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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sester-Enkel braut selbst Brauer bringt ausgestorbenen Kölner Bierstil zurück

Kölsch ist natürlich das bekannte Bier aus Köln. Ein anderer Braustil aus der Domstadt aber ist in Vergessenheit geraten – bis Paul Nolte ihn wiederbelebte.
Die 1920er Jahre sind in Köln eine Epoche der Veränderungen. Die Stadt erholt sich vom Ersten Weltkrieg, langsam rücken die britischen Besatzungssoldaten ab. Der Schrecken des Ersten Weltkrieges weicht Stück für Stück der Lebenslust der Kölner. In der Stadt wird ein erster Rosenmontagszug improvisiert, es beginnen die "wilden Zwanzigerjahre": Kunst, Kultur und Architektur erleben einen Aufschwung.
Ähnlich groß wie die Aufbruchsstimmung ist auch die Biervielfalt. Damals stellt Hermann Sester in seiner Brauerei in Ehrenfeld nicht nur das gleichnamige Kölsch her, sondern auch Pils. Sogar Altbier steht bei Familie Sester im Portfolio – hergestellt in einer Brauerei in Krefeld. Und Hermann Sester beginnt, einen weiteren Bierstil zu brauen: das Cristall.
Siegeszug des Kölsch setzt dem Cristall ein Ende
Ziemlich genau 100 Jahre später sitzt Sesters Enkel Paul Nolte in einem hübschen Hinterhof-Biergarten in Ehrenfeld. Auf dem Tisch vor ihm steht seine eigene Version des Cristall-Bieres von damals. Der 36-Jährige ist ein Risiko eingegangen: Er hat 2020 Nolte Bier gegründet, das Cristall wiederbelebt und stellt sich mit seinem Produkt der Übermacht des Kölschs entgegen. Nolte ist die einzige Brauer in ganz Köln, der den Bierstil braut.
"Ich möchte den Familiengedanken aufgreifen", sagt Nolte im Gespräch mit t-online. "Und ich finde es herausfordernd von meinem Großvater, dass er nach dem Krieg den Mut hatte, unterschiedliche Dinge auszuprobieren." Damals lohnte sich der Mut – Cristall fand in Köln seinen Platz zwischen Kölsch, Wiess und Pils.
Doch mit dem Siegeszug des Kölsch gerieten Cristall und andere Bierstile in den 70er Jahren aufs Abstellgleis. "Kölsch ist wie das Reinheitsgebot ein wahnsinnig gutes Marketinginstrument", sagt Nolte. "Köln steht für Kölsch, ich trinke es selbst sehr gerne. Es hat den damaligen Geschmack einfach gut getroffen. Und dann haben sich die Brauereien untereinander verständigt, dass das der richtige Weg sei."
Cristall ist auch bei Düsseldorfern beliebt
Die Ursprünge des Cristall-Biers sind heute nur noch schwer nachzuvollziehen. Nolte erschloss sich einen Teil über alte Sester-Etiketten. Der 36-Jährige studierte Sudprotokolle und Rohstoffbücher aus der Zeit seines Großvaters – und fand heraus, dass es sich bei Cristall nicht um Weizen, sondern um Lagerbier handelt.
"Ich musste erst einmal nachvollziehen, welche Gerste fürs Bier verwendet wird", sagt Nolte. "Dann musste ich das Wasser von damals analysieren. Wie war die Wasserhärte? Das kann man reproduzieren, indem man das Wasser mit Salzen versetzt", erklärt er. "Wann machst du welchen Schritt? Wie lange lässt du es lagern? Das waren die weiteren Fragen." Schließlich hieß es: Brauen und eine eigene Version schaffen. Denn einen geschmacklichen Vergleich zu damals hat Nolte nicht.

Im Gegensatz zum obergärigen Kölsch ist Cristall ein untergäriges Bier. Das bedeutet, dass die enthaltene Hefe niedrigere Temperaturen zum Gären benötigt. "Cristall hat die Süffigkeit eines Hellen und die Spritzigkeit eines Pils. Es ist ein sehr bekömmliches Bier", beschreibt Nolte den Geschmack. "Düsseldorfer trinken es übrigens auch sehr gerne", fügt er lachend hinzu.
Bier wurde mit Pferdekutschen transportiert
Die Leidenschaft fürs Brauen liegt in Paul Noltes Familie. Denn nicht nur sein Opa Hermann Sester stellte Bier her. Gegründet wurde die Sester-Brauerei bereits im Jahr 1805 von Wilhelm Sester. Sie prägte die Identität der Stadt, weil sie das Bier mit Pferdekutschen ausfuhr. Eingefleischten Kölnern ist der Werbespruch "Trink Sester mein Bester" noch ein Begriff. 1995 verkaufte Noltes Mutter die Brauerei, weil in dieser Generation niemand das Unternehmen weiterführen wollte.
Ihr Sohn hat die Familientradition wieder aufgegriffen: "Ich bin die Generation, die die Leidenschaft und das Brauen noch in den Genen hat", sagt Paul Nolte. Das erste Praktikum in einer Brauerei absolvierte er mit zwölf Jahren bei Sünner. Nach seinem BWL-Studium arbeitete er mehrere Jahre beim weltweit größten Braukonzern Anheuser-Busch InBev. Er machte seinen Brau- und Malzmeister an der Doemens Akademie bei München und ist geprüfter Biersommelier.
Nolte hätte es statt Cristall auch mit Kölsch versuchen können, aber: "Es ist die Herausforderung, die man sich selbst setzt", sagt der 36-Jährige. "Ein neues Bier auf den Markt zu bringen, ist auf jeden Fall mit einer Ideologie befallen."
Opa ist auf Kronkorken verewigt
Inzwischen wird Nolte in hippen Burgerläden, urigen Eckkneipen, Craftbeer-Spots und Gastronomien im Rheinland ausgeschenkt. Klinken werde er dennoch weiter putzen, sagt der Braumeister. Er sieht sich mit seinem speziellen Bierstil auf dem richtigen Weg und will in Kürze auch den Markt für alkoholfreie Biere bedienen.
Zwei Personen sind ihm dabei eine besondere Hilfe: seine Frau Elisabeth – die sich um die Vermarktung und Gestaltung kümmert – und sein Großvater Hermann Sester. Zwar habe dieser nicht mehr miterlebt, wie sein Enkel das Cristall wiederbelebte, aber: "Ich hoffe von oben auf ein wenig Kraft von ihm", sagt Nolte schmunzelnd.
Opa zu Ehren prangt dessen Konterfei auf den Kronkorken. "So lasse ich ihn ein bisschen an der Geschichte mitleben", sagt Paul Nolte.
- Reporter vor Ort