Analyse zum WM-Debakel Bundestrainer Löw holt drei Neue – Schneider nicht mehr Co-Trainer
In einer fast zweistündigen Pressekonferenz hat Bundestrainer Joachim Löw über seinen größten Fehler, Mesut Özil und die Konsequenzen des WM-Desasters gesprochen. Im Kader stehen drei neue Spieler.
Es hat lange 63 Tage gedauert – nun haben Bundestrainer Joachim Löw und Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff die Ergebnisse ihrer Analyse des WM-Desasters vorgestellt. Im Mittelpunkt der fast zweistündigen Pressekonferenz in München: Die größten Fehler, die Zukunft der Mannschaft, der Rücktritt von Mesut Özil – und auch die Kadernominierung für die kommenden Länderspiele.
Die wichtigsten Aussagen im Überblick:
► Löw spricht selbstkritisch und deutlich über seine Versäumnisse: "Mein allergrößter Fehler war, dass ich gedacht habe, dass wir mit diesem dominanten Ballbesitzfußball durch die Vorrunde kommen. Das war fast schon arrogant von mir. Ich wollte es auf die Spitze treiben."
► Löw über personelle Neuerungen: "Es bedarf natürlich auch Veränderungen. Wir haben ein sehr, sehr großes Team – und manchmal ist weniger dann auch mehr. Wir haben entschieden, dass Thomas Schneider die Leitung der Scoutingabteilung übernimmt. Urs Siegenthaler wird aber selbstverständlich auch weiter in diesem Bereich tätig sein und die Gegner beobachten, auf die wir eventuell auch bei der EM 2020 treffen könnten."
► Löw über Mesut Özil: "Es war so, dass sein Berater mich am Sonntag des Rücktritts angerufen und mir gesagt hat, dass er gleich den dritten Tweet absetzt und zurücktritt. Mesut hat mich nicht angerufen – was sonst bei Rücktritten immer üblich war – und bis heute nicht mit mir gesprochen, obwohl ich mehrfach versucht habe, ihn zu erreichen. Er hat sich für diesen Weg entschieden."
► Im Kader für die kommenden Länderspiele gegen Frankreich (6.9.) und Peru (9.9.) stehen drei Neue: Thilo Kehrer (PSG), Nico Schulz (1899 Hoffenheim) und Kai Havertz (Bayer Leverkusen).
► Weltmeister Sami Khedira wurde nicht nominiert – genau wie Kevin Trapp und Sebastian Rudy.
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Der Bundestrainer glaubt, die richtigen Lehren aus dem "absoluten Tiefschlag" gezogen zu haben. Seine Mannschaft, aber auch er persönlich hätten es in Russland "verbockt", sagte er. Gespräche mit allen Beteiligten, darunter den Führungsspielern, eine umfassende Datenanalyse und der Vergleich mit den Turnieren 2010 sowie 2014 habe eine Summe an Fehlern ergeben.
Löws "wichtigste Erkenntnis" ist deshalb, dass er die Spielweise der Nationalmannschaft flexibler gestalten muss - nach dem Vorbild Frankreich, wie er betonte, einem "top Auftaktgegner in dieser Situation". Gegen die Equipe tricolore werde seine Auswahl "ganz sicher" auch wieder die Leidenschaft zeigen, die Löw in Russland vermisste. "Wenn wir wieder Feuer bekommen, haben wir ein sehr, sehr gutes Fundament", sagte er. Zumal seine Führungsspieler ausnahmslos "sehr viel Selbstkritik" geübt hätten: "Alle spüren eine Jetzt-erst-recht-Stimmung in sich und wollen das Scheitern ausmerzen."
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Der Ticker zur Pressekonferenz zum Nachlesen:
Löw über die Nominierung von Ilkay Gündogan und mögliche erneute Pfiffe gegen den Mittelfeldspieler: "Sportlich stand die Nominierung für mich außer Frage. Er ist ein Spieler, der alles mitbringt, und er kann jetzt auch den Durchbruch bei uns schaffen. Ilkay hat sich in den letzten Tagen nochmals zu unseren Werten und zum DFB bekannt, mehr kann er auch nicht tun. Ich erwarte jetzt auch, dass die Fans dieses Thema beiseite legen und hoffe auf Verständnis. Er hat unter dieser Situation sehr gelitten im Trainingslager in Eppan."
Löw über die Kritik von Philipp Lahm: "Philipp hat mich nach seiner Kritik angerufen und mir erklärt, dass die junge Generation auch mal anders tickt. Aber das ist mir und dem Trainerstab auch klar. Ich weiß schon, welche Dinge in der Führung einer Mannschaft wichtig sind, und wie ich die Spieler erreiche. Sie wollen ein klares Gespräch, eine Diskussion, einen Dialog. Genau so haben wir auch jahrelang erfolgreich mit den Spielern gearbeitet. Ich erreiche die Spieler und bin mir bewusst, was sie benötigen."
Löw über angebliche Grüppchenbildung in der Mannschaft: "Es wurde vieles im Vorfeld geschrieben, von dem einiges so nicht zutraf. Natürlich haben wir darüber gesprochen, mit den wichtigen Figuren in der Mannschaft, konnten aber eine derartige Entwicklung nicht ausfindig machen. Natürlich wird hin und wieder mal ein Spaß gemacht."
Löw über den neuen Kader: "Wir wollen neue Identifikation schaffen, auch den Fans neue Nähe bieten, und das geht nur, wenn wir sofort ein klares Zeichen setzen. Ich bin absolut überzeugt von unserer Klasse und unserer Qualität. Unsere Mannschaft hat jahrelang auf einem sehr hohen Niveau gespielt, musste aber auch immer wieder Rückschläge hinnehmen. Wir haben aber immer daraus gelernt und werden auch dieses Mal die richtigen Schlüsse daraus ziehen."
Löw über den Kader für die kommenden Länderspiele: Das DFB-Team geht mit drei neuen Spielern in die Nations League. Im Kader für das Spiel gegen Frankreich (6. September) und den Test gegen Peru (9. September) stehen noch 17 Akteure, die auch bei der WM dabei waren. Der größte Name, der fehlt: Sami Khedira von Juventus Turin.
Bierhoff über den Begriff "Die Mannschaft": "Ich habe die Anregung des DFB-Präsidenten, den Begriff zu überdenken, aufgenommen, will mich da aber nicht von Stimmungen und Strömungen leiten lassen. Wir analysieren diesen Begriff gemeinsam mit unseren Stakeholdern."
Bierhoff über Entfremdung von den DFB-Fans: "Wir nehmen das sehr ernst, diese Vorwürfe sind mir sehr nahegegangen. Im Oktober planen wir zwei öffentliche Trainingseinheiten in Berlin und in Leipzig. Das Ziel ist klar: Wieder mehr Nähe aufbauen."
Bierhoff über personelle Konsequenzen: "Bei großen Turnieren werden es im Vergleich zur WM im Betreuerstab ingesamt elf Personen weniger, bei einfachen Länderspielen sieben Personen weniger sein."
Bierhoff über die Einstellung der Spieler: "Die Spieler kommen mit Freude zu uns, sie kommen mit unglaublichem Stolz zu uns, und genau das war auch der Fall bei allen Spielern, die bei der WM dabei waren. Aber das muss auch nach außen transportiert werden. Und da werde ich in Zukunft wieder mehr einfordern."
Bierhoff über den Umgang mit Özil: "Wir haben die Situation einfach unterschätzt und falsch eingeschätzt. Ich habe mich mit unglaublich vielen Menschen unterhalten seitdem, und habe es in meinen 30 Jahren im Profifußball nie erlebt, dass die Meinungen so weit auseinandergehen."
Bierhoff über das WM-Debakel: "Uns hat einfach die richtige Einstellung gefehlt. Wir sind selbstgefällig aufgetreten und haben den Erfolg und die Unterstützung unserer Fans für selbstverständlich gehalten. Wir haben gedacht, dass ein weiterer Erfolg nach diesen 14 gemeinsamen Jahren ein Selbstläufer ist."
Löw über Rassismus: "Es gab in meiner Zeit bei der Nationalmannschaft niemals Anzeichen für Rassismus in der Mannschaft."
Löw über die Diskussionen um Özil und Gündogan: "Natürlich hat das die Mannschaft beschäftigt, aber es war kein entscheidender Grund für unser Ausscheiden bei der WM."
Löw über Özil: "Es war so, dass sein Berater mich am Sonntag des Rücktritts angerufen hat und mir gesagt hat, dass er gleich den dritten Tweet absetzt und zurücktritt. Mesut hat mich nicht angerufen – was sonst bei Rücktritten immer üblich war – und bis heute nicht mit mir gesprochen, obwohl ich mehrfach versucht habe, ihn zu erreichen. Er hat sich für diesen Weg entschieden."
Löw über die nächsten Spiele: "Wir müssen jetzt den richtigen Mix finden aus Erfahrung und jungen, dynamischen, hungrigen Spielern. Wir haben wichtige Aufgaben vor aus, die wir sehr ernst nehmen. Die Mannschaft auf diese Herausforderungen einzustellen, das aus ihnen rauszukitzeln, das ist jetzt die Aufgabe. Dann bin ich mir sicher, dass wir auch dieses 'Jetzt-erst-Recht'-Gefühl einstellen können."
Löw über personelle Neuerungen: "Es bedarf natürlich auch Veränderungen. Wir haben ein sehr, sehr großes Team – und manchmal ist weniger dann auch mehr. Wir haben entschieden, dass Thomas Schneider die Leitung der Scoutingabteilung übernimmt. Urs Siegenthaler wird aber selbstverständlich auch weiter in diesem Bereich tätig sein und die Gegner beobachten, auf die wir eventuell auch bei der EM 2020 treffen könnten."
Löw über weitere Defizite bei der WM: "Wir hatten auch ein großes Problem in der Chancenverwertung. 2018 hatten wir 24 Torabschlüsse pro Spiel und erzielten noch nie so wenige Tore. 2014 haben wir in allen Bereichen, was die Balance zwischen Offensive und Defensive angeht, was die Spielweise angeht, die Mitte erreicht."
Löw: "Uns hat die hohe Intensität gefehlt, haben viel langsamer gespielt. Wir hatten insgesamt wahnsinnig viel Ballbesitz, hatten in unserer Spielweise insgesamt viel weniger in Läufe und Sprints investiert, als es noch 2014 und 2010 der Fall war. Und genau davon hat unser Spiel eigentlich immer gelebt, das hat gefehlt."
Löw über Einstellungsprobleme: "Wenn man ein Turnier gewinnen will, dann muss man auch mit Feuer spielen, und dieses Feuer muss immer brennen. Das haben wir nicht geschafft. Wir haben es nicht geschafft, neue Reize zu setzen. Normalerweise haben meine Spieler Feuer. Aber bei diesem Turnier konnten sie es nicht abrufen, und das wäre meine Aufgabe gewesen, dieses zu forcieren."
Löw über Fehler bei der WM: "Mein allergrößter Fehler war, dass ich gedacht habe, dass wir mit diesem dominanten Ballbesitzfußball durch die Vorrunde kommen. Die Rahmenbedingungen dafür müssen aber stimmen, und die haben nicht gestimmt. Das war fast schon arrogant von mir. Ich wollte es auf die Spitze treiben perfektionieren und habe gedacht: Wir müssen durch die Vorrunde kommen, und dann kann ich es perfektionieren."
Löws Analyse: "Die Erkenntnisse der WM: Fast alle Mannschaften haben ausschließlich mit drei offensiven Spielern begonnen. Standards haben bei der WM eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Die Frage war: Ist Ballbesitzfußball vorbei? Die Bayern, PSG, Barcelona, Manchester City – natürlich ist Ballbesitzfußball weiterhin wichtig, aber die Champions League hat Real Madrid gewonnen."
Löw: "Uns ist klar geworden: 2014 lagen wir in der goldenen Mitte. 2018 mussten wir unser Spiel natürlich auch umstellen, weil die Gegner immer mehr Angst hatten, von uns ausgekontert zu werden. Das ist uns vier Jahre lang hervorragend gelungen."
Löw über den WM-Auftritt: "Wir wollten auch das Ende der WM abwarten und schauen: Was sind die Trends? Wir haben uns auch die WMs 2014 und 2010 noch einmal genau angeschaut, alles gegenüber gestellt. 2010, bei der ersten WM, die Oliver und ich gemeinsam bestritten haben, waren wir eine defensivstarke Mannschaft, haben es geschafft, ein gutes Turnier zu spielen und ins Halbfinale zu kommen. 2014 sind wir Weltmeister geworden. 2018 sind wir immer mehr eine Mannschaft geworden, die immer mehr über Ballbesitz und Tempo darauf geht, Spiele zu gewinnen."
Löw: "Eines ist klar: bei einer Analyse gibt es nicht den einen Grund, es sind viele Dinge, die passieren. Für einige hat diese Analyse vielleicht lange gedauert, aber wir haben uns bewusst diese Zeit genommen. Auch, weil ich mit einigen der Spieler danach sprechen wollte, Erfahrungen austauschen wollte."
Joachim Löw: "Das WM-Aus war für mich und für uns alle ein absoluter Tiefschlag. Wir sind alle weit unter unseren Möglichkeiten geblieben und haben zurecht die Quittung bekommen. Die ersten Tage nach dem Ausscheiden waren bei mir geprägt von Frust und Enttäuschung und einer großen Portion Wut.
Oliver und ich haben uns danach getroffen, uns selbstkritisch hinterfragt und einige Dinge besprochen. Wir haben beide gespürt: Auch nach 14 Jahren, die wir schon in der Verantwortung stehen, haben wir noch die Motivation und die Kraft und die Begeisterung, das, was wir in Russland verbockt haben, wieder auf die Beine zu stellen."
Start der DFB-PK: Pressechef Jens Grittner begrüßt Bundestrainer Joachim Löw und Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff.
Vor dem Start: Auch Bayern-Präsident Uli Hoeneß setzt offenbar keine großen Hoffnungen in Löws Erklärungen: "Ich glaube nicht, dass da viel rauskommt", sagte der 66-Jährige – und wettert gegen die "Alibi-Veranstaltung" des DFB.
Vor dem Start: Kündigt Bundestrainer Löw tatsächlich große Veränderungen an? Welche Maßnahmen wird der 58-Jährige durchsetzen, um das WM-Debakel vergessen zu machen? Gibt es auch einen personellen Schnitt?
Es gibt erhebliche Zweifel! Den Fans fehlt das Vertrauen in Löw – t-online.de stellte in Zusammenarbeit mit dem Umfrageinstitut "Civey" den Sportfans in Deutschland die Frage: "Wird die deutsche Fußballnationalmannschaft unter Bundestrainer Joachim Löw Ihrer Meinung nach noch einmal an frühere Erfolge anknüpfen können?"
Das Ergebnis ist ernüchternd: Nur 26,7 Prozent antworteten mit "Ja" oder "Eher ja". Das komplette Umfrageergebnis finden Sie hier.