Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Solidaraktion für Obdachlose "Was mir passiert ist, kann jedem passieren"
Am Wochenende verbrachten Kölnerinnen und Kölner drei Nächte mit Obdachlosen auf der Straße. Ziel der Solidaritätsaktion sei es, Menschen kennenzulernen und ihnen weiterzuhelfen, so Journalist Günter Wallraff.
Freitagabend vor dem Kölner Hauptbahnhof. Das Thermometer auf dem windigen Platz unterhalb des Doms zeigt vier Grad. Reisende eilen im Nieselregen zu den Zügen, Gruppen gut gelaunter junger Leute strömen in entgegengesetzter Richtung zum Weihnachtsmarkt in der Altstadt.
Vor einem weißen Zelt verteilen Mitglieder der ehrenamtlichen Obdachlosenhilfe "Helping Hands Cologne" heiße Suppe und Brot an Menschen, die kein Zuhause haben. Ihr "Heim" sind Hauseingänge und Brückenunterführungen. Aktuell sind über 7.000 Menschen in Köln als wohnungslos gemeldet. Hunderte leben auf dem Asphalt.
Köln: "Arsch huh" will mit Spenden Obdachlosenstation einrichten
Der Verein hat gemeinsam mit der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM) zu einer außergewöhnlichen Solidaritätsaktion aufgerufen. Unter dem Motto "Eine Nacht mit Obdachlosen auf der Straße" sollen sich Kölnerinnen und Kölner ein Bild davon machen, wie es ist, im Winter ohne Obdach zu sein.
"Alles verlore – kein Wonnung – kein Arbeit – kei Jeld / Mer nennt se nur Penner – verachtet vum Ress der Welt." Mit dem neu eingespielten Höhner-Lied "Alles verlore" startet die "Arsch huh" AG, mit dabei Ex-Höhner Hannes Schöner, eine Spendenaktion für die Schaffung einer Obdachlosenstation auf der Schäl Sick nach dem Vorbild des linksrheinischen Gulliver. Eine solche Station gibt es bisher im rechtsrheinischen Köln nicht.
Die AG "Arsch huh" ist neben ihrem Engagement gegen Neonazis und Rassismus nicht zuletzt für ihren Einsatz für eine solidarische Stadtgesellschaft bekannt. "Die neue Obdachlosenstation in Mülheim soll auch ein Beratungsangebot enthalten, um den Menschen aus der Obdachlosigkeit zu helfen oder bei drohender Obdachlosigkeit diese noch zu verhindern", sagt Sprecher Hermann Rheindorf.
"Ein Recht auf Würde und Stadt"
Für die Linderung der dringendsten Not fordert das Aktionsbündnis abschließbare Einzelzimmer für alle Obdachlosen mit 24-Stunden-Aufenthalt, Corona-Impfung, ein Wärmezelt in der Innenstadt, ein städtisches Sofortbauprogramm von hundert Wohnungen und ein städtisches Programm zur Überwindung der Obdachlosigkeit bis 2030.
Am offenen Mikrofon kritisiert Rainer Kippe vom SSM die Stadt Köln: "Hier in dieser Stadt werden Hunderte Millionen Euro für prächtige Projekte ausgegeben. Eine neue Oper wird gebaut. Aber hier ist kein Geld da, um so viel zu bauen, dass hier jeder eine Wohnung hat."
Hans Mörtter, Pfarrer der Lutherkirche, ruft dazu auf, der Stadt Druck zu machen: "Obdachlose sind Menschen, die ein Recht auf Würde, Aufmerksamkeit und ein Recht auf Stadt haben und nicht auf Stadtrand."
Betroffene erzählen: "Was mir passiert ist, kann jedem passieren."
Positive Nachrichten überbringt Mark Oette, Chefarzt des Severinsklösterchens. Sein am letzten Rosenmontag gegründeter Verein "Arche für Obdachlose" hat bereits 400.000 Euro Spendengelder gesammelt. Der Facharzt für Infektiologie will eine Praxis für Obdachlose eröffnen.
Auch Obdachlose selbst erzählen auf und vor der Bühne von ihren Erfahrungen. Dagmar, eine studierte Medizinerin, stürzte nach einem Schicksalsschlag herb ab und lebt seit Jahren auf der Straße. "Was mir passiert ist, kann jedem passieren", warnt sie.
Stefan erlitt im vergangenen Januar bei nächtlichen Minusgraden an der Philharmonie mehrere Erfrierungen: "Im Krankenhaus wollte man mir die Zehe amputieren." Bis zum März 2022 ist er in einem Hostel am Dom untergekommen. "Wir haben dort für die Wintermonate 24 abschließbare Zimmer angemietet", erzählt Nicole Freyaldenhoven von "Helping Hands Cologne".
Günter Wallraff bezeichnet Aktion als "symbolisch"
Zu den prominenten Unterstützern der Solidaritätsaktion gehören der Kabarettist Jürgen Becker und der Journalist Günter Wallraff. "Unsere Übernachtung hier ist reine Symbolik, die darf man nicht überwerten. Aber so lernen wir Menschen kennen, denen wir nahe sind und denen wir weiterhelfen können. Wir sollten nicht nur große Aktionen machen, sondern einzelnen Menschen ganz konkret helfen", sagt Wallraff, der im Winter 2008 selbst unter Obdachlosen gelebt und darüber eine Reportage geschrieben hat.
Jürgen Becker wirft der Stadt eine falsche Wohnungsbaupolitik vor: "Die Immobilien- und Mietpreise sind das, was früher die Stadtmauer war. Sie entscheiden, wer rein darf und wer nicht." So gebe es heute kaum noch städtische Immobilien, fast alle seien privatisiert worden. "Der Markt regelt gar nichts", so Becker. "In Zukunft gibt es in Köln für Geringverdiener nur noch drei städtische Immobilien: Die Hohenzollernbrücke, die Severinsbrücke und die Deutzer Brücke."
Jürgen Becker fordert Bau neuer Sozialwohnungen
Becker fordert, Immobiliengewinne stark zu besteuern und das Geld der Allgemeinheit zurückzugeben. "Das wäre gerecht." Und: "Wir müssen viele neue Sozialwohnungen bauen und zwar in bester Lage."
Einen konkreten Erfolg kann die "symbolische Aktion" von "Helping Hands Cologne" und SSM am Ende dennoch verbuchen: Günter Wallraff bringt in der Nacht von Freitag auf Samstag einen rumänischen Wanderarbeiter in einem Aparthotel am Dom unter. "Der Mann wurde mit einem Stundenlohn von 4 Euro ausgebeutet und landete nach der Kündigung auf der Straße." Wallraff will sich nun einige Monate um ihn kümmern.
Spenden für die Obdachlosenstation in Mülheim:
Spendenkonto: Arsch Huh e.V.
IBAN: DE77370501980022222020
Stichwort: Alles verlore
- Eigene Recherchen