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Gewalt und Ausschreitungen unter Fußballfans – "Hemmungen fallen weg"


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Heftige Ausschreitungen
Gewalt unter Fußballfans – "Hemmungen fallen weg"

Von Andreas Becker

Aktualisiert am 01.10.2021Lesedauer: 5 Min.
Auch Pyro wurde gezündet: Rund um das Spiel zwischen Münster und Essen kam es zu Ausschreitungen.Vergrößern des Bildes
Auch Pyro wurde gezündet: Rund um das Spiel zwischen Münster und Essen kam es zu Ausschreitungen. (Quelle: Team 2/imago-images-bilder)

Böllerwürfe, Hooligan-Randale, Beschimpfungen. Zuletzt kam es immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen im Fußball. Experten sprechen dennoch von "paradiesischen Zuständen".

Der erste Reflex der breiten Masse war klar: Geht das jetzt schon wieder los? Erwartet den Fußball eine neue Welle der Gewalt? Ausgelöst durch Hooligans oder Ultras?

Innerhalb kürzester Zeit hat es in den letzten Wochen an vielen Standorten geknallt. Deutschland, Frankreich – es gab Jagdszenen innerhalb und außerhalb der Stadien. Es gab Verletzte, Verwüstungen.

Tatort Antwerpen: Vor dem Europa-League-Spiel von Eintracht Frankfurt bei Royal Antwerpen am gestrigen Donnerstag griffen deutsche Hooligans ein Fan-Café an, zerstörten die Terrasse und lösten einen Großeinsatz der Polizei aus. Während des Spiels wurde dann Frankfurts Torwart Kevin Trapp von Antwerpen-Fans mit einem Böller beworfen. Nur wenige Zentimeter neben dem 31-Jährigen explodierte der Feuerwerkskörper und sorgte für eine minutenlange Unterbrechung.

Tatort Münster: Rund um das Regionalliga-Spiel zwischen Preußen Münster und Rot-Weiss Essen (2:3) Mitte September hatte es mehrere Festnahmen wegen gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruchs gegeben. Nach dem Spiel war es zu Ausschreitungen gekommen, bei denen 30 Menschen verletzt wurden und zum Teil im Krankenhaus behandelt werden mussten.

Tatort Frankreich: Binnen weniger Tage kommt es Ende August in mehreren Städten zwischen verfeindeten Fußballfans zu schlimmen Ausschreitungen. Erst stürmten Fans beim Nordderby Lens gegen Lille in der Halbzeit aufs Spielfeld. Es wurde mit Stadionsitzen geworfen, mehrere Menschen wurden verletzt. Ein ähnliches Szenario dann bei der Partie zwischen Nizza und Marseille, wo nach Provokationen ebenfalls Fans auf den Platz stürmten und Anhänger, Verantwortliche und Spieler handgreiflich wurden. Stunden vor der Partie in Angers gab es in Montpellier 16 Verletzte, als rund 50 Fans des Heimteams HSC Montpellier vor der Partie gegen Girondins Bordeaux einen Bus aus der Hafenstadt angriffen.

Nur einige Beispiele von Gewalt in- und außerhalb der Stadien, seitdem Zuschauer nach den Corona-Geisterspielen – zumindest zum Teil – wieder zugelassen sind. Woran liegt das? Was sind die Gründe? Könnte es nun wieder vermehrt zu Gewaltausbrüchen sogenannter Fußballfans kommen?

t-online fragte nach und sprach mit Fanforscher und Experte Professor Dr. Gunter A. Pilz über das nie ganz verschwundene Phänomen von Gewalt im Fußball.

t-online: Europaweit hat es in den letzten Wochen rund um einzelne Fußballspiele geknallt. Sowohl außer- als auch innerhalb der Stadien. Ist mit einer neuen Gewaltspirale zu rechnen? Welche Gründe sehen Sie dafür?

Gunter A. Pilz (76): Ich wäre zunächst einmal sehr vorsichtig, wenn man aufgrund dieser Fälle daraus schließt, dass Gewalt im Fußball wieder massiv zunimmt. Dafür gibt es statistisch keine Belege, das sind nach wie vor Einzelfälle. Das Beispiel zwischen Essen und Münster passt da ganz gut, da prallen alte Feindschaften aufeinander. Was man noch vermuten kann, ist, dass die lange Corona-Zeit bei manchen einen Gewaltstau aufgebaut hat, der sich jetzt mal entladen muss. Das sehe ich aber eher als Momentaufnahmen.

Bei einem Blick ins Ausland fällt auf, dass dort auch einiges los war. Wie würden Sie das beurteilen?

Wenn man nach Frankreich guckt, das sind völlig neue Dimensionen, da kann ich von Deutschland aus nur spekulieren. Diese Fälle gab es in Frankreich so noch nicht. Schon gar nicht, dass Fans auch auf das Spielfeld stürmen. Rein spekulativ kann man vielleicht sagen, dass die langen Geisterspiele während der Corona-Zeit eventuell dazu beigetragen haben und die Ordnungsdienste sich erst wieder reinfinden müssen mit den Zuschauern in den Stadien.
Man hat in den Hochzeiten des Hooliganismus immer festgestellt, dass die meiste Gewalt in den Stadien dann ausgelöst wurde, wenn die Stadien nicht voll waren. Wenn sich die Fans auf mehrere Stellen im Stadion verteilen können, ist es natürlich auch einfacher, ein Spielfeld zu stürmen.
Ein anderes Beispiel: Zuletzt ist der Fan eines verfeindeten Vereins mit einem Trikot, vermutlich war es eines von Eintracht Braunschweig, durch Hannover gelaufen. Daraufhin wurde er von zwei Hannoveranern verprügelt, ziemlich schwer verletzt sogar. Das Motto dabei: Du darfst mit einem Trikot eines verfeindeten Klubs nicht durch unser Territorium laufen.

Wie erklären Sie sich solche Fälle? Hat das wirklich noch mit Fußball zu tun?

Wenn Sie mal das Manifest, das Selbstverständnis der Ultras Frankfurt Ende der 1990er Jahre durchlesen, da stand unter anderem, dass es darum geht, bestehende Feindschaften nicht nur im Stadion durch Gesänge und Drohgebärden auszuleben, sondern 7 Tage und 24 Stunden lang. Das sind auch Kämpfe ums Territorium. Aber es sind Einzelfälle, die passieren. Bei der Ultrastruktur, die die vorleben, weiß jeder, wie er sich zu verhalten hat. Das sind jugendspezifische Auswüchse, die immer wieder passieren.

Für wie gefährlich halten Sie solche Ultraregeln, diese Kodexe? Nicht jeder Fußballfan kennt diese Regeln schließlich.

Ich halte sie nicht für sehr gefährlich, weil das sehr überspitzt klingt alles. Der ein oder andere wird diesen Grundsätzen folgen, aber die Mehrheit der Ultras sicherlich nicht. Nicht jeder Ultra, der Hannover-Fan ist, wird einen Braunschweig-Fan, den er sieht, zusammenschlagen. Da gibt es vielleicht einen blöden Spruch, aber nicht mehr. Das sind wirklich ganz seltene Exzesse, wo dann die Polizei gefordert ist.

Wenn Sie sich mal vor Augen führen, was in den 1980er- und 1990er Jahren im Fußball-Hooliganismus auf den Straßen passiert ist, dann leben wir heute in paradiesischen Zuständen. Da hat es jedes Wochenende in allen Standorten geknallt. Das haben Sie so massiv heute nicht mehr. Vielleicht ist das auch der Grund, warum heute jeder Einzelfall aufbereitet und über ihn berichtet wird. Und so entsteht dann der Eindruck, dass alles wieder schlimmer wird.

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Sind die Vereine dennoch gefordert, rechtzeitig auf solche Vorfälle zu reagieren? Sich präventiv vorzubereiten, damit es eben nicht wieder zu alten Gewaltexzessen kommt?

Da muss man die Kirche auch mal im Dorf lassen. In der Bundesliga muss jeder Verein mindestens drei hauptamtliche Fanbeauftragte haben, in der zweiten Liga sind es zwei hauptamtliche Fanbeauftragte. In der dritten Liga ist es immerhin noch einer. Das sind Leute, die sich ganz intensiv damit beschäftigen. Zusätzlich gibt es an allen Bundesligastandorten Fanprojekte, die genau diese Aufgaben haben. Die Vereine tun ihren Job, sind dafür verantwortlich, was im Stadion passiert. Was außerhalb des Stadions passiert, da können sie nicht mehr groß agieren. Da sind dann die Polizei und die Justiz gefordert, die Leute in die Schranken zu weisen. Da, glaube ich, sind wir bestens aufgestellt. Aber sie können noch so viel Polizei haben, Prävention machen – ganz werden sie solche Dinge nicht für immer beseitigen können. Das gilt für die Gewalt im Fußball genauso wie für Gewalt in anderen gesellschaftlichen Bereichen.

Wie sieht der Vergleich zu anderen europäischen Ländern aus?

Ich glaube, da sind wir gegenüber allen anderen Fußballnationen bestens aufgestellt. Gerade die Fanprojekt-Arbeit und die Bestimmungen mit den Fanbeauftragten findet im Ausland Bewunderung, Anerkennung und manchmal sogar Neid, weil es das dort so nicht gibt.

Wie erklären Sie sich das Phänomen der "Jubel-Randale" im letzten Sommer? Dort gab es unter anderem in Dresden, nach dem Zweitliga-Aufstieg von Dynamo, erhebliche Ausschreitungen.

Auch da muss man gucken, wer wie reagiert hat. Jeder weiß auch, dass in einer Massenbegeisterung Hemmungen wegfallen, und wenn man dann an der Feier gehindert wird oder sich behindert fühlt, dann geht die Enthemmung nicht nur Richtung Freude, sondern auch Richtung Gewalt. Das sind Dinge, mit denen man rechnen muss. Da muss man sich schon vorher Gedanken machen, wie damit umzugehen ist. Ähnlich wäre es bei Vereinen, die mit einem Abstieg rechnen müssen. Wie kann man dem Frust der Fans entgegenwirken, damit die Gewalt dann nicht eskaliert.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Fanforscher Gunter A. Pilz
  • Material der Nachrichtenagenturen SID und dpa
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