Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Deutsche Reaktionen auf Kuss-Eklat Sie haben nichts verstanden
Der deutsche Fußball druckst herum, wenn es darum geht, den Übergriff von Spaniens Verbandschef zu verurteilen. Bezeichnend für den Zustand des Sports – und seiner Macher.
Beschämend ist es. Peinlich, wie herumgedruckst wird. Was sich der deutsche Fußball dieser Tage rund um den Kuss-Eklat von Spaniens Verbandschef Luis Rubiales leistet, ist gemeinhin unerträglich.
Es war wie bei Ödön von Horváth, was Rubiales da aufführte nach dem Sieg von "La Furia Roja" im Finale der WM der Frauen. "Meiner Liebe entgehst Du nicht" wirft Metzger Oskar in Horváths Meisterstück "Geschichten aus dem Wienerwald" seiner Verloben Marianne ein ums andere Mal entgegen, mit verstörender Überzeugung und einer implizierten Ausweglosigkeit. Und als Rubiales da im Stadium Australia von Sydney das Haupt seiner Spielerin Jennifer Hermoso mit beiden Händen packte und ihr einen Kuss auf die Lippen aufzwang, da war er so sehr Metzger, dass er der überrumpelten Angreiferin auch gleich mit einem Fleischklopfer hätte zu Leibe rücken können.
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Rubiales‘ Aussetzer und in der Folge vor allem die Reaktionen der Großkopferten aus dem deutschen Fußball empören – und veranschaulichen ein Grundproblem. Der Fußball kann sich nicht zeitgemäß präsentieren, wenn seine Entscheidungsträger alles sind, nur nicht zeitgemäß.
Schwer zu sagen, was schlimmer ist
"Ich habe mir vorgestellt, man wäre in einer ähnlichen Situation: Ich glaube, ich hätte nicht so gehandelt", postulierte DFB-Präsident Bernd Neuendorf zum Rubiales-Vorfall. Borussia Dortmunds sonst so meinungsstarker Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke brachte kaum mehr über die Lippen als: "Ich weiß nicht, was da vorher gewesen ist, ob die miteinander gesprochen haben oder ob das ein überschäumendes Gefühl der Freude war. Ich weiß es nicht, dafür musst du dabei sein und das war ich nicht, deshalb halte ich die Klappe."
Der allgegenwärtige Lothar Matthäus schwadronierte ebenfalls: "Man kann sich doch küssen. Das sind Emotionen, Liebe, Leidenschaft, Glückseligkeit. Vielleicht ist man ein Stück zu weit gegangen. Für mich ist das keine Diskussion und in Ordnung." Die Reaktion von Karl-Heinz Rummenigge wurde bereits von meiner Kollegin Kim Steinke hier kommentiert. Es ist schwer zu sagen, was schlimmer ist: Dass sie alle ihre Reaktionen für angemessen hielten – oder dass aus ihren an gewieften Beratern und findigen Presseleuten nicht armen Umfeldern offenbar keine Stimme aufkam, die ihre Reaktionen eben nicht für angemessen hielt.
"Jetzt ist aber auch mal gut"
Diese derart verirrte Männerriege will übrigens tatkräftig in vorderster Reihe dabei mithelfen, den deutschen Fußball sportlich wieder in die Weltspitze und gesellschaftlich in die Zukunft zu führen. Das muss Angst machen. Das kann nicht funktionieren. Das darf nicht funktionieren.
Mindestens missmutig stimmen muss die offensichtliche Unbedarftheit, die beängstigende Ignoranz aktueller Entwicklungen, mit der sich eigentlich so medienerfahrene Macher des deutschen Fußballs selbst entlarvt haben. Die Vorstellung, dass sie nur stellvertretend für eine ganze Reihe älterer Entscheidungsträger in ihrer Branche stehen, lässt an der gesellschaftlichen Zukunftsfähigkeit des Sports in seiner aktuellen Besetzung mindestens zweifeln.
Nun ist in der allgemeinen medialen Aufgeregtheit dieser Jahre zwar nichts gegen einen entschleunigten Blick auf akute Situationen einzuwenden – führt eine sich ständig weiterdrehende Eskalationsspirale doch zwangsläufig eher zu emotionaler Abstumpfung denn zu erhöhter Sensibilität, schlimmstenfalls zu latenter Gleichgültigkeit, zu entnervtem Abwinken denn zu gesteigertem Interesse. Zumal dieses ausbremsende "Jetzt ist aber auch mal gut" auch für Rudi Völler ein offenbar probates Mittel zur Problemlösung zu sein scheint. Der DFB-Direktor war schließlich gerade erst in Amt und Würden, schon erklärte er zur endlosen Debatte um die Regenbogenarmbinde bei der WM 2022: "Ich verstehe zwar, dass man ab und zu ein Zeichen setzen muss. Aber jetzt geht es wieder um Fußball."
Erinnerung an Obama
Es mag gefallen oder nicht, die Zeiten, in denen Sport und Politik getrennt werden konnten, sind aber auch bei ruhiger Betrachtungsweise vorbei. 2023 werden klare, unmissverständliche Positionierungen erwartet – und, dass eine Führungskraft eines Milliardengeschäfts sauber formuliert, gesellschaftliche Entwicklungen wahrnimmt und den Eindruck vermittelt, das richtige Gespür für die richtigen Worte, die richtigen Entscheidungen zu haben.
Der deutsche Fußball vereselt aktuell die nächste große Chance, gesellschaftlich ein Zeichen zu setzen. Die positive, fortschrittliche Botschaft zu bestätigen, die er bereits in schicken Clips und cleveren PR-Kampagnen seiner Ligen, Vereine und Nationalmannschaften vermittelt: Wir haben verstanden.
Seine vermeintlich wichtigsten Köpfe, deren Generation in Zeiten von Stammtisch und Herrenwitz sozialisiert wurde, haben aber offenbar nichts verstanden. Zumal in einer Angelegenheit, in der es keine zwei Meinungen geben kann, geben darf. Wie sagte Barack Obama einst? "Du kannst einem Schwein Lippenstift auftragen – es bleibt trotzdem ein Schwein."
Große Besserung ist nicht in Sicht. Wie bei Horváths "Geschichten aus dem Wienerwald".
- eigene Beobachtungen