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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutscher Achtelfinalgegner Warum Englands "Three Lions" aktuell nur zahnlose Hauskatzen sind
England galt vor Turnierbeginn als Favorit auf den EM-Titel. Das muss nach der Gruppenphase überdacht werden. Und das, obwohl das Team bisher ohne Niederlage geblieben ist. Was stimmt bei den "Three Lions" nicht?
Kein Gegentor und keine Niederlage kassiert, mit sieben Punkten aus drei Spielen souverän Gruppensieger geworden. Das sind die blanken Fakten, auf die England vor dem EM-Achtelfinale gegen Deutschland (Dienstag, ab 18 Uhr im t-online-Liveticker) zurückblickt. Eine Bilanz, die die Fans der "Three Lions", wie das Nationalteam aufgrund seines ikonischen Wappens genannt wird, für den weiteren Turnierverlauf positiv stimmen sollte – wäre da nicht dieser riesige Makel.
Denn das Team von Coach Gareth Southgate tritt bisher nicht wie eine Gruppe stolzer, jagdlustiger Löwen auf, sondern wie zahnlose Hauskatzen. Erst zwei Treffer gelangen den Engländern in drei EM-Partien, beide erzielt vom vor dem Turnier massiv in der Kritik gestandenen Außenstürmer Raheem Sterling. Kapitän und Medienliebling Harry Kane, immerhin Torschützenkönig der abgelaufenen Premier-League-Saison sowie der WM 2018, ist indes kein Faktor gewesen. Ein Drama für Southgate, der sein ganzes System auf den Goalgetter von Tottenham Hotspur zugeschnitten hat.
Dabei ist es Kane selbst, der – vermutlich ungewollt – Southgates offensive Ausrichtung torpediert.
Kane fremdelt mit seiner Rolle in Southgates System
In der vergangenen Premier-League-Spielzeit agierte Kane unter Trainerikone José Mourinho oftmals als das, was man einen "falschen Neuner" nennt. Der 27-Jährige bewegte sich mehr vor dem Strafraum, rackerte sich mannschaftsdienlich mit dem Rücken zum Tor gegen die gegnerische Abwehr ab, und schuf so Räume für seine in die Spitze startenden Flügelkompagnons Heung-min Son und Gareth Bale.
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Dieser kräftezehrende Einsatz wird von Kane im Nationalteam jedoch gar nicht erwartet – auch weil das Mittelfeld hinter ihm wesentlich kreativer und spielstärker aufgestellt ist als bei Tottenham und selbst in der Lage ist, die Lücken zu finden, die der Torjäger Kane dann zu besetzen hat. Kane jedoch fremdelt immer noch merklich mit der Adaption dieser simpleren Mittelstürmerrolle, die er bei den "Three Lions" bekleiden soll.
"In England haben wir das Sprichwort 'You can’t have your cake and eat it', was so viel bedeutet wie 'Du kannst nicht beides haben'. Damit kann man Kane wohl am besten umschreiben. Er kann nicht der mannschaftsdienliche, sich abarbeitende Stürmer sein und gleichzeitig immer vorne im Strafraum stehen und die Flanken verwerten", sagt Archie Rhind-Tutt im Gespräch mit t-online. Der in Köln lebende Engländer kennt sich als Field-Reporter für den Sportsender ESPN UK bestens mit den beiden Teams aus, die sich am Dienstag im legendären Wembley-Stadion duellieren.
Die Schuld für Englands enttäuschende Offensive nur Kane zuzuschieben, ist auch Rhind-Tutt zu simpel. Schließlich ist Southgate als Trainer für Kane und dessen Zusammenspiel mit den Mitspielern hauptverantwortlich.
"Southgate ist nicht Julian Nagelsmann"
Der englische Sportreporter erklärt: "Der Spielstil unter Southgate ist defensiv, er holt nicht das Maximum aus Englands fußballerischen Möglichkeiten heraus. Aber er ist nun einmal effektiv und gibt der Mannschaft defensive Stabilität. Ich würde mir mehr angriffslustigen, vertikalen Fußball wünschen. Das Problem ist: nicht nur Southgate, sondern auch viele andere englische Trainer haben solche Spielzüge nicht in ihrem Repertoire. Southgate ist nicht Julian Nagelsmann."
Das scheint auch Southgate selbst eingesehen zu haben. Nach dem enttäuschenden 0:0 gegen den britischen Rivalen Schottland sagte der 50-Jährige schmallippig: "Jeder muss auf sich selbst schauen und das fängt bei mir an."
Konkret gesprochen sollte Southgate seine grundsätzliche fußballerische Philosophie hinterfragen. Eine Mannschaft, die laut "Transfermarkt" einen Marktwert von 1,26 Milliarden Euro hat, einen auf Sicherheit und Kontrolle basierten Ballbesitzfußball spielen zu lassen, kommt weder bei Medien noch Fans gut an. "Die englischen Fans benehmen sich etwas verzogen", nimmt Rhind-Tutt den englischen Coach in Schutz. "Bei früheren Turnieren wurde gejammert, das Team habe keinen klaren Spielstil und könne keine positiven Ergebnisse liefern. Nun, da England beides hat, ist man immer noch nicht zufrieden und wünscht sich auch noch Spektakel." Der Journalist versucht Southgates pragmatischem Fußball etwas Positives abzugewinnen: "Wir sind zu einer Turniermannschaft geworden, ganz so wie Deutschland."
England kann auch ganz anders
Wie es aber auch anders gehen könnte, bewies das Team im EM-Auftaktspiel gegen Kroatien.
In den ersten gut 25 Minuten der Partie schnürte England den Vizeweltmeister mit schnellem, vertikalen Flügelspiel ein. Die Außenverteidiger Kieran Trippier und Kyle Walker rückten hoch auf und doppelten mit den Flügelflitzern Raheem Sterling und Phil Foden ein ums andere Mal die überforderten Gegner. Die Achter Mason Mount und Kalvin Phillips besetzten den Rückraum und lauerten auf Querschläger oder Ablagen von Kane. Nur mit viel Glück und einer Menge Körpereinsatz überstand Kroatien diesen Sturmlauf schadlos.
Southgate gefiel das Gesehene dennoch nicht abschließend, zu hoch stand ihm die letzte englische Kette, zu anfällig wären die defensiven Halbräume für kroatische Konter gewesen. Die "Three Lions" zogen sich infolgedessen zurück und setzten auf eine geordnete Staffelung. Wäre Phillips in der 57. Minute dem starren Korsett aus Ballzirkulation und mäßigem Anlaufen nicht entflohen und hätte mit einem Weltklassepass für Raheem Sterling die kroatische Abwehr seziert, wäre wohl bereits die erste englische EM-Partie zu null ausgegangen.
Es scheint jedoch, als habe Southgate die Unkenrufe nach den ersten zwei Gruppenspielen zumindest teilweise vernommen. Gegen Tschechien (1:0) stellte er von einem 4-1-2-3 auf ein 4-2-3-1 um und implementierte mit Jack Grealish einen Zehner, der Kane die Maloche um die Strafraumkante abnahm. Zwar blieb Kane erneut ohne Tor, doch der Schachzug mit Grealish ging auf: Der 25-Jährige von Aston Villa legte Sterling mit einem butterweichen Zuspiel den entscheidenden Treffer auf.
Gegen Deutschlands anfällige Dreierkette (bereits fünf Gegentore zugelassen) könnte Grealish erneut die entscheidende Spielfigur sein. Gelingt es ihm, Mats Hummels aus dem Abwehrverbund herauszulocken, könnte das nächste butterweiche Zuspiel auf dem frei vor Manuel Neuer auftauchenden Kane landen – und die "Three Lions" hätten damit ihr Gebiss wiedergefunden.
- Eigene Recherche und Beobachtungen
- Gespräch mit Archie Rhind-Tutt
- "Transfermarkt": Teamprofil England
- "Süddeutsche Zeitung": England gerät ins Grübeln
- "Frankfurter Allgemeine Zeitung": Englische Verwaltungsakte