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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gladbachs Tony Jantschke "Pfiffe gegen ehemalige Spieler werde ich nie verstehen"
Der Gladbacher "Fußballgott" Tony Jantschke spricht im Interview mit t-online.de über das Thema Vereinstreue, den Marktwert von Verteidigern und zeigt Unverständnis für bestimmte Fanpraxen.
Seit 2006 hält Tony Jantschke seine Knochen für Borussia Mönchengladbach hin. Der gebürtige Sachse, der als 16-Jähriger aus Dresden an den Niederrhein kam, hat sich in den vergangenen 13 Jahren nicht nur den Ruf eines äußerst variablen Verteidigers erarbeitet, sondern ist längst zum Fanliebling am Niederrhein aufgestiegen. Läuft Jantschke im Gladbacher Borussia-Park auf, ertönt ein ohrenbetäubendes "Fußballgott" von den Rängen.
Im Interview mit t-online.de setzt sich der 29-Jährige mit dem Begriff der Vereinstreue auseinander, verrät, warum Abwehrspieler länger bei einem Verein bleiben und was er von Pfiffen gegen ehemalige Spieler hält.
t-online.de: Tony Jantschke, welche Spieler fallen Ihnen spontan beim Wort Vereinstreue ein?
Tony Jantschke: Francesco Totti und Paolo Maldini sind natürlich zwei Namen, die ich nennen würde. Das sind zwei absolute Ausnahmespieler, die wirklich ewig bei ihren Vereinen sind beziehungsweise waren. Ansonsten habe ich auch einen Rio Ferdinand im Kopf, den ich immer mit Manchester United verbinde, auch wenn er zuvor andere Karrierestationen hatte.
Dem FC Bayern beispielsweise gelingt es auf beeindruckende Art und Weise, Spieler lange an den Klub zu binden – sei das ein Thomas Müller, Philipp Lahm oder David Alaba. Ein weiterer Spieler, der für mich in Deutschland für Vereinstreue steht, ist Marco Reus: Er wurde in Dortmund ausgebildet und ist mit einigen Umwegen zum Klub zurückgekehrt und lebt diesen Verein seitdem wie kein anderer.
Haben Werte wie Treue und Loyalität denn überhaupt noch einen Platz in unserer heutigen Leistungsgesellschaft?
Ja und nein. Loyalität und Treue sind ja keine Einbahnstraßen. Es gibt sicher viele Spieler, die für sich entschieden haben, ewig in einem Verein zu bleiben. Doch dann kommt vielleicht eine Verletzung, ein neuer Trainer und doch dieses eine interessante Angebot. Ist diese Person dann plötzlich nicht mehr loyal, wenn sie einen neuen Weg einschlägt, vielleicht sogar einschlagen muss? Es ist schwierig, bei einem Verein zu bleiben, wenn man nicht bereit ist, auch mal nur eine Nebenrolle einzunehmen.
Auf Ihrem Instagram-Account sieht man, dass Sie sich im New Yorker NBA-Store mit Nowitzki-Trikots eingedeckt haben. Wie viel macht der Faktor Vereinstreue für Sie beim Mythos Nowitzki aus?
Sehr viel. Dirk Nowitzki zählt zu den besten Spielern unserer Zeit, hat alles erreicht – und hätte all das wesentlich einfacher haben können, wäre er zu einem größeren Team gewechselt. Er hat aber immer gesagt, "Dallas ist mein Zuhause, ich will mit diesem Team die Meisterschaft gewinnen". Auch nachdem er das geschafft hat und bei einem anderen Team noch einmal groß hätte abkassieren können, ist er in Dallas geblieben und hat auf eigenes Geld verzichtet, um den Umbruch des Teams zu unterstützen.
Hat Nowitzki denn mehr Dallas oder Dallas Nowitzki gebraucht?
Dallas hat Nowitzki gebraucht, definitiv. Sie haben mit Mark Cuban einen super Besitzer, hatten über die Jahre tolle Trainer, aber Nowitzki war immer die Erscheinung, die alle überstrahlt hat. Er konnte Spiele alleine entscheiden. Nowitzki hätte es mit seinem Talent und seiner Arbeitseinstellung überall zu Erfolg gebracht. Aber Dallas brauchte ihn. Und das wusste er zu schätzen.
Warum lieben vor allem Fußballfans vereinstreue Spieler so sehr?
Ich weiß gar nicht, ob Vereinstreue wirklich so hoch gehangen wird von Fans. Auch Neuzugänge werden immer sehr frenetisch von den Anhängern gefeiert. "Da ist jemand Neues, das ist aufregend, der kommt mit Vorschusslorbeeren zu uns." Was bei Fans immer gut ankommt, sind Spieler, die auch im Verein ausgebildet worden sind. Diese Spieler begleiten Fans von Beginn an, da ist es ganz natürlich, dass sie eine engere Bindung zu ihnen entwickeln.
Wie war es denn bei Ihnen als Jugendlicher? Haben Sie sich eher mit den Talenten aus dem eigenen Nachwuchs identifiziert oder den neuen Superstar angehimmelt, der zwar zwei Jahre Tore am Fließband liefert, dann aber zum nächsten Verein gewechselt ist?
Einen Neuzugang holt man in der Regel, weil er besser ist als die restlichen Spieler auf seiner Position. Hinzu kommt dann in den meisten Fällen noch eine hohe Ablösesumme – und schon haben die Fans ihren neuen Star auserkoren. Bei anderen Spielern schätzen Fans wiederum die Kontinuität, die sie ausstrahlen. Zu wissen, dass eine Achse aus drei, vier Spielern unabhängig der sportlichen Situation über Jahre im Verein bleiben, gibt einem als Fans ein gutes Gefühl.
Bleiben Defensivspieler ihren Teams generell lieber treu? Gladbachs Rekordspieler Berti Vogts war Verteidiger – so wie Sie.
Das hängt mit dem Transfermarkt zusammen. Wenn du als Stürmer konstant Erfolg hast und permanent Tore schießt, flattern immer Angebote von anderen Vereinen herein. Als Verteidiger muss schon viel passieren, dass du Aufmerksamkeit generierst und den Verein wechselst. Selbst wenn du über Jahre Topleistungen abrufst, machst du das, weil du schon längst bei einem Spitzenklub spielst.
Aber auch der Markt verändert sich, was nicht zuletzt Harry Maguires Rekordtransfer für 87 Millionen Euro zu Manchester United im Sommer bewies. Bemerken Sie ein Umdenken in den Vereinen – weg vom populistischen Denken, dass man nur für Torjäger Geld ausgibt? Setzen die Klubs in Ihrer Budgetplanung mehr auf defensive Stabilität?
Auf Dauer wird sich das Denken der Vereine nicht ändern. Trotz allem sind Offensivspieler die größeren Marken, die Spieler, mit denen Vereine durch Merchandise und andere Marketing-Kanäle das meiste Geld wieder in die Kassen spülen. Nehmen wir etwa Virgil van Dijk, der beste Defensivspieler der Welt, der ein unglaubliches Jahr mit Liverpool hinter sich hat: Wie oft wird er in den Medien lobend erwähnt? Wie oft schreibt die Presse über sein Spiel? Am Ende wird doch nur wieder über Einzelaktionen von Messi und Ronaldo berichtet.
Dass nun auch für einzelne Defensivspieler und Torhüter exorbitante Ablösesummen gezahlt werden, liegt in erster Linie am Markt, der das zulässt. Das bedeutet jedoch nicht gleich, dass wir plötzlich gleichberechtigt über Liverpools Alisson, dem besten Torwart der Welt, sprechen. An diese Ausnahmekönner denken wir zu selten, weil wir alle nur die schönen Tore sehen, genießen und vermarkten wollen.
Sie kamen 2006 als 16-Jähriger aus Dresden nach Mönchengladbach. Was war Ihr erster Eindruck vom Verein?
Schon bei meinem ersten Besuch und durch die ersten Gespräche mit Max Eberl, der damals Abteilungsleiter Jugend & Amateure war, merkte ich, dass in Mönchengladbach familienfreundliches und -ähnliches Klima herrscht. Borussia ist ein sehr eng ineinander verwobener Verein, hier sind Profi- und Jugendabteilung noch am selben Ort angesiedelt. Das hat mir sehr imponiert.
Inwiefern haben Sie sich als 16-Jähriger auch mit der Stadt, in der Sie fortan leben sollten, auseinandergesetzt?
Ehrlich gesagt habe ich mich null mit der Stadt Mönchengladbach beschäftigt. Ich habe zuvor fünf Jahre in Dresden gelebt. Eine tolle Stadt, nur: Zu dieser Zeit habe ich kaum etwas von ihr mitbekommen, weil ich fast ausschließlich auf dem Fußballplatz anzutreffen war. Ein Thema wie Lebensqualität beschäftigt mich eher in meinem jetzigen Alter. Mit 16 war mir völlig egal, ob ich nun in Hamburg, München oder Mönchengladbach Fußball spiele – solange der Verein zu mir passte und mir meine Weiterentwicklung gewährleisten konnte.
Das klingt, als hätten Sie sich damals nicht erträumen lassen, dass Sie Ihren 30. Geburtstag als Spieler bei der Borussia begehen würden.
Auf gar keinen Fall. Du stürzt dich mit 16 Jahren ins Ungewisse. Neue Stadt, neuer Verein, du musst dir alles neu erarbeiten. Es überhaupt zu den Profis zu schaffen, war schon ein hochgestecktes Ziel. Ich hätte mir nie vorstellen können, es in Gladbach zu einer solchen Karriere zu schaffen. Umso glücklicher bin ich heute darüber.
Gab es diesen einen Moment, in dem Sie sich bewusst wurden, dass Sie in Mönchengladbach fußballerisch alt werden können?
Das würde ich nicht sagen. Diesen einen Moment gab es nicht, vielmehr war es ein stetiger Prozess, der zu dieser Erkenntnis geführt hat. Ich kam zu den Profis und habe nicht viel gespielt. Gerade in dem Moment, in dem ich mich als Spieler fragte, "Ist das noch das Richtige hier?", und bereits meine Möglichkeiten sondierte, kam mit Lucien Favre ein Trainer zu uns, der auf mich baute. Daraufhin schafften wir es innerhalb kürzester Zeit von der Relegation in den internationalen Wettbewerb. Auch meine ganz persönliche Entwicklung stimmte, sodass ich nicht mehr auf den Gedanken kam, den Verein verlassen zu wollen.
Spüren Sie die besondere Wertschätzung der Gladbacher Fans, die Sie ehrfürchtig "Fußballgott" rufen, auch im Alltag? Und wie sehr würde dieser Ihnen gegenüber aufgebrachte Respekt Ihre Entscheidung beeinflussen, sollte ein lukratives Angebot eines anderen Vereins hineinflattern?
Das würde meine Entscheidung auf jeden Fall beeinflussen, definitiv. Ich versuche, dieses "Fußballgott"-Image so klein wie möglich zu halten, aber natürlich macht es etwas mit einem, wenn Fans einen gar nicht mehr mit dem Namen, sondern nur noch mit diesem Titel ansprechen. Je öfter du mit solchen Situationen konfrontiert wirst, desto mehr verstehst du, dass du den Leuten wirklich etwas bedeutest. Das wegzuwerfen würde mir extrem schwerfallen.
Ein Abschied kommt für Sie also kaum infrage.
Ich bin schon so lange dabei, dass ich weiß, wie schnell es in diesem Geschäft gehen kann. Vielleicht plant der Verein irgendwann anders und dann kommt zeitgleich ein interessantes Angebot herein. Viele Fans denken, man bekommt einen Vertrag, nur weil man schon so lange im Verein ist. Das macht kein Manager der Welt! Da geht es um viel zu viel Geld, als das man jemanden bezahlt, der die gewünschte Leistung nicht bringt. Von daher mache ich mir überhaupt keine Illusionen, was den Verlauf meiner weiteren Karriere angeht. Aber ist auch ganz klar: das alles, was ich in Gladbach habe, durch einen Wechsel wegwerfen? Da frage ich mich schon: wofür?
Auf Schalke haben mit Benedikt Höwedes und Ralf Fährmann zwei Spieler, die seit ihrer Jugend im Verein waren, nach dem Verlust ihres Stammplatzes das Weite gesucht. Wie haben Sie die Situation aus der Entfernung gesehen und eingeschätzt?
Ich war selber fünf Jahre Stammspieler unter Lucien Favre, dann kamen neue Trainer und ich war plötzlich nicht mehr unumstritten, nicht mehr Vizekapitän, musste um meinen Platz im Mannschaftsrat kämpfen. Die Fragen, die Spieler in ähnlichen Situationen sich stellen müssen, sind: Wie sehr verkrafte ich das? Wie sehr bin ich bereit, meine eigenen Erwartungen für den Erfolg des Vereins zu mindern?
Mir hatte Dieter Hecking die klare Ansage gemacht, dass ich nur dritte Wahl in der Innenverteidigung war. Das hätte der Punkt sein können, an dem ich mich von Gladbach verabschiede, aber ich war davon überzeugt, dass ich der Mannschaft auch in dieser Rolle helfen konnte. Wenn du jedoch nicht damit klarkommst, ins zweite Glied zu rücken, nachdem du jahrelang erste Wahl warst, dann musst du den Verein eben verlassen.
Bringen Sie Verständnis für Fans auf, die ehemalige Spieler bei einer Rückkehr als Gegner auspfeifen?
Das werde ich nie verstehen. Ich kann es einfach nicht nachvollziehen, wie ein Marco Reus, ein Mo Dahoud, ein Thorgan Hazard von unseren Fans ausgepfiffen werden können. Diese Spieler haben dem Verein Millionen eingebracht, sowohl als sie hier aktiv waren als auch durch die generierten Ablösesummen. Mir wird diese Praxis auf ewig unverständlich bleiben.
Ihr Vertrag bei der Borussia läuft noch bis Sommer 2021. Aktuell stehen Sie bei 264 Pflichtspielen für den Verein. Sie gehen davon aus, dass Sie die 300 vollmachen werden?
So denke ich mittlerweile nicht mehr. Früher habe ich mir wesentlich offensiver Ziele gesteckt, eines davon war, hundert Bundesliga-Spiele zu machen, ein weiteres, einmal in der Champions League aufzulaufen. Aber diese Zeiten sind vorbei. Mir ist auch nicht mehr wichtig, ob ich 30, 20 oder 10 Spiele pro Saison mache. Ich will ein wichtiger Teil dieser Mannschaft sein, egal, wie meine Rolle dabei aussieht. Solange ich leistungstechnisch mithalten kann und weiter die Wertschätzung aus dem Verein spüre, fühle ich mich superwohl in Gladbach. Und ob ich die 300 dann vollmache, wird sich dann ergeben. Was ich Ihnen aber an dieser Stelle sicher sagen kann: Ich sehe keinen triftigen Grund, diesen Verein noch einmal zu verlassen.
Inwiefern hat diese Veränderung in Ihrem Denken auch mit Verletzungsrückschlägen zu tun?
Ich war quasi drei Jahre am Stück verletzt, immer wieder haben mich Blessuren aus dem Rhythmus geworfen. In dieser Zeit habe ich mich entschieden, dass es mir nicht darum geht, unangefochtener Stammspieler zu sein, sondern um den Verein.
Im Interview mit dem Gladbach-Fanzine "Fohlen-Hautnah" sagten Sie, Hans Meyer habe Ihnen mit auf den Weg gegeben, dass Fußballprofisein die beste Ausbildung für eine Karriere nach der Karriere sei. Wo sehen Sie sich eher – Seitenlinie oder Tribüne? Trainer oder Manager?
Ich sehe mich eher zwischen Büro und Platz pendelnd. Cheftrainer und Sportdirektor sind keine Positionen für mich, ständig in der Öffentlichkeit zu stehen, wäre nichts für mich.
Zum Abschluss würde ich Ihnen gerne folgendes Zitat von Patrick Hermann zeigen:
(lacht) Was soll ich dazu sagen? Patrick haut gerne einmal so emotionale Dinge heraus. In der Kurve zu stehen, kommt für mich jedoch nicht infrage. Ins Stadion zu gehen und Borussia spielen zu sehen, ist etwas, was ich mir unbestritten für die Zeit nach meiner Karriere vorstellen kann. Aber ich betrachte Fußball schon immer eher aus taktischen Aspekten. Mich interessiert eher, wie die Außenverteidiger verschieben, als wie einer den Ball in den Torwinkel knallt. Deswegen wird Patrick wohl ohne mich in die Kurve gehen müssen.