Flug gen Weste Löw: 2018 eine "Ohrfeige" - Oranje-Duell als EM-Wegweiser
Kaiserau (dpa) - Das total verkorkste WM-Jahr 2018 fühlt sich für Joachim Löw an wie eine "richtige Ohrfeige". Und auch der große Abstiegs-Makel wurmt den Bundestrainer.
Auf dem kurzen Flug Richtung Westen, vor dem der DFB-Flieger am Sonntag in Leipzig noch enteist werden musste, hatte der Bundestrainer zumindest das ungeliebte Kapitel Nations League für sich schon abgehakt. "Jetzt geht es darum, die richtigen Ideen zu haben für das nächste Jahr", sagte der 58-Jährige bei der Pressekonferenz der Fußball-Nationalmannschaft im schlichten Presseraum der Sportschule Kaiserau.
Die Revanche gegen die Niederlande zum Abschluss des historisch schlechten WM-Jahres steht für Löw am Montag (20.45 Uhr/ARD) auf Schalke schon ganz im Zeichen des Umbruchs und Neuaufbaus Richtung EM-Endrunde. "Für uns geht es darum, nach diesem enttäuschenden Jahr die richtigen Lehren zu ziehen für nächstes Jahr und das Turnier 2020", sagte der DFB-Chefcoach. "Unser Blick richtet sich klar in Richtung der EM 2020, für die wir uns qualifizieren werden und bei der wir wieder eine starke Mannschaft ins Turnier schicken wollen."
An Löws Reformwillen und Reformfähigkeit gibt es offenbar keine Zweifel mehr, trotz der diversen Negativ-Marken 2018. "Er ist mit viel Freude dabei. Man kann das schon ein bisschen mit dem Confed Cup vergleichen. Weil er einfach Lust hat, neue Dinge anzugehen, neue Impulse zu setzen", sagte Teammanager Oliver Bierhoff. DFB-Chef Reinhard Grindel sieht unabhängig vom Ausgang gegen Holland keinen Diskussionsbedarf mehr über Löws Befähigung, die DFB-Elf wieder in die Weltspitze zu führen.
Wie forsch der Umbau gegen Holland weiter geht, ließ Löw noch offen. Der beim 3:0 gegen Russland geschonte Toni Kroos ist als einer der nur noch fünf verbliebenen 2014er-Weltmeister gesetzt. "Er ist nach wie vor ein absoluter Führungsspieler, weil er von allen aufgrund seiner Leistungen und Erfolge respektiert wird." Zu der Einsatzchance von Abwehrchef Mats Hummels als weiterem Routinier aus erfolgreichen Tagen hielt sich Löw hingegen bedeckt.
Höchstwahrscheinlich wieder fehlen wird Marco Reus. Der 29 Jahre Dortmunder hatte nach seiner Fußblessur zwar wieder mit dem Team trainiert, spürte danach aber noch Schmerzen, wie Löw berichtete. "Sollte er nicht bei 100 Prozent sein, würde er nicht spielen. Da wäre das Risiko zu groß", sagte der Bundestrainer.
Thomas Müller, der zuletzt zweimal nur als Ergänzungsspieler von der Bank kam, hat gute Chancen auf sein 100. Länderspiel - als Belohnung stellte Löw ihm ein "Weißbier in der Kabine" in Aussicht.
Löw und Bierhoff versuchten, die Spannung bei Kapitän Manuel Neuer und der jungen Generation um Leroy Sané nach der deprimierenden Abstiegsnachricht noch einmal aufzubauen. "Am Herangehen an das Spiel am Montag hat sich nichts geändert. Das ist einfach noch einmal ein Prestige-Duell. Zweitens wollen wir noch unsere Entwicklung vorantreiben", sagte Bierhoff. Nicht vergessen ist zudem die Demütigung beim 0:3 im Oktober in Amsterdam.
Sportlich zu retten ist die Bilanz als Schlusslicht der Gruppe 1 der Nations League aber nicht mehr. Mit einem Sieg gegen die jungen Holländer hat die Löw-Elf einen Platz im besten Lostopf für die EM-Qualifikation immerhin noch gesichert. Für DFB-Präsident Grindel ist das Spiel gegen das Team von Bondscoach Ronald Koeman genau deshalb "von größter Wichtigkeit".
Auch Löw hob dieses Ziel hervor. Würde das DFB-Team in dem Setzranking für die Multinationen-EM 2020 mit Gruppenspielen in München den bisherigen Platz elf behalten und in Topf 2 rücken, droht ein starker Gegner vom Kaliber Frankreich, Italien, Portugal, Belgien oder Spanien. Nur die besten zehn Teams kommen bei der Auslosung am 2. Dezember in Dublin in den besten Topf. Acht der zehn Plätze sind bereits vergeben.
"Das ist mit Sicherheit kein Weltuntergang, aber es ist schon frustrierend. Gestern Abend ist man schon genervt ins Bett gegangen", berichtete Bierhoff vom gemeinsamen TV-Abstieg mit Löw. Auch der Bundestrainer sei "genervt" gewesen. Die Abhängigkeit vom Engagement der Franzosen wurmte Löw gewaltig. "Das hat noch einmal eins draufgesetzt auf das schlechte Jahr, das wir hatten. Vielleicht muss man mal den Boden berühren, um wieder den Aufstieg anzugehen", sagte Bierhoff. Auch die Spieler mussten sich erst einmal schütteln. "Mich persönlich ärgert das schon, dass wir absteigen", sagte Joshua Kimmich. Die Partie am Montag werde sicher kein "Larifari-Spiel" versprach der Münchner Profi.
Löw will das Jahr nach dem feststehenden Abstieg aus der Topgruppe der Nations League unbedingt mit einem Sieg abschließen, um bis zum Beginn der EM-Qualifikation im März 2019 eine positivere Stimmung mitzunehmen. Den Kritikern hielt er entgegen, dass auch andere Nationen wie Frankreich, Spanien, Brasilien oder England lange titellose und schwere Zeiten durchlebt hätten. "Wer denkt, dass man immer in den Top vier ist in der Welt, hat den Fußball nicht verstanden", sagte Löw.
Die Zahlen für 2018 decken schonungslos die Misere auf. Sechs Niederlagen in einem Kalenderjahr gab es noch nie in 111 Jahren deutscher Länderspielgeschichte. Nur zwölf Tore in einem Jahr sind Negativwert unter Chefcoach Löw seit 2006. Am Montag droht der schlechteste Tore-Schnitt in der DFB-Historie. Bestenfalls sind noch fünf Siege 2018 möglich und damit die Einstellung des Tiefstwertes der Löw-Ara aus dem Jahr 2015.