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Zum journalistischen Leitbild von t-online.77 Tage nach der Flut Der Schutt verschwindet, die Erinnerung bleibt
Der Unrat ist weggeschafft, der Wiederaufbau kann beginnen. Mehr als zwei Monate nach dem Hochwasser sind die Menschen in Erftstadt-Blessem noch immer pausenlos mit den Folgen beschäftigt. Die Erinnerungen an die Flut bleiben.
Natürlich kann das Wasser jederzeit wieder kommen. Vor allem nachts. Neulich erst hat Maria Dunkel geträumt, dass der Nachbar über das Dach geklettert kommt, um sie und ihren Mann vor dem Wasser zu retten. "Das war albtraummäßig", sagt die 67-Jährige bei mildem Herbstwetter am Holztisch in ihrem Garten. Dort, wo Mitte Juli der reale Albtraum seinen Lauf nahm.
Mehr als zehn Wochen ist die Flutkatastrophe von Erftstadt-Blessem nun her. Die Wassermassen haben die nahegelegene Kiesgrube zu einem riesigen, zehn Meter tiefen Krater ausfransen lassen. Blessem am Abgrund – dieses Foto ging um die Welt. Die Erosion machte erst halt, als sie einen Teil der Radmacherstraße aufgefressen hatte. Seitdem befinden sich die Bewohner in einem ständigen Krisenmodus.
"Wir dachten, das Wasser fließt wieder in die Erft"
Als das Wasser durch ihren Garten floss, saßen Maria Dunkel und ihr Mann Ulrich in ihrem Wohnzimmer im ersten Stock und konnten den Blick nicht abwenden von dem aggressiven Naturschauspiel vor ihrer Haustür. Von allen Seiten sei das Wasser auf ihr Grundstück zugeströmt, erzählt das Ehepaar. Das Haus an der Radmacherstraße 8, in dem Ulrich Dunkel seit seiner Geburt lebt, war zu einer Insel geworden. "Das Wasser brodelte richtig", sagt der 73-Jährige. Für ihn klang es, als wollte es sagen: "Ich kriege euch alle."
Dass die Abbruchkante immer näher rückte, konnten die Dunkels von ihrem Wohnzimmer aus zunächst nicht sehen. Die Häuser gegenüber verdeckten, dass sich dahinter eine ganze Landschaft auflöste. "Wir dachten, das Wasser fließt hinten wieder in die Erft", sagt Maria Dunkel. Tat es aber nicht.
Vor einem Monat haben wir bereits aus Erftstadt-Blessem berichtet: Ein Monat nach der Flutkatastrophe: "Die ganze Existenz ist weg"
Erst als in den frühen Morgenstunden des 16. Juli mehrere der Häuser gegenüber mit großem Krach einstürzten, wurde den Dunkels die Dimension der Katastrophe klar. Zehn Meter hätten zu diesem Zeitpunkt noch bis zum Abgrund gefehlt, berichtet Ulrich Dunkel: "Dann wären wir dran gewesen." Beide rafften panisch ein paar Dinge zusammen und flüchteten durch das Wasser im Garten bis zur Parallelstraße, wo sie von der Bundeswehr aufgelesen wurden.
Der Unrat türmt sich nur noch am Ortseingang
Es hat sich viel getan seitdem in Erftstadt-Blessem. Die vielen kleinen Berge von verschlammtem Unrat, die lange das Straßenbild prägten, sind verschwunden. Der Schutt türmt sich mittlerweile auf einem zentralen Abladeplatz am Ortseingang. Freiwillige, aber auch Polizisten, hatten in den ersten Wochen in ihrer Freizeit geholfen, Wohnungen leer zu räumen und nassen Putz von den Wänden zu hämmern. Essen und Getränke wurden in Bollerwagen durch die Straßen gezogen. Doch auch sie sind kaum noch zu sehen. Es ist ruhiger geworden im Ortskern. Wobei hinter den Fassaden die Sorgen bleiben.
Wenn es überhaupt noch eine Fassade gibt. Thomas Hillebrandt läuft über die Reste der Grundmauern seines Hauses. "Da war der Keller, hier war der Eingang, da war das Bad, da die Wohnküche", sagt er. Jetzt liegen auf dem Grundstück an der Radmacherstraße 12 nur noch ein paar Steine und Fliesen. Thomas Hillebrandt war oft vor Ort, als sein Haus, das er vermietet hatte, vor wenigen Wochen nach und nach abgetragen wurde. Erst mit dem Bagger, dann sorgfältig mit der Hand, um das Nachbargebäude nicht zu beschädigen.
Die Abbruchkante hatte die mehr als 100 Jahre alte Immobilie zur Hälfte unterspült und unbewohnbar gemacht. Auch einige Häuser daneben wurden irreparabel beschädigt. "Das war echte Trauerarbeit", sagt der 61-Jährige über die "Beerdigung" seines Hauses, das er erst kurz zuvor mit viel Geld und Liebe ausgebaut hatte. Nur die Hausnummer ist ihm geblieben.
Neuanfang an der Abbruchkante
Jetzt solle wieder "Leben in die Bude" kommen, sagt Hillebrandt: "Wir waren zwei Monate lang im Reaktionsmodus, jetzt sind wir im Aktionsmodus." Mittlerweile habe es ein erstes Gespräch mit der Stadtverwaltung gegeben. Denn Hillebrandt will auf seinem Grundstück einen Neuanfang wagen.
Wie schnell und unkompliziert das Loch in der Radmacherstraße mit Sand aufgefüllt wurde, hat den 61-Jährigen überrascht. Im neuen Boden liegen sogar zwei dicke Rohre, durch die künftig Regenwasser in den großen Krater fließen soll. Geplant sei, ihn zu einem "riesigen Wasserrückhaltebecken" auszubauen, so Hillebrandt: "Deswegen wird das hier sicherer sein als je zuvor."
Doch ob es auch mit seinem Hausbau so zügig vorangeht, da ist sich der Wissenschaftsjournalist nicht ganz sicher. Aus statischen Gründen müsse der Neubau sechs Meter nach hinten versetzt werden. Die Frage, ob er an neuer Stelle in alter Größe wieder aufbauen dürfe, sei jedoch noch nicht geklärt.
48 Seiten Antrag auf finanzielle Hilfen, aber auch unbürokratische Hilfe vom Elektriker
Die Wiederherstellung von Erftstadt-Blessem ist mühsam und kompliziert. Manchmal ärgerlich kompliziert. Nachdem vier Wochen lang unklar war, ob das Haus von Maria und Ulrich Dunkel standsicher ist, durften sie zwar schließlich zurückkehren. Doch ohne Unterstützung wären sie immer wieder aufgeschmissen. Den 48-seitigen Antrag auf finanzielle Hilfen aus dem Wiederaufbaufonds des Bundes konnten sie nur zusammen mit ihrem Sohn ausfüllen. Hilfe von der Stadt habe es aus Gründen des Datenschutzes nicht gegeben. Überwiesen sei allerdings noch nichts: "Wir müssen viel Geld vorstrecken", so Ulrich Dunkel. Der Schaden liege bei 86.000 Euro, eine Elementarversicherung hätten sie nicht.
Auch im Keller des Ehepaars wird klar, dass der Weg zu einem normalen Alltag noch weit ist. An einer Rohbauwand steht Jörg Volkmann und arbeitet an einem Kabel. "Im Grunde ist das eine komplette Neuinstallation", sagt der Elektriker aus Köln, der jeden Samstag kommt, um die Haustechnik wieder aufzubauen. Ohne Bezahlung. Nach einem Fernsehbericht bot er den Dunkels an, sich um die Elektrik kümmern: "Das ist sinnvoller, als Geld zu spenden", sagt der 61-Jährige, der eigentlich angestellter Haustechniker ist: "Handwerker kriegt man derzeit nicht, auch nicht für Geld."
Mittlerweile hat Jörg Volkmann schon vieles wieder in Gang gesetzt. Im Erdgeschoss, dort, wo mal eine Küche und ein Esszimmer waren, laufen die Bautrockner auf Hochtouren. Die neue Heizungstherme im Keller ist bestellt, aber noch nicht geliefert. Ein kleiner Elektroofen sorgt bis dahin im unbeschädigten ersten Stock für ein wenig Wärme im Wohnzimmer. "Ich hoffe, dass die Therme bald kommt", sagt Maria Dunkel: "Es wird kalt."
Erst Corona, dann das Wasser
Subramanium Kaleendrarajah steht an seinem Pizzaofen und zeigt mit der Hand, wie hoch das Wasser stand. Das "Blessemer Eck" an der Frauenthaler Straße 109 war mal seine Existenz, nun ist es ein Rohbau. Die Kegelbahn, die Theke, das Mobiliar – alles unbrauchbar geworden und ausgeräumt. Im Keller habe das Wasser Lebensmittel im Wert von 10.000 Euro vernichtet, sagt der Betreiber des Restaurants. Auch die neue Küche, die er während der Pandemie anschaffte, um sich mit einem Pizzadienst über Wasser zu halten, ist zerstört.
22.000 Euro hätten ihn die Geräte gekostet, insgesamt habe er viel mehr investiert. Die Versicherung decke den Schaden nicht ab und außer einer Soforthilfe von 5.000 Euro habe er bisher keine Unterstützung bekommen. Ein Antrag laufe noch. "Erst Corona, dann sieben Monate zu, dann kommt das Wasser", sagt der 56-Jährige. Er lacht viel, aber gut geht es dem Vater von vier Kindern nicht. Nachts könne er nicht schlafen. Mittlerweile habe er einen Job als Lkw-Fahrer für eine Bäckerei angenommen, um Geld zu verdienen: "Ich muss leben."
Die Ziele unterscheiden sich: Subramanium Kaleendrarajah will das Blessemer Eck eines Tages wieder eröffnen, Thomas Hillebrandt Ende kommenden Jahres auf sein neues Haus anstoßen. Maria und Ulrich Dunkel wollen bald Goldene Hochzeit feiern. Die bösen Erinnerungen an die Flut eint die Blessemer: "Das nehmen wir mit ins Grab", sagt Ulrich Dunkel am Tisch im Garten.
- Gespräche und Beobachtungen vor Ort