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Tabea Kemme über Frauen-WM: "Als wolle der DFB den Laden an die Wand fahren"


Interview
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Drohender TV-Blackout
Olympiasiegerin Kemme appelliert an ARD und ZDF


Aktualisiert am 19.05.2023Lesedauer: 9 Min.
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Tabea Kemme: Die ehemalige Nationalspielerin ist TV-Expertin bei Sky und Prime Video. (Quelle: IMAGO/Revierfoto)
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Tabea Kemme gehört zu den prominentesten Stimmen im deutschen Fußball. Wenige Wochen vor der Frauen-WM trifft t-online sie zum Interview. Eine Bestandsaufnahme.

Vor gut einem Jahr holte Tabea Kemme (31) im t-online-Interview zum Rundumschlag aus. "Raus aus dem DFB", lautete damals ihre Forderung bezogen auf die Frauen-Bundesliga, die bis heute unter dem Dach des Deutschen Fußball-Bundes steht.

Was hat sich in den vergangenen 10 Monaten getan? Wie nachhaltig war und ist der Hype, der durch die Frauen-EM 2022 in England entstanden ist? Ein ausführliches Gespräch über die Dreiklassengesellschaft in der Liga, Investorinnen im Frauenfußball und den drohenden TV-Blackout zur WM im Sommer.

t-online: Frau Kemme, die Bundesliga biegt auf die Zielgerade ein, sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern. Was ist Ihr Meistertipp?

Tabea Kemme: Bei den Männern wünsche ich mir eine Sensation – also nicht den FC Bayern. Es wäre einfach schön für die Liga, mal einen anderen Meister zu sehen. Bei den Frauen habe ich keinerlei Präferenz. Ich freue mich, dass es bis zum Ende so spannend war. Der FC Bayern muss jetzt nur noch den Sack zu machen.

Die Abstände zwischen den Teams in der Frauen-Bundesliga sind sehr groß, zwischen Rang 4 (Hoffenheim) und 5 (Bayer Leverkusen) klafft eine Lücke von satten 16 Punkten. Die Qualitätsunterschiede sind immens. Wie bewerten Sie die Attraktivität der Frauen-Bundesliga?

Es ist keine wettbewerbsfähige Liga. Wir brauchen professionelle Bedingungen auf allen Ebenen – und die sind nach wie vor nicht gegeben. Die Liga muss klare Vorgaben erstellen, und wer die als Klub nicht verfolgt, wird konsequent geahndet. Sonst führt das zu so einer immensen Lücke zwischen Platz 4 und Platz 5. In England sehen wir, dass es funktioniert. Da ist die Liga ausgeglichener und enger. Aktuell gibt es nur Empfehlungen an die Vereine. Die treffen selbst die Entscheidung, ob sie sich bewegen wollen. Und wenn nicht, dann setzen sie es eben nicht um. Das hindert die Weiterentwicklung.


Quotation Mark

Die Spielerinnen tragen die Konsequenzen


Tabea Kemme über die Montagsspiele in der Frauen-Bundesliga


Mehr Geld durch TV-Einnahmen könnte das grundsätzliche Niveau erhöhen. Der ab September greifende neue Medienvertrag steigert die Erlöse in der Frauen-Bundesliga um 1.600 Prozent auf 5,175 Millionen Euro pro Saison. Er bringt zwar mehr Geld, aber auch Montagsspiele. Fluch und Segen zugleich?

Der neue Vertrag löst die alten Probleme nicht. Wenn eine Spielerin einen Vollzeitjob hat, dann muss sie sich am Montag Urlaub nehmen. An einem Urlaubstag hast du qua Vorgabe keine andere Tätigkeit auszuführen. Im Fall einer Verletzung am Urlaubstag, wer übernimmt dann die Verantwortung? Die Spielerinnen tragen die Konsequenzen dieser Entscheidung. Wenn professionelle Topvereine wie der FC Bayern und Wolfsburg in der Champions League aktiv sind, werden sie außerdem an diesem Montag gar nicht spielen können.

Wie weit hängt die Frauen-Bundesliga den anderen internationalen Ligen nach wie vor hinterher?

Wir haben ein Problem in der Breite der Professionalisierung. Bayern, Wolfsburg, ok. Aber die Lücke zwischen den Vereinen ist zu groß. Siehe Klubs wie Turbine Potsdam und den SC Sand, die jetzt in der 2. Bundesliga spielen. Das Gute ist, dass die Spielerinnen insgesamt mündiger werden, sich trauen, Missstände im Verein anzusprechen, was wiederum für Ängste bei den Klub- und Verbandsverantwortlichen sorgt, unter Druck der Öffentlichkeit zu geraten. Am Ende müssen beide Parteien zusammenkommen.

Mit Turbine Potsdam ist Ihr Ex-Verein und einstiger Riese des Frauenfußballs vergangene Woche abgestiegen. Wie stehen Sie aktuell zum Klub?

Ich bin traurig, weil ich weiß, dass die Möglichkeiten da wären, etwas auf die Beine zu stellen. Strukturell hat sich in den vergangenen Jahren kaum etwas verbessert. Wenn ein junges Mädchen mit zwölf Jahren auf die Sportschule in Potsdam geht, braucht es Verantwortung, der Spielerin einen Weg zu ebnen, dass sie sich zu 100 Prozent entfalten kann. Wie viele Spielerinnen aus Potsdam sind Weltfußballerinnen geworden? Eine Menge. Das ist Jahre her. Der Zustand bei Turbine ist in aller Munde – und der Standort ist derzeit offenkundig weniger attraktiv.

Ist der Verein denn zumindest so aufgestellt, dass er den direkten Wiederaufstieg schaffen kann?

Es wird superschwer, weil die Bedingungen ja nicht besser werden. Das Niveau ist in der 2. Liga vielleicht nicht ganz so hoch, zudem gibt es geringere finanzielle Zuschüsse.

Apropos mehr Geld: In der 2. Liga wird Turbine dann möglicherweise mit den Frauen von Viktoria Berlin konkurrieren, die von einer Investorinnengruppe finanziert werden. Zudem bekommt die Bundesliga mit Rasenballsport Leipzig einen finanzstarken Mitbewerber. Wie stehen Sie zu diesen umstrittenen Projekten?

Das ist ein sehr spannendes Thema, das ich differenziert betrachte. Wir haben im Frauenfußball eine andere Zielgruppe. Familien und Kinder, die Bock auf Fußball haben. Traditionsbewusste Ultra-Gruppierungen und gewalttätige Hooligans wie bei den Männern gibt es bei den Frauen ja kaum bis gar nicht im Stadion. Umfragen bei der EM 2022 der Frauen haben ergeben, dass eine Zielgruppe der 18- bis 24-Jährigen über den Fußball der Frauen Fan geworden sind, extrem werteorientiert leben und sich mit den Frauen identifizieren. Beim Investorinnenprojekt in Berlin geht es darum, dass alle partizipieren. Bei Viktoria müssen wir wissen, dass es sich bewusst um keine Millionenbeträge der einzelnen Investorinnen und Investoren handelt. Die Philosophie ist hier, über viele Beteiligte einen großen Pool zu schaffen, die das Projekt unterstützen.

Inwiefern?

Die Chance des Fußballs der Frauen ist es, Unternehmen an die Klubs zu binden und dabei gleichzeitig auch den Sport in Firmen wieder stärker zu kultivieren. Wie steht es um das Thema Sport und Gesundheit in Schulen und Unternehmen? Das ist eine Nische, die der Frauenfußball bedienen kann – besonders mithilfe von Investorinnen und Investoren.

Ist die Kritik an einem Konstrukt wie in Leipzig bei den Frauen leiser, weil es erst einmal positiv gesehen wird, dass überhaupt Geld in den Frauenfußball fließt?

Das Kind ist ja irgendwo auch schon in den Brunnen gefallen. Leipzig macht es über einen Energydrink, Hoffenheim über einen Mäzen. Jeder versucht investmenttechnisch etwas zu reißen. Der Fußball, wie wir ihn kennen, ist eine Illusion. Aber letztlich kannst du so viel Geld reinbuttern, wie du willst: Die Leistung auf dem Platz ist entscheidend.

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Das Geld verschafft diesen Klubs aber einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Zudem verdrängen sie andere Vereine aus der Liga.

PSG und City buttern seit Jahren Milliarden in ihre Klubs, die Champions League hat aber noch keiner von beiden gewonnen. Mit diesem etwas romantisierten Blick entschuldigt man ein wenig diese alles andere als traditionellen Investments. Und ich sage auch: Aktuell gibt es zu viele Grauzonen, die klar geregelt werden müssen. Das gilt sowohl für die Frauen- als auch die Männer-Bundesliga.

Wird Leipzig schon im kommenden Jahr im Titelkampf mitmischen?

Die Entwicklung braucht länger. Sie haben sehr viele junge Spielerinnen. Und du brauchst eine gewisse Wiederholungszahl am Fuß, die kannst du nicht einfach mal so herbeizaubern. Auch hier sind es harte Verhandlungen für bessere Bedingungen der Spielerinnen, stetige Diskussionen um die Budgeterhöhung bei der Frauenabteilung. Hier müssen wir klar differenzieren und dürfen uns nicht täuschen lassen. Viel Geld im System heißt nicht, dass alle davon profitieren.

Pokalsieger Wolfsburg hat derweil noch die Chance auf den Champions-League-Titel. Werden deutsche Teams auch in Zukunft bis zum Ende um den Gewinn der Königsklasse mitmischen können?

Das wird sehr schwer werden. Du brauchst eine krasse Konkurrenz in der Liga, um dich selbst immer wieder zu steigern. Und die gibt es wie gesagt nicht. Vier Topspiele bei 22 Spieltagen sind zu wenig. Aber zumindest für diese Saison ist es extrem wichtig, dass ein deutsches Team im Champions-League-Finale ist, weil sich so die Sichtbarkeit erhöht.

Wäre eine Aufstockung der Liga sinnvoll?

Oft wird gesagt, wir wollen professionalisieren, indem wir uns an die Männer angleichen. Also: Aufstockung auf 18 Teams. So funktioniert das nicht. Wir müssen erst mal innerhalb der 12er-Gruppe eine Wettbewerbsfähigkeit schaffen.

Kommen wir von der Liga zur Nationalmannschaft. Das Testspiel gegen die Niederlande war zuletzt nur im Livestream zu sehen, bei der Partie gegen Brasilien endete die Übertragung nur wenige Sekunden nach Abpfiff. Eine professionelle Berichterstattung sieht anders aus.

Wir haben das Abschiedsspiel von Dzsenifer Marozsán gesehen. Eine Spielerin, die den deutschen Fußball mit ihrem Zauberfuß geprägt hat und uns mit ihren zwei Toren im Olympiafinale die Goldmedaille sicherte – und dann lässt man sie nach Abpfiff nicht einmal zu Wort kommen. Wir schaffen es nicht, Wertschätzung gegenüber den Spielerinnen zu zeigen, indem wir Persönlichkeiten zu Wort kommen lassen, ein Fest zu feiern, Freunde und Familie, ehemalige Mitspielerinnen einzuladen. Nadine Kessler hat es bei der Uefa als Verantwortliche des Frauenfußballs geschafft, Spielerinnen, die den Fußball geprägt haben, zusammenzubringen. Das wünsche ich mir bei einem Verband wie dem DFB.

Deutschlands Gruppenspiele bei der WM

Inwieweit ist auch eine erfolgreiche Bewerbung des DFB um die WM 2027 elementar, um die Entwicklung voranzutreiben?

Wir müssen und wir wollen dieses Turnier nach Deutschland holen. Wenn wir auf das Strategie-Papier "FF27" des DFB blicken, das die Ziele für den Frauenfußball in Deutschland bis 2027 skizziert, dann haben wir alte Probleme. Innerhalb des DFB kann man sich bemühen, wie man will. Wenn in Präsidiumssitzungen innovative, progressive Vorschläge abgebügelt werden, dann treten wir auf der Stelle. Es wirkt zuweilen so, als wolle man beim DFB den Laden gegen die Wand fahren. Manchmal denke ich mir, wir brauchen ein Parallelsystem für den Frauenfußball, um ernsthaft etwas aufbauen zu können.

Nach der sportlich erfolgreichen EM sprachen viele von einem positiven Schub. Spielerinnen werden erkannt, Zuschauerrekorde gebrochen. Auf der anderen Seite fallen in der Liga Spiele wegen Unbespielbarkeit des Platzes aus, Bayern gegen Wolfsburg läuft nur am Campus des Klubs oder Länderspiele werden nur im Livestream gezeigt. Wird zu viel geredet, zu wenig gemacht?

Es ist das passiert, was im Frauenfußball immer passiert ist. Das DFB-Team musste in Vorleistung gehen, sprich: mit der Finalteilnahme ein erfolgreiches Turnier spielen, damit sich auch wirklich nur ansatzweise etwas bewegen kann. Der öffentliche Druck ist enorm gewachsen. Dass das EM-Finale Deutschland gegen England die beste TV-Quote des Jahres hatte, spricht für sich. Wir kommen ins Arbeiten, aber wir merken, dass es sehr kleine Schritte sind. Alles steht und fällt mit den Angeboten, die Vereine und Ligen machen.

Apropos Angebote: 214 Millionen Euro zahlte der öffentlich-rechtliche Rundfunk für das Männer-Turnier in Katar. Fünf Millionen will man der Fifa laut einem Bericht des "Kicker" für die WM der Frauen zahlen, während der Verband angeblich mindestens zehn Millionen fordert. Sind fünf Millionen ein marktgerechtes Angebot?

Es war von der Fifa strategisch klug, dass sie zu Beginn der Rechteausschreibung keinen Mindestwert kommuniziert hat, der geboten werden muss. Die Fifa hält die Füße still, während am deutschen Markt die Verzweiflung groß ist.

Fifa-Präsident Gianni Infantino sprach jüngst von einer Annäherung der Parteien. Wird es dennoch zum TV-Blackout kommen?

Ich kann mir bei der Fifa mittlerweile alles vorstellen. Es gibt selten Menschen, die ich nicht einschätzen kann. Aber bei Gianni Infantino ist es so. Er weiß die Dinge für seinen Vorteil zu nutzen und setzt die Bewerber massiv unter Druck. Aber es ist auch meine Forderung an die ARD und das ZDF: Gebt euch einen Ruck. 10 Millionen im Vergleich zu 214 Millionen. Worüber reden wir hier?

Verstehen Sie die Bedenken der Sender bezüglich der frühen Anstoßzeiten?

Natürlich werden die Quoten vermutlich nicht so gut sein können wie zur Primetime um 20.15 Uhr. Wir haben in elf Bundesländern Sommerferien, das ein oder andere Spiel wird auch auf das Wochenende fallen. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass die Menschen in den Biergärten sitzen werden und die Spiele schauen – wenn sie denn gezeigt werden. Mich nervt es, dass immer nach Gründen gesucht wird, Dinge nicht zu tun. Die Anstoßzeiten werden 2026 bei der WM der Männer in den USA, Mexiko und Kanada auch kein Argument sein.

Ihre Prognose: Wo wird das erste deutsche Gruppenspiel bei der WM am 24. Juli gegen Marokko ausgestrahlt?

Im Jahr 2000 wurde im Medienstaatsvertrag festgelegt, dass auf die Liste der Großereignisse, die im Free-TV ausgestrahlt werden müssen, nur Männerfußball gesetzt wird. Diese Liste kann nicht einfach so auf den Frauenfußball ausgeweitet werden, hierfür muss das Gesetz geändert werden. In England hat man die Frauenfußball-Großereignisse wie EM und WM bereits 2022 auf die Liste genommen. Wir sind hier absolut hinter der Zeit! Es darf nicht passieren, dass wir diesen Sommer keine WM im TV haben.

Sie wirken nach wie vor sehr entschlossen, positiv, engagiert – und das, obwohl es nach wie vor immens viele Baustellen gibt.

Ich komme aus dem Leistungssport. Klar braucht man eine gewisse Ausdauer, ich nehme mir auch meine Auszeiten, das sind meine grünen Blöcke im Kalender, bei denen ich aufladen kann. Ich bin ein Fan geworden einer ambitionierten, jungen Generation. Das gibt mir die Energie, Dinge anzupacken und manchmal schwere Steine zu bewegen.

Entschlossen wird bei der WM auch das DFB-Team auftreten müssen. Die Gruppengegner sind auf dem Papier leicht, im Achtelfinale drohen allerdings Frankreich oder Brasilien.

Besser geht's nicht.

Keine Sorge vor einem frühen Aus? Die Testspiele zuletzt waren von der Leistung her ausbaufähig.

Das mag stimmen, ich kenne das selbst noch. Test- und K.-o.-Spiele sind einfach nicht vergleichbar. Das ist ein besonderer Rahmen in Australien, in dem du noch mal über dich hinauswachsen kannst. Wir haben es in England gesehen und ich bin fest davon überzeugt, dass wir das auch bei der WM sehen werden.

Sie selbst sind mit 31 Jahren noch sehr jung. Denken Sie sich nicht manchmal: "Verdammt, ich könnte da doch selbst noch mitspielen und diese Mannschaft führen?"

Ich habe liebend gerne Fußball gespielt und war todtraurig, als meine Karriere vorbei war. Ich habe nichts ausgelassen – außer den DFB-Pokal (lacht). Ich träume tatsächlich noch sehr viel, auch wie ich ein Finale spiele und eine entscheidende Vorlage gebe. Mich hat der Sport sehr geprägt. Ich sehe mich als Fan und Expertin und als eine Person, die den positiven Vibe zu diesem geilen Spiel weitergibt. Das ist mein Antrieb.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Tabea Kemme
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