Krieg in der Ukraine Kölner Streetworker: "Viele werden als Russen abgestempelt"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Am Donnerstag kam der erste Bus mit ukrainischen Geflüchteten in Köln an. Viele wollen helfen, doch auch Spannungen nehmen zu. Unterwegs in Chorweiler, wo angepackt wird und manche Sorge wächst.
Marta und Varya halten ihre Smartphones fest in den Händen. So oft es geht versuchen sie, mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester in Kiew über die sozialen Medien Informationen auszutauschen. "Aber wenn sie im Schutzkeller sind, haben wir keine Verbindung."
Auch Marta und Varya, die 23-jährigen Zwillinge aus der Ukraine, haben sich zwei Tage lang vor dem russischen Beschuss im Keller versteckt, bis sie zu ihrem Patenonkel in Köln-Chorweiler aufgebrochen sind. Zunächst ging es zwölf Stunden lang mit dem Zug bis Uschgorod, dann 24 Stunden mit dem Bus nach Köln.
An der Grenze zur Slowakei mussten sie allerdings weitere 16 Stunden lang warten, das alles ohne Essen und Schlaf. Das Schlimmste für sie sei, dass ihre Eltern noch in der Heimat sind: "Sie wollen nicht ausreisen."
Der Krieg verdunkelt auch in Köln die Gedanken
An diesem Nachmittag stehen Marta und Varya neben einer der Hochhaus-Burgen nahe dem Pariser Platz, dem Zentrum Chorweilers. Die Sonne sorgt für frühlingshafte Wärme, doch der Krieg in der Ukraine verdunkelt die Gedanken. Nicht nur bei den Flüchtlingen, die in diesen Tagen auch in Chorweiler immer zahlreicher eintreffen.
Vor einem Chorweiler Supermarkt mit osteuropäischen Lebensmitteln spricht eine 62-jährige Frau, die ihren Namen nicht verraten will, über ihre Sorgen. Als Russlanddeutsche sei sie 1996 nach Deutschland gekommen, ihr Großvater habe im Zweiten Weltkrieg für die deutsche Seite gekämpft. "Ich fühle mich deutsch, ich kann nicht sagen, dass ich Russe, Kasache oder Ukrainer bin."
Dennoch habe sie das Gefühl, von der Mehrheitsgesellschaft zunehmend für diesen Krieg mitverantwortlich gemacht zu werden. Sie selbst habe zwar noch keine Anfeindungen erlebt, kenne aber Russlanddeutsche, denen es so ergangen sei. Die Stimmung habe sich gewandelt. Dabei habe sie mit dem Krieg nichts zu tun, sei bisher noch nicht einmal politisch gewesen: "Ich will meinen Frieden haben, ich will, dass meine Enkel ohne Krieg aufwachsen."
"Kölsche Jungs und Mädels statt Russen"
Roman Friedrich ist Streetworker in Chorweiler. Bis zu 12.000 Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion lebten allein im Bezirk Chorweiler, sagt der 46-Jährige, der ebenfalls 1996 mit seinen Eltern aus Russland nach Deutschland kam. Darunter seien auch Menschen mit ukrainischen Wurzeln.
"Wir haben momentan so ein Phänomen, dass viele Menschen, die einen Bezug zu Russland haben, unter Generalverdacht stehen und als Russen abgestempelt werden", so Roman Friedrich. Es gebe sogar ukrainische Kinder, die von Klassenkameraden undifferenziert als Russen betrachtet würden. Dabei könnten sie noch nicht mal Russisch sprechen, sondern seien als "kölsche Jungs und Mädels in Deutschland aufgewachsen". Es fehle an kultureller Kompetenz, vor allem unter Deutschen.
Ein 27-jähriger Student aus Chorweiler mit familiären Wurzeln sowohl in der Ukraine als auch in Russland erlebt auch in seinem Freundeskreis eine zunehmende Spaltung in verschiedene Lager. "Viele reden nicht mehr miteinander oder sie beleidigen sich, das ist gefährlich."
"Ich bin auf der Seite, die dafür sorgt, dass der Krieg aufhört"
Es sei jetzt aber nicht die Zeit der Meinungsmache, sondern der konkreten Hilfe für die Flüchtlinge. Deshalb engagiere er sich ehrenamtlich für die Caritas und verschiedene Kirchengemeinden, organisiere Unterkünfte und Hilfsgüter wie Medizin, Kleidung und Windeln. Er selbst fühle sich keiner Kriegspartei zugehörig: "Ich bin auf der Seite, die dafür sorgt, dass der Krieg aufhört."
Auch Daniel Gora aus dem Stadtteil Seeberg will seinen Teil beitragen. Der 25-jährige Student spricht Polnisch und Russisch, aktuell arbeite er als Dolmetscher für die Landsmannschaft der Oberschlesier aus Ratingen, die Konvois mit Hilfsgütern an die ukrainisch-polnische Grenze organisiere.
Roman Friedrich sieht derzeit eine wichtige Aufgabe darin, Ukrainer und Russlanddeutsche zusammenzubringen. Anfeindungen gebe es zwar nicht: "Wir leben schon seit Jahrzehnten zusammen, unsere Kinder gehen in die gleichen Sportvereine, Kirchen, Synagogen, da gibt es keinen Unterschied."
Oft eigene Sichtweisen auf Konflikt
Es gelte aber aufzupassen, dass Radikale beider Seiten nicht die Situation nutzten, um die beiden Völker zu spalten. Deshalb enthält sich Roman Friedrich jeder persönlichen Wertung zum Krieg – seine Neutralität gebe ihm die Möglichkeit, mit allen Menschen zu sprechen: "Das ist ein hoher Wert gerade in der heutigen Zeit."
Etliche Einwohner Chorweilers seien aus ganz anderen Gründen vorsichtig: "Viele haben persönliche Beziehungen nach Russland", sagt Roman Friedrich. Sie fürchteten Repressionen, falls sie wieder ins Land einreisen und äußerten sich deshalb nicht öffentlich zum Krieg.
"Die russischen Behörden haben gerade einen Erlass rausgegeben, wonach die öffentliche Unterstützung der feindlichen Seite als Staatsverrat definiert wird, die Leute können bis zu 20 Jahre Haft bekommen." Unterm Strich sei die Situation sehr komplex: Sowohl Ukrainer als auch Russen hätten oft ihre ganz eigenen Sichtweisen auf den Konflikt.
"Alles wird gut"
Auch für Marta und Varya gibt es kein Schwarz oder Weiß. Sie hätten in Russland Verwandte, die mit ihnen mitfühlten, sagen sie. Andere Freunde wiederum gingen unsensibel mit dem Thema um und verbreiteten über Instagram ihre Sympathien für Wladimir Putin.
Marta und Varya, die in der Ukraine eine Wirtschaftshochschule besuchten, wollen jetzt so gut es geht Ruhe finden. Dass sie allzu lange in Deutschland bleiben, glauben sie nicht. Sie sind der festen Ansicht, dass der Krieg bald zu Ende ist und es in ihrer Heimat danach noch besser wird als zuvor: "Alles wird gut."
- Gespräche vor Ort