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Zum journalistischen Leitbild von t-online.DFB-Jugendcheftrainer Meikel Schönweitz "Wir suchen die Sanés dieser Welt"
Sowohl die DFB-Elf als auch die deutschen Vereine haben international in den letzten Wochen und Monaten enttäuscht. Für die Wende braucht es vor allem wieder starken Nachwuchs. Wie will der DFB dieses Ziel erreichen?
Zurück an die Weltspitze. Dieses Ziel hat der DFB nach der verkorksten WM und dem Abstieg in der Nations League ausgegeben. Das gilt nicht nur für die A-Nationalmannschaft, sondern auch für die Junioren. Dabei spielt Meikel Schönweitz eine entscheidende Rolle. Seit Anfang des Jahres ist er der Cheftrainer aller Fußball-U-Nationalmannschaften der Männer. Zuvor trainierte er bereits alle Teams von der U16 bis zur U20. Mit deutschem Jugendfußball kennt er sich also aus.
Und das muss er auch. Für den 39-Jährigen steht viel Arbeit an. In den letzten Monaten hagelte es an Kritik am DFB. Der Vorwurf: Die Jugendarbeit sei im internationalen Vergleich zu schwach. Während Nationen wie Frankreich und England ein Juwel nach dem anderen hervorbringen, bleiben die Klubs hierzulande unter den Erwartungen. Im Interview mit t-online.de erklärt Schönweitz, wie der DFB dafür sorgen will, dass Deutschland wieder mehr Talente produziert und wie der Spieler der Zukunft aussieht.
t-online.de: Herr Schönweitz, die Bundesligisten verpflichten in letzter Zeit immer häufiger Talente aus dem Ausland, meist aus Frankreich oder England. Wie wollen Sie als DFB dafür sorgen, dass die Vereine wieder mehr auf eigene Spieler setzen?
Meikel Schönweitz (39): Wir alle müssen noch besser ausbilden. Dafür wollen wir als DFB die Vereine, Leistungszentren und Landesverbände mit möglichst vielen Informationen und Erkenntnissen zur Ausbildung versorgen. Wir hospitieren sehr viel und schauen bewusst über den Tellerrand, auch im Ausland und bei Teams anderer Sportarten. Allein dieses Jahr waren wir in den USA und haben uns in der NFL oder der NBA umgeschaut. Dazu waren wir bei englischen Klubs und beim italienischen Fußballverband zu Besuch. Wir haben zu unserer letzten Trainertagung auch den deutschen Handball-Nationaltrainer Christian Prokop eingeladen. Wir informieren uns aber auch außerhalb des Sports. Wir hatten zum Beispiel jemanden aus einer Spezialeinheit der Feuerwehr zu Gast, der Menschen aus Autowracks oder brennenden Häusern rettet. Er hat uns erzählt, wie er mit Entscheidungen in Stresssituationen umgeht. All die Erkenntnisse fließen in unsere Überlegungen ein, um den deutschen Fußball und seine Talententwicklung voranzubringen.
Wie kommt es denn dazu, dass trotz all diesem Wissen die englischen und französischen Spieler zum Teil besser ausgebildet sind?
Sicherlich spielen auch gesamtgesellschaftliche Hintergründe eine Rolle. Viele der Top-Spieler aus England und Frankreich kommen beispielsweise aus den Vororten von London und Paris. Dort wachsen sie in sozialschwachen Gegenden auf und sehen den Fußball als eine der wenigen Chancen, um später ein möglichst sorgenfreies Leben führen zu können. Diese Jungs haben eine ganz andere intrinsische Motivation als unsere Jungs, die zum Teil aus einer "Wohlfühlgesellschaft" kommen. Hinzu kommen auch genetische Unterschiede. Besagte Spieler bringen enorme athletische Voraussetzungen mit, die sich unsere Jungs hart antrainieren müssen.
Abgesehen von anderen Vereinen und Sportarten, wo holen Sie sich denn noch Inspiration?
Zum Beispiel bei Unternehmen. Wir haben im vergangenen Jahr etwa Facebook, Google und Tesla besucht. Dort herrscht eine sehr interessante Innovations- und Fehlerkultur. Bei Google werden Mitarbeiter belohnt, wenn sie aus ihren Fehlern lernen und aus den Fehlern etwas Gutes entsteht. Das sollten wir für den Fußball nutzen: Wir müssen den Spielern bedeutend mehr Gelegenheiten geben, mehr auszuprobieren, ihnen Räume für Kreativität und Individualität schaffen. Aktuell ist es – überspitzt formuliert – so: Wenn du zwei Fehler machst, wirst du mitunter schnell aussortiert.
Das erinnert an Johan Cruyff, der sich auch viel Input von außen holte und als Trainer sogar Opernsänger zum Training einlud, um die Atmung der Spieler zu optimieren. Gibt es überhaupt noch Felder, die nicht erforscht wurden?
Es gibt immer wieder neue Informationen aus allen möglichen Bereichen. Die Kunst ist, all das zu bündeln, auf den Fußball zu übertragen und nur die relevanten Informationen an die Spieler weiterzugeben. Genau das macht auch einen guten Trainer aus.
Welche Note würden Sie denn der deutschen Jugendarbeit geben?
Ich würde zwei Noten vergeben. Den Plan muss man mit "sehr gut" (Schulnote eins, Anm. d. Red.) bewerten, die Umsetzung jedoch ist momentan nicht "sehr gut". Das System hat gute Gedanken und die Vereine leisten gute Arbeit, aber dieses System hat Schwächen. Es ist einfach in einigen Punkten zu überladen. Zu viele Einflussfaktoren, zu viele Leute, die auf die Jungs einwirken, zu viel Konkurrenzdenken in der Ausbildung. Wir haben Förderstrukturen, die an sich gut sind, aber teilweise auch miteinander konkurrieren. Damit sind Leistungszentren, Landesverbände, Eliteschulen und das Talentförderprogramm gemeint. Sie greifen an einigen Stellen nicht eng genug ineinander. Dazu kommen viele externe Faktoren wie Schule, Berater, Öffentlichkeit, Medien und Sponsoren, die auch noch ihre – berechtigten – Interessen haben. Allerdings: Dadurch steht nicht immer der Spieler im Mittelpunkt.
Inwiefern?
Jeder sagt, dass der Spieler im Mittelpunkt stehe und man sich um den Spieler kümmere. Die tatsächlichen Belange der Spieler gehen dabei aber unter.
Zum Beispiel?
Ein U16-Nationalspieler hat in einem professionellen Nachwuchsleistungszentrum viele Personen um sich: einen Cheftrainer, einen Co-Trainer, einen Athletik-Trainer, einen Spezial-Trainer, einen Arzt, Physiotherapeuten, Psychologen und Pädagogen. Bei den Nationalteams gibt es all diese Personen nochmal. Hinzu kommen die Lehrer und der Leiter deiner Schule, dein Berater und ein möglicher Sponsor. Es gibt dementsprechend sehr viele Personen, die den Jungs jeden Tag sagen, was sie in gewisser Weise zu tun und zu lassen haben. Familie und Freunde sind dabei nicht eingerechnet. Allein bei der Aufzählung wird deutlich, wie viele unterschiedliche Interessen und Informationen auf den Spieler einwirken. Da liegt es auf der Hand, dass nicht alle in die gleiche Richtung laufen und ebenso ist es bei so vielen Einflussfaktoren für die Spieler schwierig, in der Persönlichkeitsentwicklung selbstständiger zu werden.
Wer kann denn am besten bewerten, was für den Spieler gut ist?
Das kann keiner. Unser Ansatz beim DFB ist: Wie können wir das System verändern, damit es den Personen leichter gemacht wird, im Sinne der Spieler zu denken? Ich gebe mal ein Beispiel: Ich bin ein sehr talentierter, aber physisch noch nicht weit entwickelter Spieler in der U15-Regionalliga. Dann ist es ganz normal, dass der Trainer am Wochenende die körperlich stärkeren Spieler aufstellt. Schließlich garantieren sie ihm wahrscheinlich eher die Ergebnisse, die er braucht. Die Trainer leiden ja auch unter Erfolgsdruck. So ist nun einmal das System und sie werden daran gemessen, wo sie am Ende in der Tabelle stehen. Wir möchten die Voraussetzungen schaffen, dass all das reduziert wird und der Trainer in dem genannten Beispiel den Mut haben kann, guten Gewissens auf den talentierteren Spieler zu setzen, auch wenn er körperlich noch nicht so weit entwickelt ist.
Wenn man sich mit Jugendtrainern unterhält, bekommt man den Eindruck, dass der Jugendfußball sich ohnehin zum Profifußball entwickelt hat. Wenn es nach der Hinrunde in der Tabelle nicht gut aussieht, werden schnell Spieler von anderen Vereinen geholt.
Deswegen müssen wir daran arbeiten, dieses Denken aus einzelnen Jahrgängen herauszubekommen. Allerdings: Zumindest im letzten Jugendjahr muss aber ein Ergebnisdruck herrschen, um die Jungs auf das Profi-Dasein vorzubereiten.
Wollen Sie also das Ligensystem ab der B-Jugend abwärts auflösen?
Da gibt es noch keine finale Lösung. Im Kinderfußball wollen wir auf jeden Fall etwas ändern und anstelle des bekannten Sieben-gegen-siebens stärker auf ein Drei-gegen-drei setzen, damit die Kinder mehr Ballkontakte und direkte Duelle haben. Das fördert die fußballerische Entwicklung. Wir machen uns aber nicht nur Gedanken über den Wettbewerb, sondern auch über die Art und Weise des Spiels. In vielen Jugendligen fahren die Kinder teilweise 300 Kilometer zum Auswärtsspiel. Bei einer Spielzeit von 2 x 35 Minuten kommen manche Spieler aber gar nicht zum Einsatz. Dafür geht dann das ganze Wochenende drauf. Warum spielen wir also nicht 3 x 30 Minuten und geben eine Mindesteinsatzzeit für jeden Spieler vor? Dadurch müssen sich die Trainer mit jedem Einzelnen befassen.
Haben die Vereine kaum noch auf echte Zehner oder klassische Linksverteidiger gesetzt?
Der Fußball ist viel flexibler und schnelllebiger geworden. Vor ein paar Jahren konntest du noch absehen, wie der Fußball fünf bis sechs Jahre später etwa aussehen wird und dementsprechend ausbilden. Heute geht das nicht mehr so einfach. Deswegen wurde nicht so spezifisch, sondern vor allem ganzheitlich entwickelt.
Wie viel Einfluss hat eigentlich der Verband auf die Ausbildung der Spieler? Den Großteil ihrer Zeit verbringen sie schließlich bei den Vereinen. Trotzdem richtet sich die Kritik meist an den DFB.
Der DFB ist nun mal der Dachverband, aber keineswegs alleinverantwortlich. Der Weg von einem kleinen Kind bis hin zum erwachsenen Fußballer ist sehr weit und es spielen viele verschiedene Förderstrukturen eine Rolle. Wir sind im deutschen Fußball alle gemeinsam in der Pflicht, unseren Talentpool optimal auszuschöpfen. Da darf sich niemand hinter dem Anderen verstecken. Die Rollenverteilung im Leistungsbereich ist dabei ganz klar: Für die Ausbildung sind die Vereine in der täglichen Arbeit zuständig, der DFB für die Weiterentwicklung, die Eliteförderung. Auf Auswahlebene treffen die Spieler schließlich auf die Besten des Landes. Es ist logischerweise ein großer Unterschied gewesen für Kai Havertz, in der U17 von Bayer Leverkusen zu spielen oder sich dann beim DFB mit Arne Maier und Gian-Luca Itter oder den Top-Talenten aus anderen Ländern zu messen.
Wie sehr ist denn der Bundestrainer in die Entwicklung der Spieler involviert?
Jogi Löw ist über sein Team involviert. Sein Co-Trainer Marcus Sorg war früher selbst Junioren-Nationaltrainer und ist bei all unseren Tagungen und Sitzungen präsent. Die Analysten bei der A-Mannschaft sind auch die führenden Köpfe bei den Analysten in der Jugend. Der Austausch ist sehr gut.
Wie groß ist Löws Einfluss auf die Taktik?
Es wird keine Spielphilosophie von "oben" für "unten" vorgegeben. Es gibt einen klaren roten Faden. Wir haben ein Leitbild für unsere Mannschaften entwickelt, das aber nicht an einem speziellen Spielsystem festgemacht wird und für jeden Trainer den nötigen Spielraum lässt, die Spieler, die ihm zur Verfügung stehen, bestmöglich einzusetzen.
Blicken wir in die Zukunft: Was sollen denn die Nationalspieler in 10-15 Jahren können?
Das Ideale wäre, wenn wir neben all der Qualität wieder mehr Spieler auf dem Platz haben, die kreative Köpfe sind. Das lieben ja alle Menschen an Lionel Messi. Er macht Dinge auf dem Platz, die man nicht lernen kann. Auch möchten wir Persönlichkeit und Mentalität stärker fördern. Die Spieler sollen selbst mehr Entscheidungen treffen und Leidenschaft zeigen.
Auch die einzelnen Positionen entwickeln sich weiter. Vor zehn Jahren waren nur wenige Torhüter beidfüßig und kaum am Spielaufbau beteiligt. Inzwischen geht bei vielen Klubs jede Offensivaktion vom Keeper aus. Außenverteidiger werden immer mehr zu Spielmachern, bestes Beispiel ist Joshua Kimmich. Welche Positionen werden in zehn Jahren einen ähnlichen Wandel durchgemacht haben?
In Deutschland suchen wir derzeit dribbelstarke, temporeiche Außenstürmer, also die Sanés dieser Welt. Diesen Spielern gehört momentan die Zukunft. Auch kantige, abschlussstarke Mittelstürmer sind wieder mehr gefragt. Dazu aber auch kleine, wuseligere Spieler, die stets für überraschende Momente sorgen und die Abwehrreihen beschäftigen. Sie sehen: Der Fußball wird immer variantenreicher, immer dynamischer. Ohne Tempo geht heute nichts mehr. Das gilt auch für die Defensivakteure.
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Wie sieht es mit dem klassischen "Zehner" aus? Spieler wie Michael Ballack oder Mesut Özil waren jahrelang der Anker eines jeden Teams.
Wenn wir Spieler haben, die genau die richtigen Fähigkeiten für diese Position besitzen, dann wollen wir sie gezielt fördern. Vielleicht wurde in den vergangenen Jahren in Deutschland zu viel Wert auf die Systeme gelegt und die Ausbildung der Spieler daran angepasst. Dadurch gingen diese speziellen Fähigkeiten im Systemdenken etwas unter. Wenn ein Jahrgang einen Spieler mit außerordentlichem Potenzial für die Zehn besitzt, dann soll er auch genau dort spielen. Wir wollen die Stärken noch mehr fördern und nicht nur die Schwächen ausbügeln. Das beste Beispiel ist doch Arjen Robben. Der hat – übertrieben ausgedrückt – keinen rechten Fuß, aber dafür einen linken, der Spiele entscheidet. Genau das wollen wir haben.