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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Im Visier des Rekordmeisters Wie er die "Fußballwelt auf den Kopf stellt"
Der FC Bayern befindet sich weiter auf der Suche nach einem Nachfolger für Thomas Tuchel. Der Blick geht dabei auch an die Südküste Englands, wo Roberto De Zerbi als Cheftrainer von Brighton den Fußball auf seine Weise revolutioniert.
Der Fußballer Roberto De Zerbi war ein technisch versierter Faulpelz. Eine Art italienische Version von Mario Basler, inklusive Nikotingenuss. Für seinen Jugendklub AC Milan absolvierte er nie einen Einsatz, die meiste Zeit seiner Karriere verbrachte er in Serie B und C. De Zerbi soll einmal gesagt haben, sein Charakter habe es ihm als Spieler schwer gemacht, als Trainer profitiere er von ihm.
Einmal auf der Trainerbank angekommen, arbeitete sich der Lombarde Stück für Stück nach oben. Sein endgültiger Durchbruch gelang ihm mit US Sassuolo, als er mit dem finanziell limitierten Klub aus der Emilia-Romagna die Seria A aufmischte. Darauf folgte ein Aufenthalt bei Shakhtar Donezk, der aufgrund des Krieges in der Ukraine ein jähes Ende nehmen musste.
Kurze Zeit später ging De Zerbi als Nachfolger von Graham Potter zu Brighton & Hove Albion und duplizierte de facto seinen früheren Erfolg bei Sassuolo. Wieder mit einem kleinen Klub, der sich gegen die Großen und Finanzstarken der Zunft behaupten musste. Der Aufschwung der letzten Jahre hat nicht nur durch Verkauf von Spielern Geld in die Kassen gespült, sondern zum Beispiel Pascal Groß, der seit 2017 für Brighton spielt, zu einer Nationalmannschaftskarriere verholfen.
"Er soll die Fußball-Welt weiter auf den Kopf stellen"
Nun mag der eine oder andere Skeptiker mit dem Finger auf die Tabelle der Premier League zeigen. Die "Seagulls" sind lediglich Neunter, mit deutlichem Rückstand auf die Spitzenteams in England. Allerdings ist das allein schon ein Verdienst von De Zerbi, weil Brighton beim Wettrüsten auf der Insel nicht wirklich mitmachen kann oder möchte.
"Ich habe ihm gesagt, dass er die Fußball-Welt einfach weiter auf den Kopf stellen soll. Ich werde es mir aus der Entfernung anschauen. Ich habe so viel Respekt vor dem, was er leistet", sagte Jürgen Klopp nach einem 2:1-Sieg seines Liverpool FC gegen Brighton am vergangenen Sonntag. De Zerbi wird nicht nur bei den Bayern, sondern auch bei den "Reds" als möglicher Klopp-Nachfolger gehandelt.
All das ist möglich, weil der 44-Jährige aus wenig viel macht und zugleich eine besondere Art von Fußball spielen lässt. Der Stil basiert auf hohen Ballbesitzanteilen und einem Spielaufbau, der bewusst tief in der eigenen Hälfte des Spielfeldes stattfindet. De Zerbis Spieler sollen dadurch den Gegner gezielt herauslocken und dazu verleiten, aggressiv auszurücken. Gerade die tiefe Position der eigenen Mittelfeldspieler ist ein Lockelement, wodurch der Gegner hohes Pressing spielen soll. Anschließend soll durch eine schnelle Passabfolge der Ball in die nun offenen Räume vor und hinter der Mittellinie gelangen.
Hoeneß hospitierte bei De Zerbi
Ganz unbekannt ist diese Art von Ballbesitzspiel bei Bundesliga-Fans sicherlich nicht, denn sowohl Sebastian Hoeneß vom VfB Stuttgart als auch Fabian Hürzeler vom FC St. Pauli nehmen deutliche Anleihen am taktischen Konzept von De Zerbi. Hoeneß hat nach seiner Zeit bei der TSG Hoffenheim sogar beim Italiener hospitiert und spricht offen darüber, dass er eine Inspiration für ihn ist.
Die aktuelle Stuttgarter Mannschaft mag von den Einzelspielern her nicht auf Augenhöhe mit Bayern München oder Bayer Leverkusen agieren, kann aber spielerisch trotzdem mithalten. Auch Hoeneß setzt vornehmlich auf Ballbesitz und einen tiefen Spielaufbau mit Waldemar Anton und Hiroki Ito als ersten Impulsgebern.
Zudem lassen sich andere Elemente, die der Offensivstruktur von Brighton ähneln, beim VfB erkennen. So ist beispielsweise Maximilian Mittelstädt als Linksverteidiger selten an der Seitenlinie zu finden, da er eher über die Mitte vorrückt und Chris Führich stattdessen breiter steht. Sowohl Mittelstädt als auch Führich haben es mittlerweile, genauso wie Groß, ins deutsche Nationalteam geschafft. Selbiges gilt für Deniz Undav, der übrigens aktuell von Brighton an Stuttgart ausgeliehen ist.
Bayern wäre ein gefährliches Terrain
Ein ballbesitzlastiger Fußball, der fast durchweg auf spielerische Lösungen ausgerichtet ist, passt natürlich auch zum FC Bayern. Problematisch ist jedoch die defensive Anfälligkeit, die sich bei De Zerbi durchzieht. Die hoch postierte Verteidigung, die der Italiener sehen möchte, verbunden mit einem aggressiven Aufrücken der Außenverteidiger, wenn der Gegner den Ball hat, machte bereits Sassuolo verwundbar. Auch Brighton neigt dazu, dem Gegner viele Freiräume für lange Anspiele zu geben. Bayerns momentane Verteidigung wirkt nicht so stark, als könnte sie in De Zerbis Defensivsystem glänzen.
Hinzu kommt der menschliche Faktor. De Zerbi spricht vielleicht davon, dass ihm sein teils hitzköpfiger Charakter als Trainer helfen würde, aber der Italiener neigt dazu, gelegentlich übers Ziel hinauszuschießen und Spieler regelrecht gegen sich aufzubringen. Ein wenig Aggressivität kann dem Siegeswillen eines Teams förderlich sein, aber gerade in einem komplexen Verein wie dem FC Bayern, wo es auch in der Kabine jede Menge Partikularinteressen gibt, könnte ein "Projekt De Zerbi" ebenso krachend scheitern.
Zumal er auf seiner Visitenkarte bislang noch keine großen Titel stehen hat und deshalb hierzulande wohl ein wenig um Anerkennung und Respekt kämpfen müsste. Was De Zerbi als Taktiker leistet, wissen vielleicht Klopp und einige Fußball-Insider sowie -Analysten zu schätzen, aber nicht unbedingt die breite Öffentlichkeit.
- Analyse von Constantin Eckner