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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Betroffene erzählt Stalking durch Ex: "Als hätte er meine Identität übernommen"
Wer gestalkt wird, leidet mehrfach: Unter den Belästigungen, Ängsten – und darunter, dass sich Freunde das irgendwann kaum mehr anhören wollen. Christine aus Köln hat das erlebt – und schildert die teils hoffnungslose Situation als Stalking-Opfer.
Jeden Morgen wenn Christine Friedrichs* ihre Wohnung in einem beliebten Kölner Stadtteil verlässt, ist es wieder da: das ungute Gefühl. "Ich kann nicht ohne den Gedanken daran die Treppe runtergehen", sagt die 42-Jährige. Sie wird von ihrem Ex-Mann Frank* gestalkt. Wird sie diesmal aufatmen können, wenn sie aus dem Haus geht? Oder ist wieder einmal die Klingel mit Lackfarbe verschmiert?
Denn das ist die Masche, mit der sie seit vier Monaten mehrmals in der Woche konfrontiert ist. Vorher waren es andere Formen der Belästigung. Insgesamt blickt sie jetzt schon auf eine Zeitspanne von vier Jahren zurück, in denen ihr Leben alles andere als frei und selbstbestimmt verlief.
Dieser Rosenkrieg hat eine andere Qualität
Christine ist ein Stalking-Opfer. Seitdem sie sich vor etwa vier Jahren von ihrem Ex-Mann Frank getrennt hat, macht er ihr das Leben schwer. Nun gibt es Rosenkriege am Ende vieler Beziehungen – doch dieser hat eine andere Qualität. "Es war, als hätte er meine Identität übernommen", schildert sie. Es begann damit, dass Frank sich weigerte, die Wohnung zu verlassen. Dabei war Christine schon lange bevor sie Frank kennengelernt hatte darin zu Hause. Um eine Konfrontation zu vermeiden, zog sie zunächst zu ihrem neuen Freund. Doch ihr Ex-Mann ließ Christine nicht in Ruhe: Auf einmal tauchte er regelmäßig an ihrer Arbeitsstelle auf.
Chefin erteilte dem Stalker Hausverbot
Nachdem ihre Vorgesetzte darauf aufmerksam wurde, erwirkte diese gegen den Mann ein Hausverbot. Aber da Christine Musikerin ist, war es damit nicht getan: Sie spielt auf verschiedenen Bühnen, von denen aus sie ihren Ex-Mann nun häufig im Publikum sitzen sah. Teilweise blieb er vor Konzertbeginn demonstrativ in einer der vorderen Reihen stehen, bis das Licht erlosch.
Er kaufte sich einen Hund, der nicht nur der gleichen Rasse angehört wie Christines eigener, sondern sogar von diesem abstammt. Mit ihm ging er spät abends in der Gegend spazieren, in die Christine nach der Trennung gezogen war. "Über die Putzfrau hat er sich sogar den Kontakt meines Ex-Freundes beschafft, um sich mit ihm auszutauschen", schildert Christine.
Was ist Stalking? Wenn eine Person beharrlich, auf direkten oder indirekten Wegen, Kontakt zu einem anderen Menschen erzeugt, obwohl dieser das nicht will, ist das Nachstellung; umgangssprachlich "Stalking": eine Straftat, die in schweren Fällen sogar mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden kann. Allerdings kommt es längst nicht immer zu einer Verurteilung, denn die Übergänge zwischen harmloser und strafbarer Belästigung sind fließend – und der Nachweis der Taten ist oft schwer.
Seit der Trennung sind Christines Fahrradreifen häufig zerstochen, teilweise sogar die Schrauben des Vorderrades gelockert. Christine glaubt, dass dahinter Frank steckt. Doch belegen kann sie es nicht.
"Er suchte jemanden, der mich umbringt"
Eines Tages bekam sie Post von der Polizei: "Auftrag zum Tötungsdelikt zu Ihrem Nachteil", lautete der Betreff, nüchtern formuliert im typischen Beamtendeutsch. "Ein türkischer Mann hatte meinen Mann angezeigt und gesagt, dass der jemanden sucht, der mich umbringt", erfuhr die 42-Jährige von den Beamten. Doch auch hier wurde die Beweislage als nicht ausreichend erachtet und das Verfahren gar nicht erst eröffnet.
Eingestellte Verfahren – damit hat sie viel Erfahrung gemacht in den vergangenen vier Jahren. Etwa als ihr Ex-Mann in die Wohnung einbrach, die sie nach der Trennung für sich allein gemietet hatte. In einem ersten Urteil wurde er zwar zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, doch in der Revision erreichte er eine Einstellung gegen Zahlung an eine gemeinnützige Einrichtung. Nicht etwa weil angezweifelt wurde, dass er der Einbrecher gewesen war, sondern weil das Gericht den Wert der Gegenstände, die damals aus ihrer Wohnung verschwanden, für nicht so hoch erachtete.
Auch ein erstes Verfahren wegen Stalkings wurde eingestellt, da das Gericht die Beweislage nicht ausreichend fand. Nun hat Christine es noch einmal versucht und Videos eingereicht. Das Ergebnis steht noch aus. "Ich fühle mich von der Justiz total alleine gelassen. Meine Mutter, die auch Juristin ist, aber in Norddeutschland lebt, kann das alles gar nicht glauben", klagt sie. Ihr Anwalt habe gemeint, das Kölner Gericht sei für seine milden Urteile bekannt. Inzwischen habe sie schon den Eindruck, dass Frank aufgrund seines Beamtenstatus besonders rücksichtsvoll behandelt würde.
Immerhin konnte sie vor dem Familiengericht eine einstweilige Verfügung durchsetzen: Er darf sich ihr und ihrem Wohnhaus bis auf 30 Meter nicht mehr nähern. Dagegen hat er allerdings Einspruch eingelegt. Die Verhandlung steht noch aus.
Studie belegt höheres Krankheitsrisiko
Der tägliche Psychokrieg hinterlässt Spuren. Tagsüber bekommt Christine immer wieder Herzrasen und Panikattacken. Nachts träumt sie schlecht und wacht mit Bildern im Kopf auf, die sie selbst "Wahnvorstellungen" nennt. Für Stalking-Opfer ist das keineswegs ungewöhnlich. "Stalking-Betroffene haben ein erhöhtes Risiko für psychische und körperliche Erkrankungen", heißt es in einer aktuellen Studie vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim. Unruhe, Schlafstörungen und Depressionen gehören zu den häufigen Folgen.
Die gleiche Studie ermittelte, dass etwa elf Prozent der befragten Personen schon einmal Stalking erlitten haben, dass aber nur rund 20 Prozent Anzeige erstatten. Viele wissen gar nicht, dass sie rechtliche Möglichkeiten haben, gegen das Stalking vorzugehen.
Der seelische Stress macht einsam
"Ich glaube, er will einfach verhindern, dass ich ein freies Leben führe", meint Christine. Durch ihre ständige Unruhe nimmt Frank gedanklich viel Raum ein: Das belastet ihre neue Beziehung, auch andere Freundschaften leiden. "Selbst meine Mutter hat gesagt: Ich mag das nicht mehr hören, das macht mich nur fertig", so Christine.
Als nach etwa vier Jahren endlich der Scheidungstermin anstand, musste Frank Christine Friedrichs‘ Wohnung wieder freigeben – und rächte sich dafür. "Bis hin zu den Dübeln hat er alles mitgenommen", sagt sie.
Einverstanden ist er trotzdem nicht. Das lässt er sie wissen, indem er beinahe täglich ihren Namen auf der Klingel mit Lackfarbe überstreicht. Vorzugsweise abends, während sie mit dem Hund die letzte Runde geht.
*alle Namen von der Redaktion geändert
- Persönliches Gespräch mit Christine Friedrichs (alle Namen geändert)
- Studie vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim