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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Spurensuche im Fall Jatta Die Machenschaften der afrikanischen Spielerberater
Der HSV-Star Bakery Jatta verwirklichte sich den Traum von Europa. Obwohl gegen ihn die Staatsanwaltschaft ermittelt, eifern ihm viele afrikanische Talente nach. Sie wollen aus der Armut
Für Bakery Jatta gab es wohl keinen anderen Ausweg (hier erfahren Sie noch mehr zum Fall). Ein Dilemma, das fast zwangsläufig zu noch größeren Problemen führen musste. Vor allem aber war es eines: ein Teufelskreis. Ein Teufelskreis, in dem der Fußballer des Hamburger SV steckte und aus dem er nicht mehr herauskam.
- Der "Fall Jatta": Was machen wir da eigentlich?
Als Jatta 2015 als Flüchtling nach Deutschland kam, gab er gegenüber den Behörden mutmaßlich einen falschen Namen und ein falsches Geburtsdatum an. Als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling hatte er so eine größere Chance auf Duldung. "Vergehen gegen das Aufenthaltsgesetz" nennt die Staatsanwaltschaft das. Eine Straftat. Für junge Geflüchtete aus Westafrika dagegen oft die letzte Verzweiflungstat nach einer lebensgefährlichen Reise durch die Wüste, Kriegs- und Krisengebiete und schließlich in einem kaum seetauglichen Boot über das Mittelmeer.
Jattas Geschichte (das droht dem HSV-Profi nun) bewegte, rührte viele Menschen in Deutschland. Unter widrigen Bedingungen in Gambia aufgewachsen war er hier ohne fußballerische Vorausbildung ein erfolgreicher Sportler geworden. Hätte Jatta vor diesem Hintergrund, mit seiner Geschichte zugeben können, dass mit ihr nicht alles stimmte?
Genau das war der Teufelskreis, in dem Jatta gefangen war. Um seinen Lebenslauf zum Besseren zu wenden, hatte er ihn offenbar angepasst. Nun ermittelt die Hamburger Staatsanwaltschaft. Heißt Jatta in Wahrheit "Bakary Daffeh"? Ist er drei Jahre älter und ein erfahrener Fußballprofi? Die so schöne Geschichte also gar nicht wahr? Ein Teufelskreis, der schon früh seinen Anfang nahm, im afrikanischen Fußball – aber ganz anders als gedacht. Es spricht viel dafür.
Jattas Geschichte ist keine typische für einen afrikanischen Fußballer. Doch man muss den afrikanischen Fußball verstehen, um Jattas Weg nachzuvollziehen.
Beobachtungen eines Afrika-Experten
Das erste Mal zweifelte ich an der vielfach medial aufbereiteten Geschichte des HSV-Leistungsträgers, als kolportiert wurde, er habe in Gambia ohne Fußballschuhe gespielt. Das alte – und weitestgehend falsche – Klischee, dass Afrikaner barfuß durchs Leben gehen – hatte es ihm jemand in den Mund gelegt? Oder hatte Jatta selbst längst begriffen, dass die Deutschen eben genau solche Geschichten über das Leben in Afrika hören wollen? Fehlten nur noch Geschichten über Löwen, denen er täglich auf dem Schulweg begegnete.
Meine eigenen Erfahrungen auf dem Kontinent passen nicht zu diesem angestaubten Bild aus vergangenen Zeiten. Talentierte Teenager werden in Afrika durchaus gefördert, wenn auch auf einem ganz anderen Niveau als in hochtechnisierten und top ausgestatteten Nachwuchsleistungszentren in Europa. So einfach die Verhältnisse aber auch sein mögen: Für eine Grundausstattung – auch mit Fußballschuhen – wird doch gesorgt.
Dass afrikanische Fußballstars aus armen Verhältnissen stammen, liegt auf der Hand. Auch, dass afrikanische Kinder barfuß Fußball spielen, ist kein Klischee. Aber auch innerhalb der afrikanischen Gesellschaften sind es oft die Ärmsten, die es im Sport am weitesten schaffen. "Die Armen haben den meisten Biss", habe ich dort oft gehört, "sie haben keine Wahl und dürfen nicht scheitern."
Dieser Drang zum sozialen wie sportlichen Aufstieg ist sowohl Resultat der Armut als auch der lokalen Fußballkultur. Von maßgeblicher Bedeutung dafür sind die "Talentförderer", die "Patrons", die im sportlichen und privaten Leben der jungen Leute eine entscheidende Rolle einnehmen. Sie sind so etwas wie Onkel, Gönner, Förderer, Investor und Strippenzieher in Personalunion. Manchmal sind es Jugendtrainer, manchmal auch leibliche Verwandte mit dem nötigen Kleingeld. Oft jedoch sind es afrikanische Spielerberater, die nicht selten einen zweiten – europäischen – Pass besitzen.
Der "Patron" erwartet Rendite
Dieser "Patron" kümmert sich nicht nur um das Talent, sondern oft auch um dessen Familie. Er kauft "seinem" Spieler Fußballschuhe – und bezahlt das Schulgeld der Geschwister. Wenn die Talente aus ländlichen Gebieten stammen, leben sie oft bei ihrem Förderer in der Stadt. Mitunter werden die Spieler sogar urkundlich adoptiert.
Und für dieses allumfassende Versorgungsprogramm, für diese "Investition" wird dann irgendwann auch einmal "Rendite" erwartet. Aus diesem Grund stehen afrikanische Talente unter einem gewaltigen Druck. Bei jedem Jugendturnier ist sie zu spüren, diese Anspannung, diese Ernsthaftigkeit, mit der die Teenager "an die Arbeit gehen". Ein Pflichtbewusstsein und Erwachsensein, das nicht so recht zu den kindlichen Gesichtern passt.
Paul Nehf, 31 Jahre alt, studierte Orientalistik, arbeitete als Journalist und scoutete später Fußballtalente in Afrika. Er ist heute auf verschiedenen Feldern geschäftlich eng mit Afrika verbunden.
Die Erfolgsquote ist dabei übersichtlich – so wie nur ganz wenigen der Sprung aus der Jugend des FC Bayern zu den Profis gelingt, so schafft es auch nur ein Bruchteil der afrikanischen Talente in den großen Weltfußball. Im schlechtesten Fall bleibt auch für den "Patron" finanziell nichts übrig. In Westafrika, woher die meisten bekannten Spieler wie auch Bakery Jatta stammen, verdienen selbst die besten umgerechnet oft nur 200 Dollar im Monat. Und nach der Karriere ist kein Cent davon übrig. Ganz klar: Weil für alle viel auf dem Spiel steht, werden für den Traum von Europa alle Möglichkeiten ausgereizt.
Scouting in Afrika: Auf keinen Fall Torhüter!
Der Königsweg – von einem europäischen Klub entdeckt zu werden – ist die Ausnahme und hauptsächlich den Talenten vorbehalten, die aus den wenigen Elite-Fußballschulen stammen. Oder die das Glück hatten, mit ihrer Nationalmannschaft an einem internationalen Turnier teilzunehmen, am besten an einer U17- oder U20-Weltmeisterschaft. Die meisten Afrikaner, die wir in Europa bejubeln, stammen hingegen aus kleinen Vereinen und haben ihre Jugend auf holprigen Sand- und Geröllplätzen verbracht – wenn eben auch nur selten barfuß.
Doch selbst wer das Glück hat, vor den Augen eines Scouts oder Spielervermittlers spielen zu können, kann sich auf sein Talent allein nicht verlassen. Denn das Scouting vieler Vereine, das ich in Afrika beobachten konnte, gleicht eher einer Rasterfahndung: Beliebt sind Flügelspieler oder Stürmer, auf keinen Fall Torhüter. Das Profil ist stets dasselbe: Schnell und kraftvoll soll der Spieler sein – ein afrikanischer Xavi hätte es dagegen schwer.
Am wichtigsten aber ist das Alter: Keinesfalls älter als 20 Jahre. Das Problem dabei: Der Alterskorridor für afrikanische Talente ist gleich mehrfach eingeschränkt. Die Fifa verbietet interkontinentale Transfers unter 18 Jahren. Und in Europa ist ein 20-Jähriger fast schon zu alt für den Start in den Profifußball. Übrig bleibt ein Zeitraum von etwa zwei Jahren – nicht viel Zeit, wo es doch schon enormes Glück braucht, überhaupt einmal von einem Scout beobachtet zu werden.
Der halbe Kader fiel durch den Alterstest
Also ist die Lösung in Ländern, in denen die allermeisten Geburten zu Hause und ohne Beurkundung stattfinden: Trickserei beim Alter. Wer beispielsweise drei Jahre lang vorgibt, gerade volljährig zu sein, verlängert den Alterskorridor entscheidend und erhöht seine Chancen, entdeckt zu werden. Kompliziert wird es nur, wenn man einmal bei der Fifa registriert ist, weil man etwa für die Jugendnationalmannschaft gespielt hat.
Ich gehe nach meinen Erfahrungen davon aus, dass sehr viele afrikanische Fußballer mit einem falschen Alter in Europa spielen, habe dazu unzählige Geschichten gehört. Wie aber umgehen mit der Frage nach dem wahren Alter afrikanischer Talente?
Der investigative Weg sind medizinische Alterstests, die unter anderem bei internationalen Jugendturnieren mittlerweile obligatorisch sind. Ich erinnere mich dabei an ein Qualifikationsturnier für den U17-Afrika-Cup vor ein paar Jahren: Bei manchen Mannschaften war die Ersatzbank völlig verwaist – weil der halbe Kader durch den Test gefallen war.
Top-Talent mit Arthrose
Unter den Scouts herrscht bei diesem Thema Ernüchterung, vielleicht auch etwas Gleichgültigkeit. Sie wollen schließlich fußballerische Potenziale einschätzen, nicht als Detektiv tätig sein. Manche spielen das Altersspiel gegenüber ihrem eigenen Verein notgedrungen mit, wenn sie von einem Spieler überzeugt sind. Ein erfahrener Italiener erklärte mir, dass er für sich nur zwei Kategorien habe: "Baby" oder "zu alt". Die "Babys" sind die, die jung genug aussehen, dass nicht mit bösen Überraschungen beim Medizincheck zu rechnen ist. Dazu hatte er auch eine Anekdote parat: "Wir haben einmal einen Verteidiger verpflichtet, der später ständig verletzt war. Die Diagnose war Arthrose!"
Eine weitere Hürde für afrikanische Talente sind Regulierungen, die ihnen das Leben zusätzlich erschweren. Ein Spieler, der eine Einladung zum Probetraining in Europa in der Tasche hat, muss erst einmal über die Botschaft an ein Visum kommen – wenn es in seinem Land denn überhaupt eine Botschaft des entsprechenden Staates gibt. Ein Kameruner, den ein Verein aus Tschechien zum Probetraining nach Prag eingeladen hatte, erzählte mir einmal, dass er zuerst per Boot illegal nach Nigeria reisen musste, um dann dort die tschechische Botschaft aufsuchen zu können.
Und natürlich ist die erwähnte Fifa-Altersgrenze von 18 Jahren bei Transfers von Kontinent zu Kontinent ein Problem. Zwar ist sie in Europa logisch mit Blick auf den Schutz von Minderjährigen, verkennt jedoch die traurige Realität in Afrika, wo weitaus mehr Kinder mit bereits zwölf Jahren arbeiten müssen, als mit 18 Jahren noch zur Schule gehen. Könnten sie bereits mit 16 Jahren nach Europa wechseln, hätten sie Zeit, sich im Nachwuchsbereich an die neue Umgebung anzupassen und sich sportlich zu entwickeln.
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"Ohne ihn wäre ich nicht hier"
Fakt ist: Am Ende haben die allermeisten Talente keine Chance ohne ihre "Patrons", die gerne auch mal als Schleuser oder Erpresser dargestellt werden. Allerdings ist es nicht so einfach. Ich saß einmal mit einem afrikanischen Fußballstar zusammen, Champions-League-Spieler, Kapitän seiner Nationalmannschaft. Ein reflektierter, erfahrener Mann. Er wusste genau, dass sein "Patron" ihn übers Ohr haut. Dennoch war er ihm gegenüber loyal. Der Grund? "Ohne ihn wäre ich nicht hier."
Das Talent allein reicht in Afrika nur in Ausnahmefällen. Wenn Bakery Jatta also tatsächlich Bakary Daffeh ist, dann hat er für die gambische U20-Nationalmannschaft und für den erfolgreichsten Klub im Senegal gespielt. Doch am Ende brauchte er – ob mit oder ohne "Patron" – ein Flüchtlingsboot, um seinen Traum vom Fußballprofi in Europa zu verwirklichen. Es gab keinen anderen Weg.