deutsche Mannschaft brannte im zweiten Durchgang wahrlich kein Feuerwerk ab, zeigte sich aber insbesondere dank des halbwegs genesenen und nicht mehr gesperrten Leroy Sané deutlich zielstrebiger. Der eingewechselte Pascal Groß durfte sich mit seinem 2:1-Siegtreffer in der 89. Minute als Matchwinner fühlen.
Sané ist einer der Spieler, die für den EM-Auftakt in München gegen Schottland in die erste Elf rutschen könnten. Der Bundestrainer hat eine "startende 13" gefunden. Trotz der schwerfälligen Vorstellung werde er vor dem EM-Auftakt nur punktuell Veränderungen vornehmen.
Nagelsmann stärkt Neuer den Rücken
Und da wäre noch die Neuer-Thematik. Erneut patzte der Bayern-Keeper schwer, dieses Mal mit Folgen. Nicht ganz unrichtigerweise verwies der Bundestrainer allerdings auf eine Fehlerkette, an dessen Ende der 38-jährige Schlussmann sich den entscheidenden Fauxpas erlaubte.
Die Entscheidung, auf Neuer zwischen den Pfosten zu setzen, ist für Nagelsmann unumkehrbar. "Ich lasse keine Diskussion aufkommen, auch wenn es jeder probiert", sagte er nach dem Spiel am RTL-Mikrofon. Dabei verwies Nagelsmann auf die starken Paraden, die Neuer in dem Spiel ebenfalls gezeigt habe.
Dass der Bundestrainer angekündigte Entscheidungen aber auch revidieren kann, diese Erfahrung musste unlängst Torhüter Alexander Nübel machen. Trotz seiner ursprünglichen Ankündigung, vier Torhüter mitzunehmen, wird der VfB-Keeper im finalen Aufgebot fehlen (mehr dazu lesen Sie hier). Ein kleiner Hoffnungsschimmer für Konkurrent Marc-André ter Stegen, der sich zuletzt enttäuscht über seine abermalige Reservistenrolle gezeigt hatte.
Bis zum kommenden Freitagabend werden nun einige Fragen offen bleiben
Stabilisiert sich Manuel Neuer und kann er so der zuverlässige, fehlerfreie Rückhalt sein, der er über Jahre war? Findet Kapitän İlkay Gündoğan zu besserer Form und wird er kurz vor Turnierstart noch zu dem wichtigen Bindeglied auf der Zehnerposition, das er eigentlich sein sollte? Und findet die deutsche Mannschaft wieder zu ihrem erfrischenden, mutigen Presssingspiel, welches sie noch gegen die Ukraine fast über die ganze Spieldauer gezeigt hatte? Die zweite Halbzeit gegen Griechenland offenbarte, dass die DFB-Männer – ähnlich wie zuletzt auch die DFB-Frauen – auf schwache Leistungen im ersten Durchgang eine Reaktion zeigen können.
"Viele Anwesende hatten das Wort Stimmungsdämpfer bereits in ihren Block geschrieben", begann ein Journalisten-Kollege bei der Pressekonferenz nach dem Spiel seine Frage – doch weit kam er nicht. "Scheiße", unterbrach ihn der Bundestrainer, was für leichtes Gelächter im Saal sorgte.
"Am Ende ist Fußball irgendwo pragmatisch. Du musst einen Gegner nicht an die Wand spielen, sondern deinen Job erfüllen. Wenn wir jetzt dreimal wie heute 2:1 in der Vorrunde gewinnen, dann würde ich das unterschreiben", bilanzierte Nagelsmann nüchtern. Froh, ein schwaches Spiel noch zu einem Sieg umgebogen zu haben.
Da war sie wieder, die einfache Mathematik.
- Eigene Beobachtungen vor Ort
- Pressekonferenz mit Julian Nagelsmann nach dem Spiel
- Interview von Julian Nagelsmann nach dem Spiel bei RTL