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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Unterwegs mit einem Tanzcorps "Müssen auch auf einem Bierdeckel tanzen können"

Die Karnevalssession ist in vollem Gange. Für die Tänzer der Kölner Karnevalscorps ist das die stressigste Zeit des Jahres – Rückenschmerzen inklusive.
Ein Samstagnachmittag im Januar, 17.20 Uhr, in einer stickigen Halle in Erftstadt-Gymnich: Hunderte kostümierte Frauen tanzen zwischen und auf Biertischen. Der Geruch von Kölsch liegt in der Luft, aus den Boxen dröhnt "Ja das geht ooooho, oho, oho, ohoooo, für die Iwigkeit!". Die Menge klatscht im Takt, während auf der kleinen Bühne ein Mädchen in rot-weißem Kleid pendelartig von rechts nach links in die Arme ihrer Tanzpartner schwingt. Andere lassen sich meterhoch in die Luft katapultieren, drehen Salti und formen mehrstöckige Pyramiden unter bedrohlich niedrigen Deckenbalken.
20 Minuten voller Energie, dann tosender Applaus. Die Gruppe verschwindet hinter der Bühne, springt draußen vor der Tür in ihren Bus, der schon bereitsteht. Der nächste Auftritt wartet bereits. Vier Auftritte stehen heute für das Tanzcorps Colonia Rut Wiess an. Tänzerin Miriam Weyers sagt: "Das ist für uns noch Ruhe." Denn ab Februar seien sie fast täglich unterwegs. Ihre Bühnenkollegin Simone Franzen bestätigt: "Ich habe meinen Freunden schon gesagt, dass ich erst ab Mitte März wieder Zeit habe." Franzen bildet zusammen mit Tanzoffizier Tim Tonat das Ehrentanzpaar des Corps. Sie sind die Aushängeschilder des Vereins, für die Koordination der Tänzer zuständig und gehen als professionelle Vorbilder voran.
Kölner Tanzgruppen im Karneval: Von Dorfhalle bis Arena
Seit 16.30 Uhr sind die 34 Tänzer und Tänzerinnen an diesem Tag unterwegs. Am Startpunkt in Bocklemünd richten die Tänzerinnen noch schnell Frisuren, tragen Make-up auf und besprechen Hebefiguren. Zwischen aufgeregtes Stimmengewirr mischen sich leise Klagen über Rückenschmerzen oder Prellungen. Doch die Vorfreude überwiegt. Die Bandbreite der Bühnen ist enorm: Von kleinen Dorfsitzungen mit 100 Gästen bis hin zur "Lachenden Kölnarena" in der Kölner Lanxess Arena mit bis zu 20.000 feiernden Jecken ist an diesem Tag alles dabei.
Doch egal, ob kleine Halle oder große Bühne, die Energie der Gruppe bleibt die gleiche. "In kleinen Locations ist es teilweise sogar lauter als in der Arena", sagt Simone Franzen. Durch den Vereinsbus dröhnt Karnevalsmusik, die Stimmung ist ausgelassen.
Routiniert steigen die 17 Tanzpaare im Alter von 18 bis 45 Jahren am Ziel aus dem Bus, manche rauchen noch schnell eine Zigarette und begrüßen herzlich die vorangegangene Tanzgruppe. Von Konkurrenzkampf keine Spur. "Hier ist Friede, Freude, Eierkuchen", bestätigt Udo Holzberg, Betreuer der Gruppe. Viele Tänzerinnen und Tänzer kennen sich aus vorherigen Formationen oder sind zu anderen Vereinen gewechselt. Das nehme man sich nicht krumm. Dann geht alles ganz schnell: Tanzoffizier Tim Tonat prüft die Bühne, gibt den Tänzern in der Umkleide letzte Anweisungen. Spontan muss die Choreografie umgestellt werden – ein Tänzer ist krank. Ein Schlachtruf hallt durch die Umkleide.
Mehr als nur Musik und "Beinchenheben"
Der Auftritt beginnt. Schnell zeigt sich: Wer glaubt, Karnevalstanz sei nur Schunkeln und "Beinchenheben", irrt. "Das Einzige, was das Tanzen mit Karneval zu tun hat, ist die Uniform und die Musik, der Rest ist Leistungssport", betont Wolfgang Brock, Gründer des Vereins. Mit akrobatischen Hebungen und waghalsigen Sprüngen fesseln die Tänzer das Publikum. Männer schleudern ihre Partnerinnen meterhoch in die Luft, fangen sie sicher wieder auf. Angst? Fehlanzeige. "Vertrauen ist die Basis. Wenn das nicht da ist, kannst du es vergessen", sagt Tänzerin Weyers.
Dass Karnevalstanz Leistungssport ist, zeigt sich auch in körperlichen Beschwerden. Nach dem Auftritt hält sich ein Tänzer die Hand, sein Daumen schmerzt. Der Finger eines anderen Tänzers blutet. Doch solche Blessuren sind Alltag und werden einfach weggelächelt. Die Leidenschaft für den Sport besiegt die Schmerzen.
Auch die Bühnenverhältnisse sind oft unberechenbar. Vor allem die kleinen Bühnen stellen die 34 Tänzer vor unerwartete Herausforderungen. So hat Simone Franzen Schwierigkeiten, die Spitze der dreistöckigen Pyramide zu erklimmen. Ein Lüftungsschacht unter der Decke versperrt ihr den Weg. Sie reagiert jedoch blitzschnell, stützt sich geschickt ab und springt dann mutig in die Arme ihrer Tanzkollegen. "Immerhin haben wir dieses Problem in der Lanxess Arena gleich nicht", sagt sie lachend. Ob große oder kleine Bühne – für die erfahrenen Tänzer von Colonia Rut Wiess ist das kein Problem. Die Männer wissen genau, wie hoch sie ihre Tanzpartnerin werfen können. "Man sagt in Köln: Ein Tanzcorps ist dann gut, wenn es auf einem Bierdeckel tanzen kann", scherzt Gründer Brock.
Ingwershots zum Durchhalten
Nach zwei erfolgreichen Auftritten folgt das Highlight des Tages: die "Lachende Kölnarena". Hier zählt jede Sekunde. Deshalb plant Gründer Wolfgang Brock den gesamten Auftrittsplan akribisch um die Termine der "Lachenden Kölnarena" herum, berücksichtigt mögliche Verzögerungen wie zum Beispiel Staus. Doch zu viel Leerlauf zwischen den Auftritten ist ebenso problematisch. "Dann werden sie müde. Drei Auftritte sind ideal, vier das Maximum. Die Mädels sind ja fast die ganze Zeit in der Luft", sagt er. Tänzerin Cathrin verrät, wie sie das durchhält: "Ingwershots!"
Auch feste Motivationsrituale helfen, die Energie hochzuhalten. Im Bus klappern Tupperdosen, Tüten rascheln. Zeit für eine kurze Stärkung. Die Truppe wirkt entspannt, erzählt, lacht. "Wir waren sogar schon zusammen im Urlaub", sagt Simone Franzen. Einige haben hier nicht nur Freundschaften, sondern auch die große Liebe gefunden.
Mit ausreichend Puffer erreichen sie schließlich die Lanxess Arena. Noch bleibt Zeit für einen kurzen Snack im Cateringbereich, wo sie auf Karnevalsgrößen wie Marita Köllner und Peter Brings treffen. Dann geht es auf die große Bühne. Beruf, Privatleben, Training, Auftritte – alles muss unter einen Hut gebracht werden. Besonders für Schichtarbeiter ist das eine Herausforderung. Trotz des immensen Aufwands gibt es keine finanzielle Entlohnung. Die Tänzer tanzen aus purer Leidenschaft für den Kölner Karneval. Und so steigen sie erschöpft, aber glücklich nach der Show in den Bus.
- Eigene Recherche