Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Länderspiel gegen die Türkei Nicht schon wieder
Im vorletzten Länderspiel des Jahres kassiert Bundestrainer Julian Nagelsmann seine erste Niederlage. Die Partie gegen die Türkei zeigt alte Probleme – und es gibt eine ernüchternde Erkenntnis.
Gut möglich, dass an diesem Samstagabend Hansi Flick vor dem Fernseher saß, mit einer ungesunden Mischung aus Verzweiflung und Genugtuung ein ums andere Mal aus dem Sitzmöbel sprang und rief: "Seht Ihr? Seht Ihr?"
Denn was die deutsche Nationalmannschaft da im Berliner Olympiastadion beim 2:3 gegen die Türkei anbot, war ein Rückfall in nicht allzu weit entfernte Zeiten, in denen Flick als Bundestrainer an der Seitenlinie stand. Man möchte ob des wilden, im Streben nach Kontrolle aber wieder einmal unkontrollierten Auftritts der DFB-Elf ausrufen: Nicht schon wieder! Haben sie nichts gelernt?
Sieben Monate vor Start der Heim-EM 2024 tritt die DFB-Elf höchstens auf der Stelle, auch die von teils zu hohen Erwartungen getragene Euphorie um Flicks Nachfolger Julian Nagelsmann scheint mindestens etwas verflogen.
Auftritt muss große Sorgen machen
Die Erkenntnis nicht nur, aber besonders aus diesem letzten deutschen Heimspiel des Jahres: Auch der ersehnte Heilsbringer Nagelsmann kann nicht zaubern. Mehr noch: Dieser Auftritt muss ihm, der im Gegensatz zu seinem zuletzt dauerbeleidigten Vorgänger Flick ja durchaus Frische, Kreativität und eine gewisse Leichtigkeit versprüht, Sorgen machen. Große Sorgen.
Die Offensive? Zwar mit guten Ansätzen, durchaus mit diesem Funken mehr Durchschlagskraft, der aber doch noch zu selten kommt. Die Defensive allerdings? Wacklig, fehleranfällig – und verwundbar: Sechs Gegentore gab es in den ersten drei Spielen unter Nagelsmann, also genau zwei pro Partie – bei Flick waren es 2023 mit knapp 2,2 nur minimal mehr. Auch insgesamt wirkte der Gegner doch wieder einmal wacher, aggressiver im Spiel. Nagelsmann weiß nicht erst seit seiner Vorstellung als deutscher Auswahltrainer besonders um die Schwäche in der Abwehr seiner Mannschaft. "Wir müssen defensiv variabler werden", kündigte der 36-Jährige erst vor dem Türkei-Spiel an.
Problem auf der rechten Seite
Die Idee ausbaden musste der gelernte Stürmer Kai Havertz. Nagelsmann stellte den früheren Leverkusener auf die linke Abwehrseite. Das Experiment glückte tatsächlich - ausgerechnet bis auf den vom Chelsea-Star verursachten Handelfmeter – durchaus. Ironischerweise fehlte es stattdessen aber auf Rechts den auf dieser Seite eigentlich erprobten Benjamin Henrichs und Leroy Sané ein ums andere Mal derart bemitleidenswert an jeglicher Abstimmung, dass die Gäste wiederholt die freundliche Einladung höflich annahmen und eben von dort zu durchaus sehenswerten Toren kamen.
Es ehrt Nagelsmann, dass er schnell Dinge versucht, ausprobiert, auch mal unkonventionell, überraschend – er hat ob der kurzen Zeit bis zur Heim-EM auch keine andere Wahl. Und natürlich war und ist die Hoffnung vermessen, Nagelsmann müsse eigentlich nur im karierten Hemd an der Seitenlinie stehen, schon zaubere sich die deutsche Nationalmannschaft mit berauschendem Offensivfußball von Kantersieg zu Kantersieg, vorne unmöglich aufzuhalten, hinten noch unmöglicher zu bezwingen und von einem dadurch euphorisierten Publikum auf Händen zu Titel um Titel getragen. Ein 3:1 gegen die USA und ein 2:2 gegen Mexiko in den ersten beiden Partien sind aber – bei allem Respekt für die beiden Gegner – kein Grund, dass die Reinigungskräfte in der DFB-Zentrale in Frankfurt am Main schon mal vorsorglich ein Regal für den nächsten EM-Pokal abstauben müssen. Damit wurde und wird ihm Unrecht getan – auch wenn der Bayer sicher selbst wusste, welche Aufgabe er denn da annimmt, als er das Amt von Flick übernahm.
Fast schon ein Armutzeugnis
Trotzdem muss er sich auch Fragen zu seinen Entscheidungen gefallen lassen. Und: Dass Nagelsmann nach dem 2:3 in Berlin davon sprach, ihm habe bei seiner Mannschaft "Emotionalität auf allen Positionen" gefehlt, ist fast schon ein Armutszeugnis, peinlich für die betreffenden Spieler, die namentlich zu nennen Nagelsmann zu galant war. Fehlende Emotionalität – und das ausgerechnet in der durch die türkischen Fans hitzigen, brodelnden Atmosphäre während eines Spiels in der Hauptstadt. Das kann nicht sein. Zumal gerade in einer so ungewohnten Lage, ob der Überzahl der Gäste-Anhänger zuhause eigentlich bei Auswärtsspiel-Atmosphäre bestehen zu müssen, eher auch als Herausforderung, als Gelegenheit zum sportlichen und charakterlichen Wachstum gesehen werden kann oder gar sollte.
Unweigerlich kommt ein ernüchternder Satz in Erinnerung, den Weltmeister und ARD-Experte Bastian Schweinsteiger nach der 0:1-Niederlage – noch unter Flick – gegen Polen im Juni formulierte: "Vielleicht ist genau das, was wir heute gesehen haben, auch das aktuelle Leistungsniveau der deutschen Nationalmannschaft, und vielleicht müssen wir die Erwartungshaltung auch bisschen runternehmen."
Ein Spiel hat Nagelsmann 2023 nun noch, um diese These zu widerlegen: Am Dienstag geht es in Wien gegen Österreich.
- Eigene Beobachtungen