Erftstädter überlebte "In der Flutwelle fragt man sich, ob man ein gutes Leben hatte"
Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Flutkatastrophe hat Erftstadt hart getroffen. Manch ein Anwohner ist nur knapp dem Tod entkommen, viele stehen nun vor den Trümmern ihres Lebens. t-online hat mit Betroffenen gesprochen.
Am Dienstagvormittag steht Erik Wollersheim mit seiner Mutter noch einmal an der Stelle, an der er fast sein Leben verloren hätte. "Angst verspürt man in diesem Moment nicht", erinnert sich der 21-Jährige an den Augenblick, als er von einer Flutwelle erfasst und anschließend zwei Stunden lang um sein Leben kämpfen musste: "Man klärt mit sich ab, ob man ein gutes Leben hatte oder nicht."
In Erftstadt dominiert noch immer das Hochwasser, das in der vergangenen Woche wie eine Urgewalt über das Städtchen im Rhein-Erft-Kreis hereinbrach, das Leben der Bewohner. Überall stehen Berge aus unbrauchbaren Möbeln und Küchengeräten vor den Häusern, zum Beispiel an der Carl-Schurz-Straße parallel zur Bundesstraße 265, auf die sich die Wassermassen ebenso ergossen wie in Gärten, Keller und Wohnzimmer. Straßen wurden unterspült, Gebäude beschädigt.
Die Bewohner des besonders betroffenen Ortsteils Blessem sind nach wie vor evakuiert, zu groß ist die Sorge, dass sich an der riesigen Abbruchkante, die sich im Norden Blessems nach einem Erdrutsch gebildet hat, weitere Erdmassen in Gang setzen. Wann genau die Blessemer – vorübergehend zumindest – in ihre Häuser zurückkehren dürfen, stand am Dienstagnachmittag noch nicht fest.
Erik Wollersheim kämpfte stundenlang um sein Leben
Erik Wollersheim war am vergangenen Donnerstag zu Fuß auf der Carl-Schurz-Straße unterwegs, die nach dem Dauerregen vom Mittwoch erst geringfügig, dann jedoch massiv überspült wurde. "Ich bin die Straße runtergegangen und wurde von einer hüfthohen Welle mitgenommen", erzählt der junge Mann mit dem bandagierten Arm.
Zunächst wurde Wollersheim an die Schallschutzmauer gepresst, die die B265 von der Carl-Schurz-Straße trennt. Dann verließen ihn die Kräfte und die Wassermassen zogen ihn durch ein Loch unterhalb der Mauer. Etwa eine Minute lang habe er sich in dem mit Wasser gefüllten Hohlraum befunden. "Das war der erste Moment, wo man sich denkt: Gut, an dieser Stelle ist es vorbei". Doch danach habe ihn eine zweite Welle auf die andere Seite der Schallschutzmauer gezogen, auf die Seite der Bundesstraße. Dort schaffte er es irgendwie, sich mit einem Arm am Bewuchs der Wand festzuhalten.
Etwa fünf bis sechs Meter hoch sei das Wasser zu diesem Zeitpunkt gewesen. Erik Wollersheim schrie um Hilfe. Wie lange, darüber trügt ihn sein Gedächtnis. "Ich hatte das Gefühl, dass ich höchstens 30 Minuten im Wasser war." Doch die Rettungskräfte erzählten ihm später, dass sie zwei Stunden lang nach ihm gesucht hätten. Helfer des DLRG hätten ihn schließlich mit einem Seil gesichert, sagt der Hörakustiker, ein Polizist habe sich von einem Hubschrauber abgeseilt, ihn in ein Gestell gehängt und über die Mauer gehievt.
"Mehr als eine ausgekugelte Schulter habe ich nicht davongetragen", sagt Erik Wollersheim, den die Ereignisse noch immer aufwühlen. Seiner Mutter stehen die Tränen in den Augen, während ihr Sohn berichtet. Stundenlang habe sie ihn am Donnerstag gesucht, sagt sie. Bis er sich am Abend dann aus dem Bergheimer Krankenhaus bei seiner Familie gemeldet habe.
"Das Wasser stand einen halben Meter in der Wohnung"
Das Blessemer Haus der Wollersheims blieb wundersamerweise von der plötzlichen Wucht des Flüsschens Erft vollkommen verschont, andere traf es umso härter. Robert Berger wohnt 120 Meter von der Abbruchkante entfernt. "Bei uns stand das Wasser einen halben Meter in der Wohnung", sagt der 68-Jährige, der es am Freitag irgendwie geschafft hat, noch einmal kurz sein Heim zu besuchen. Über einen defekten Tank im Keller sei Öl ausgetreten, ein roter Film auf dem Wasser war die Folge. Auch auf seine 20 Koi-Karpfen im Gartenteich muss Robert Berger künftig verzichten, sie haben die Überschwemmung nicht überstanden: "Dafür hätte ich bestimmt noch 5.000 Euro bekommen."
Am Dienstagmittag steht er an der abgesperrten Brücke, die über die B265 in Richtung Blessem führt. Jeden Tag komme er hierhin, um zu erfahren, wann er wieder zurück darf. Bisher habe es dazu keine konkreten Aussagen gegeben. Drei Jahre lang sei er nun schon Rentner: "Ich dachte, ich könnte mir ein schönes Leben machen und dann kommt so eine Scheiße."
Corona ist hier derzeit kein Thema, kaum jemand trägt Maske
Eine andere Katastrophe gerät in Erftstadt unterdessen in Vergessenheit. Corona-Schutzmasken trägt an der Absperrung jedenfalls keiner der wartenden Menschen. "Corona gibt es nicht mehr", sagt André Berger, Roland Bergers Sohn: "Weder für die Betroffenen noch für die Einsatzkräfte." Im Moment hätten die Menschen eben andere Sorgen. Und jeder sei froh, dass er noch lebe.
Eine Krankheit wie Corona spiele da eine untergeordnete Rolle. Auch in den Notunterkünften trage kaum jemand eine Maske, so der 40-Jährige, der wie sein Vater zweifach geimpft ist. Das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium warnte bereits vor dem steigenden Infektionsrisiko in den Hochwassergebieten.
Die Feuerwehr beendete am Dienstag ihre Suche nach möglichen Opfern des Hochwassers in einem Regenrückhaltebecken neben der B265. "Man vermutete dort erst drei, dann fünf, dann wieder drei Fahrzeuge, die von der Bundesstraße dort reingespült worden seien", sagt Elmar Mettke, Sprecher der Erftstädter Feuerwehr. Auch ertrunkene Personen wurden befürchtet. Doch nachdem das Wasser abgepumpt war, folgte die Entwarnung: In dem Becken befand sich kein Auto.
Tote seien bisher aus ganz Erftstadt nicht gemeldet worden, so Mettke. Die Lage an der Abbruchkante sei jedoch nach wie vor kritisch. Auch am Dienstag überflogen Vermessungsexperten in einem Hubschrauber das Krisengebiet, um Bewegungen des Erdreichs festzustellen.
"Was Wasser für eine Kraft hat, das glauben Sie gar nicht"
Mit den Folgen des Hochwassers muss sich nun auch Hans Christian herumschlagen. "Der ganze Keller war voll", sagt der 79-Jährige, der seit 57 Jahren im Ortsteil Frauenthal neben Blessem wohnt und nun vor einem Berg aus Schutt aus seinem Keller steht. In all der Zeit habe er so ein Hochwasser noch nie erlebt. Die Hilfsbereitschaft sei derzeit immens, Jugendliche hätten ihm sogar Brötchen gebracht. Doch die Stadt habe es versäumt, vor den Fluten zu warnen, sagt der Rentner: "Was Wasser für eine Kraft hat, das glauben Sie gar nicht."
Erik Wollersheim gehört zu denjenigen, die es sehr wohl glauben. Das Hochwasser von Erftstadt wird er jedenfalls nicht vergessen. "Der 15. Juli 2021 ist mein zweiter Geburtstag", sagt er am Ort seiner Rettung: "Ich werde mir auf jeden Fall ein Erinnerungstattoo stechen lassen."
- Gespräche mit Hilfskräften und Betroffenen vor Ort