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Brasilien-Legende Adriano im Interview: "Tod meines Vaters erschüttert mich"


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Adriano
"Falsche Freunde sind ein Teil des Berühmtseins"


Aktualisiert am 25.06.2020Lesedauer: 9 Min.
Bewegte Karriere: Adriano 2005 im Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft.Vergrößern des Bildes
Bewegte Karriere: Adriano 2005 im Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft. (Quelle: imago-images-bilder)

Einst galt er als "Mischung aus Ronaldo und Zlatan Ibrahimovic", dann folgte der jähe Absturz. Adriano spricht exklusiv über seine Karriere, falsche Freunde – und sein neues Glück.

Das Schicksal schlägt bereits 1992 erbarmungslos zu: Die bitterarmen Favelas von Rio de Janeiro. Hier lebt Almir Leite Ribeiro mit seiner Familie. Am Rande einer Schießerei zwischen Polizei und Drogenbanden trifft ihn – unbeteiligt – eine Querschläger-Kugel in den Kopf. Das Familienoberhaupt überlebt, das Projektil aber wird nicht entfernt – für den Eingriff fehlt das Geld. Almirs damals zehnjähriger Sohn Adriano verbringt die bangen Tage zwischen Schule, Fußballtraining und Schuhputzen an irgendwelchen Straßenecken, um die Familie zu unterstützen. Die Laufbahn als Profi-Fußballer scheint der Ausweg. Um ihm das Vereinstraining zu finanzieren, nimmt Mutter Rosilda einen Zusatzjob an, verkauft Süßigkeiten auf der Straße, – doch als dann Jahre später die finanziellen Mittel bereitstehen, traut sich Almir die risikoreiche Behandlung nicht.

Zwölf Jahre später, im August 2004, ist Adriano weit weg in Italien, im Mannschaftsbus von Inter Mailand auf dem Weg zum Spiel nach Bari. Dann klingelt das Telefon. Almir ist mit nur 45 Jahren gestorben, auch an den Spätfolgen der Schussverletzung. Adriano fliegt sofort nach Brasilien, kehrt nach wenigen Tagen zurück, rechtzeitig zum Champions-League-Spiel beim FC Basel. In der 19. Minute trifft er zum 1:0, seine Teamkollegen umarmen ihn innig.

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Doch die Szene verschafft ihm keinen Seelenfrieden. Adriano wird in eine tiefe Depression gerissen – und die Öffentlichkeit ist ganz nah dran. Denn Adriano Leite Ribeiro ist mittlerweile Fußball-Weltstar. "Nachdem er die Nachricht bekommen hatte, legte er auf und schrie, wie man es sich nicht vorstellen kann", erinnerte sich Inters langjähriger Kapitän Javier Zanetti einmal in der italienischen "Tutto Mercato". Erst wenige Tage zuvor hatte der Stürmer im Finale der Copa America gegen Argentinien mit seinem Ausgleichstor in der Nachspielzeit das Elfmeterschießen erzwungen, Brasilien gewann dort 4:2, Adriano widmete den Sieg unter Tränen seinem damals schon kranken Vater.

"Eine Mischung aus Ronaldo und Zlatan Ibrahimovic"

"Von diesem Tag an haben Massimo Moratti (der damalige Klubchef, Anm. d. Red.) und ich ihn wie unseren jüngeren Bruder behandelt", so Zanetti. "Aber nach diesem Anruf war er nicht mehr derselbe. Wir konnten ihn nicht aus der Depression herausziehen." Dabei stand dem damals 22-Jährigen die Fußballwelt offen: "Ein Mal saß Ivan Cordoba (damaliger Inter-Verteidiger, Anm. d. Red.) mit ihm in der Umkleide und sagte ihm, er sei eine Mischung aus Ronaldo und Zlatan Ibrahimovic. Er fragte ihn, ob er überhaupt wüsste, dass er der beste Spieler der Welt werden könne." Doch er scheint auf der Suche nach etwas anderem: Er will das Glück wiederfinden, das ihm abhanden gekommen ist.

"Der Tod meines Vaters erschüttert mich noch heute", sagt Adriano heute im exklusiven Gespräch mit t-online.de. Denn der steile Aufstieg des Torjägers wird gestoppt. Dabei stimmen eine zeitlang zumindest noch die Leistungen des bulligen Stürmers auf dem Feld. Noch beim Confederations Cup in Deutschland im Juni 2005, hat er seinen großen Auftritt, macht das Turnier zu seiner Show. Am 25. Juni, auf den Tag genau vor 15 Jahren, verzweifelt das DFB-Team im Halbfinale an ihm: Einen 35-Meter-Freistoßhammer und den 3:2-Siegtreffer kurz vor Schluss schenkt er der Klinsmann-Elf ein, dann ein weiterer Doppelpack beim 4:1 im Endspiel gegen Argentinien – Adriano dominiert das Turnier: Schnell, kraftvoll, wendig, technisch stark, mit Bombenschuss – der 1,89 Meter große Athlet ist kaum aufzuhalten.

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"Ich kann gar nicht sagen, welches Tor mir da am meisten bedeutet, alle waren für uns damals wichtig und für mich etwas ganz Besonderes", sagt der heute 38-Jährige. "Aber eins muss ich doch sagen: Gegen Argentinien zu gewinnen, ist für uns Brasilianer mit nichts zu vergleichen. Für uns ist das wie ein 'Clásico' zwischen Barcelona und Real Madrid." Beim Gedanken an das Turnier erinnert er sich sofort daran, "wie ich da stand und den Pokal in den Händen hielt. Dazu war ich Torschützenkönig und wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt. Das hätte ich mir als junger Spieler bei Flamengo niemals träumen lassen."

"Der Imperator"

Der Jugendspieler Adriano hat es nämlich schwer bei Flamengo. Mit seiner Statur wird er immer wieder als Verteidiger aufgestellt, es läuft mehr schlecht als recht – bis sich die Idee durchsetzt, den wuchtigen jungen Mann als Sturmspitze aufzubieten. Es ist der Startschuss. Kurz vor seinem 18. Geburtstag debütiert der Teenager bei den Profis, nur vier Tage später führt er sein Team im Topspiel gegen den FC São Paulo mit einem Tor und drei Vorlagen zu einem 5:2-Sieg nach 0:2-Rückstand.

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Vom Traditionsklub von der Copacabana wechselt der gebürtige Carioca ein Jahr später zu Inter Mailand in die Serie A, mit gerade einmal 19 Jahren. Am 14. August 2001 wird er in einem Freundschaftsspiel bei Real Madrid eingewechselt – und trifft wenige Minuten später mit einem Freistoß-Hammer zum Sieg.

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Nach Ausleihen zum AC Florenz (15 Einsätze, sechs Tore) und zum AC Parma (37 Spiele, 23 Treffer) kommt das Top-Talent im Januar 2004 zurück zu den Nerazzurri – und startet weiter durch: 40 Tore in 50 Pflichtspielen in seinen ersten anderthalb Jahren bei den Mailändern, bester Spieler und Torschützenkönig beim Copa-America-Sieg 2004 mit Brasilien, dann die Show beim Confed Cup 2005. Er hat schnell seinen Spitznamen weg: "Der Imperator".

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Doch abseits das Platzes wird Beobachtern schnell klar, welche Wirkung der Verlust des Vaters auf den sensiblen Angreifer hat: Lustlose Vorstellungen im Training, exzessives Nachtleben. Mehrmals erwischen Reporter ihn in Klubs beim Feiern, und das kurz vor Spielen mit Inter. Der Anker, der große Rückhalt, die eine Stimme, die ihn in der Bahn hielt, an der er sich aufrichten, zu der er aufschauen konnte – alles, was Almir einst für ihn war, es fehlt ihm nun. Adriano fühlt sich allein in Italien, isoliert sich. Wein, Whiskey, Wodka, Bier – er trinkt, erscheint betrunken zu den Einheiten auf dem Inter-Vereinsgelände, hat Übergewicht, ist klar außer Form. Trainer und Vereinsverantwortliche verzweifeln. Wenn die Probleme zu offensichtlich werden und sich das Ärzteteam um ihn kümmern muss, kommuniziert der Klub nach außen, er habe "muskuläre Probleme".

Selbst das gute Zureden der Teamkollegen hilft nicht. Depressionen im Fußball? Vor 15 Jahren noch fast ein Tabuthema. Er habe damals im Privatleben die falschen Leute um sich gehabt, sagt Adriano heute ganz offen im Gespräch. "Freunde", die ihn nur zu Parties mitnahmen, zu Frauen und Alkohol, "Freunde", die ihn ausnutzten. "Ich glaube, falsche Freunde sind leider einfach ein Teil des Berühmtseins. Aber gerade durch diese Erfahrung damals weiß ich heute besser einzuschätzen, wem ich wirklich vertrauen kann." Er sucht sein Glück, seine Freude, und er wird nicht fündig.

Hoffnung durch die Rückkehr in die Heimat

Unter Brasiliens neuem Nationaltrainer Dunga wird er nach der WM 2006 immer seltener berufen, inklusive der enttäuschenden Weltmeisterschaft kommt er im Jahr nur in sechs Länderspielen zum Einsatz, erzielt dabei drei Tore. 2005 waren es noch zehn Treffer in zwölf Partien. Zu einem Länderspiel im Oktober 2006 in der Schweiz wird Adriano nicht mehr eingeladen. "Ich kann nur jemandem helfen, der sich auch helfen lässt", sagt Dunga damals.

Der Rückschritt zeigt sich nun auch in seinen Liga-Statistiken: 46 Pflichtspiele, 19 Tore 2005/06, nur noch sechs Treffer in 30 Spielen in der darauffolgenden Saison. Im Herbst 2007 schickt ihn Moratti bereits zum zweiten Mal in anderthalb Jahren zurück in die Heimat, um seinen desaströsen körperlichen Zustand und seinen Alkoholismus behandeln zu lassen. Im Trainingszentrum des FC São Paulo will Adriano wieder in Form kommen – und bleibt am Ende direkt dort: Inter leiht den bei den Fans immer noch beliebten Problemfall an den brasilianischen Spitzenklub aus.

Und tatsächlich: Zeitweise scheint das Experiment zu funktionieren, zumindest zu Anfang. In der Copa Libertadores, dem südamerikanischen Gegenstück zur Champions League, erzielt er sechs Tore in zehn Spielen – doch früh häufen sich auch die Verspätungen zum Training, die erneuten Undiszpliniertheiten. Er leistet sich Tätlichkeiten auf dem Feld, verwickelt sich abseits davon in Wortgefechte mit Fotografen. Der Klub verdonnert ihn zu Geldstrafen – und schickt ihn nur wenige Monate später entnervt zurück zu Inter.

"Ich wollte einfach wieder nah bei meiner Familie sein"

Auch das erneute Gastspiel bei seinem Herzensklub verläuft nicht wie erwartet, im April 2009 verlässt er den Verein zum letzten Mal. "Ich bin für immer ein 'Interisti' und Präsident Moratti auf ewig verbunden", erinnert sich Adriano heute. "Aber als ich mich entschied, nach Brasilien zurückzugehen, ging es für mich nur um eines: Ich wollte einfach wieder nah bei meiner Familie sein, das war mir damals so wichtig."

Er schließt sich seinem Stammklub Flamengo an – und spielt im ersten Jahr wie ausgewechselt: Mit 19 Toren in 30 Ligaspielen führt er den Klub zur ersten Meisterschaft seit 1992, sichert sich dazu die Torjägerkrone. Er ist wieder regelmäßig bei der Nationalmannschaft, schafft es aber nicht in den Kader zur WM 2010. Im selben Sommer holt ihn der AS Rom – beeindruckt von seiner Rückkehr zu alter Form – zurück in die Serie A.

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Doch das erhoffte Comeback hält nur sieben Monate, in nur acht Einsätzen gelingt ihm kein Treffer. Es wird Adrianos letztes Gastspiel in Europa bleiben. Auch weitere Versuche zurück in der Heimat bei Corinthians Sao Paulo (2011-12), wo er sich noch vor seinem ersten Spiel einen Achillessehnenriss zuzieht, und Atlético Paranaense (2014) bleiben erfolglos und sind nur von kurzer Dauer. Ebenso obskur das Engagement beim höchstens zweitklassigen US-Klub Miami United 2016, das nach nur einem Spiel wieder endet. "Dass ich es nicht geschafft habe, Adriano wieder zurück zu alter Form zu verhelfen, ist eines der frustrierendsten Erlebnisse meiner Karriere", sagte Brasiliens Nationaltrainer Tite, damals noch Corinthians-Trainer, im vergangenen Jahr dem britischen Magazin "FourFourTwo". Im Profifußball hat die Suche nach Glück ein Ende.

"Die Spieler von heute sind besser vorbereitet"

Stattdessen gibt es über die Jahre immer wieder Spekulationen um Verbindungen zum organisierten Verbrechen – unter Adrianos Jugendfreunden aus der Kindheit sollen Mitglieder berüchtigter Gangs sein. Einmal lässt er sich mit einem vergoldeten Maschinengewehr fotografieren, dann wieder kursieren Fotos in desaströsem körperlichem Zustand. Einem bekannten Drogendealer aus der Favela soll er ein Motorrad gekauft haben, das dieser wiederum zum Rauschgifthandel genutzt haben soll. Schon 2014 spricht ihn ein brasilianisches Gericht von den Vorwürfen frei.

Heute spricht Adriano reflektiert über seine Karriere und seinen schnellen Absturz – die Gefahr sieht er in der aktuellen Generation nicht: "Davon bin ich überzeugt", antwortet er auf die Frage, ob Fußballer heute geschützter sind. "Ich glaube einfach, dass die Spieler von ihren Klubs heute besser vorbereitet werden", sagt er t-online.de. "Es wird ihnen viel mehr Struktur und Sicherheit angeboten als noch vor zehn Jahren. Jetzt ist Hilfe da."

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Hilfe hat er nun offenbar auch. Fotos mit der Liebsten, Fotos mit der Familie, Fotos beim Abendessen, Fotos mit Freunden – und auf allen: Ein strahlender Adriano. Dem einstigen Hoffnungsträger geht es seit geraumer Zeit offenbar wieder besser. Er wirkt erholt, unbeschwert, gesund. Die schweren Zeiten, der schlechte Umgang, die Krisen – sie scheinen 2020 weit weg. "Die Leute lieben meine Posts", sagt er und lacht dabei, der Stolz ist ihm anzumerken. "Ich finde es toll, mit meinen Fans zu interagieren, dafür bin ich ihnen auch dankbar."

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Auch beruflich hat er nun die Stabilität, die ihm einst fehlte: Seit November 2019 arbeitet er als Sales Manager für die brasilianische Vertretung des Sportartikelherstellers Adidas. "Ich fühle mich dort zuhause", erzählt er, "man hat mich gut aufgenommen. Mein aktuelles Arbeitspensum ist zwar niedrig, aber ich bin glücklich über diese Zusammenarbeit und diese verantwortungsvolle Aufgabe." Er wirkt mit sich selbst im Reinen. "Ich hätte sicher viel mehr in meiner Karriere erreichen können, das weiß ich. Aber man kann die Zeit eben nicht zurückdrehen. Mit dem, was ich geschafft habe, bin ich auch glücklich." Die Frage, was er seinem jungen Ich mit auf den Weg geben würde, bringt ihn ins Überlegen: "Ich würde ihm sagen: Sei weniger impulsiv und denke mehr an Dich selbst."

An sich selbst denken – vielleicht hat er gerade das gebraucht. "Für mich ist das Wichtigste: Ich bin aktuell glücklich und zufrieden mit meinem privaten und beruflichen Leben."

Das Schicksal scheint es endlich auch gut zu meinen mit ihm. "Glück ist eine einfache Sache", schrieb er vor kurzem in einem emotionalen Brief auf der Inter-Website. "Es ist der Geschmack des Popcorns, das meine Tante aus einem Wagen am Straßenrand verkauft hat: Pipioca. Ich aß so viel davon, dass es mein Spitzname wurde. Es ist die Farbe des Staubs, den wir beim Fußballspielen auf einem Platz in Vila Cruzeiro aufwirbelten, an jedem Tag meiner Kindheit."

Und auch dieser erwachsene Adriano Leite Ribeiro hat sein Glück wohl endlich gefunden.

Verwendete Quellen
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