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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Dramatische Szenen am Flughafen Reiseziel Katastrophengebiet: "Wir wissen nicht, was uns erwartet"
Trauer und Tränen am Flughafen Nürnberg: Vor einem Flug nach Istanbul spielen sich dramatische Szenen ab. Zumindest etwas Hoffnung lagert im Frachtraum der Maschine.
Der Flughafen ist eigentlich ein Ort der Vorfreude, der guten Laune. Eigentlich. An diesem Mittwochvormittag aber ist das anders. Was man sieht, sind erschöpfte Gesichter, Tränen, Trauernde.
Es sind dramatische Szenen, die sich hier vor dem Schalter der Turkish Airlines am Albrecht-Dürer-Airport Nürnberg abspielen. Der Linienflug TK 1503 nach Istanbul am Vormittag ist ausgebucht. Mit Passagieren, die ihre Verwandten besuchen wollen. Oder sie zu Grabe tragen müssen.
"Hilfe!", ruft plötzlich jemand laut in die Halle. "Wir brauchen einen Arzt!" Eine Frau mittleren Alters liegt auf dem Boden. Kreislaufkollaps. Menschen halten ihre Beine hoch.
Gökhan Altincik eilt herbei. Der Rettungssanitäter stand nur wenige Meter entfernt. Er war gerade dabei, Pressevertretern zu erklären, dass der Rettungsdienst RKT mit einem fünfköpfigen Trupp in die türkisch-syrische Erdbebenregion aufbricht. Die Zahl der Todesopfer wird in der Türkei und in Syrien mittlerweile auf über 11.000 geschätzt. In Nürnberg ist eine große türkische Community ansässig, die meisten Flieger hier heben gen Türkei ab – und sind immer gut ausgelastet.
Plötzlich hallt lautes Schluchzen aus einer anderen Ecke. Eine Frau hält ein Handy in der Hand, hyperventiliert. Es ist nicht schwer, sich auszumalen, was für eine Nachricht sie gerade erhalten hat. Sie sucht Halt an einer Sitzbank, findet ihn bei Umstehenden, die sie stützen und umarmen.
Gökhan Altincik und seine Kollegen versuchen, sie zu beruhigen. Und er fragt Verantwortliche des Flughafens danach, ob darüber nachgedacht werde, Seelsorger hinzuziehen. Er ahnt wohl, dass Szenen wie diese in den nächsten Tagen keine Ausnahme bleiben.
Was den Rettungssanitäter an seinem Ziel in Adana erwartet? "Wir wissen es nicht", sagt er. Ob sie auf der Straße, in einem Krankenhaus oder woanders eingesetzt werden, das werde sich vor Ort zeigen. Er wisse nur: Dort wird jede Hilfe gebraucht. "Die Not ist so groß, sie greifen nach jeder helfenden Hand, nach jedem Strohhalm." Klar, dass er und seine Kollegen sofort zugesagt haben, als sie einen Tag zuvor das Hilfegesuch der türkischen Botschaft erhielten.
Nun, 24 Stunden später, stehen er und seine Kollegen mit fünf überfrachteten Koffertrolleys vor dem Schalter. Windeln, Notfallkits und Kisten voll mit Medizin wie Schmerzmitteln. Sie planen zunächst einen Aufenthalt von fünf bis sieben Tagen. Wo werden sie unterkommen? "Das wissen wir nicht", antwortet Altincik, der Gesellschafter von RKT ist, einem privaten Rettungsdienstanbieter aus Regensburg. Im Auto, in einem Zelt oder spontan bei Bekannten – da werde sich schon was finden.
Der Regensburger kennt dieses Bild. Vor etwas weniger als einem Jahr ist er hier mit ähnlichem Gepäck an die polnische Grenze aufgebrochen – damals, als es von Nürnberg aus noch Flüge in die Ukraine gab.
Von den erschütternden Szenen in der Check-in-Halle bekommen sie in der Frachthalle weiter hinten nichts mit. Hier keimt vielmehr Hoffnung auf. So viel Hoffnung, wie es in dieser Tragödie eben geben kann. Hakan Gürbey ist Leiter der Frachtabteilung und hilft bei der Verladung der umfangreichen Hilfslieferung. Zusammen mit zwei Mitarbeitern stapelt er die schweren Generatoren-Pakete in einen Wagen – nicht ohne eine vorherige ausgiebige Sicherheitsüberprüfung.
Denn auch palettenweise Stromaggregate werden gleich mit dem Airbus A321 im Frachtraum abheben. Zusätzlich zu den rund 200 Passagieren, die oben in der Maschine Platz finden.
Insgesamt 120 Generatoren werden mit zwei Maschinen in die Katastrophenregion geschickt, von Istanbul geht es weiter nach Gaziantep in Südostanatolien. Die zweite Fuhre sollte eigentlich am Mittwochabend starten, doch der Flug wurde annulliert, wie aus dem Flugplan hervorgeht. Genauso auch die Verbindung in der Nacht.
Die Ditib Ansbach hat die wertvolle Fracht im Wert von rund 175.000 Euro gespendet, zur schnellen Hilfe vor Ort. Wenn alles gutgeht, ist die erste Hilfslieferung am Abend am Zielort. Jedoch: Der Flug hat rund zwei Stunden Verspätung – wegen der Witterungsbedingungen in Istanbul, heißt es.
Er sei froh, dass er helfen könne – beruflich wie privat. Gürbey habe dort Verwandte, die betroffen sind, erzählt er im Gespräch mit t-online. Als der 31-Jährige von den Erdbeben erfahren hat, sei er sofort losgezogen, habe Verbandmaterial und Hygieneartikel gekauft und zwei volle Kisten bei der türkischen Gemeinde um die Ecke abgegeben. Doch: "Es ist nicht genug."
Der Artikel wurde am 9.2.23 um 8.45 Uhr aktualisiert.
- Reporterin vor Ort