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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Daniele Ganser Westen schuld am Krieg? "Habe ich schon immer gewusst"
In Hannover sprach der umstrittene Historiker Daniele Ganser über den Krieg in der Ukraine. Doch die Veranstaltung glich eher einem Fan-Treffen. Oder Schlimmerem.
Daniele Ganser spricht sehr gerne über Synapsen. Die Verbindungen zwischen Nervenzellen würden laut dem Schweizer Historiker durch gezielte Wiederholung bestimmter Bilder, Themen und Botschaften in den Medien gereizt werden. Deren Ziel, so Ganser: "Sie wollen Ihnen Angst machen." Angst wie durch die Anschläge auf das World Trade Center, Angst während des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr, in der Weltwirtschaftskrise, Corona und jetzt im Krieg in der Ukraine.
"Spüren Sie eigentlich immer die aktuell angesagte Angst?", fragt er am Donnerstagabend seine rund 2.800 angereisten Anhänger in Hannovers Congress Centrum (HCC). "Oder sagen Sie wie ich: 'Nein, aber bei der nächsten Angst bin ich wieder mit dabei. Versprochen!'" Das Publikum lacht über die charmant-witzige Pointe des Mannes, der mit einer Vortragstour zur Frage "Wie ist der Ukrainekrieg ausgebrochen?" derzeit Hallen zahlreicher Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz füllt – und auf Widerstand stößt: In Nürnberg wurde der Termin seitens der Stadt abgesagt, in Dortmund ebenfalls, doch ein Verwaltungsgericht hat einem Antrag seines Veranstalters stattgegeben. Dortmund will allerdings in Revision gehen. Dieser Widerstand macht Ganser "fassungslos".
Der Vortrag in Hannover hingegen wurde unter dem grünen Oberbürgermeister Belit Onay zugelassen. Zu groß war die Sorge, die Stadt könne verklagt werden, und dass in der Folge Schadensersatz in rechte Netzwerke fließen könnte. "Es gehört zu Gansers Geschäftsmodell, Städte zu beklagen und damit Geld zu verdienen", sagt Onay auf einer Kundgebung vor dem HCC, zu der auch die jüdische Gemeinde in Hannover aufgerufen hatte. Das Motto: "Gemeinsam gegen Ganser".
Auch wenn die Veranstaltung letztlich stattfand, teilte auch das HCC den Demo-Aufruf auf seiner Website. Obendrein mussten Gansers Gäste vor Betreten des Kuppelsaals mehrere Ukraine-Flaggen passieren. Das HCC zeigte demonstrativ Flagge.
Daniele Ganser in Hannover: Vortrag wie ein Comedian
Doch der Blick in die Zuschauerreihen weist auf den ersten Blick nicht auf eine Verbindung in rechtsextreme Netzwerke hin: Man könnte genauso gut annehmen, alle seien wegen eines Klassikkonzerts in Deutschlands größten Kuppelsaal gekommen. Vor dem Auftritt und in der Pause wird Bier getrunken. Und Wein. Einige tragen Anzug, andere sind hip gekleidet. Auffällig viele Frauen zählen zu den Besuchern.
Wer jedoch mit der Szene vertraut ist, erblickt auch Personen aus AfD- und "Querdenker"-Kreisen. Gansers Publikum ist divers. Kein Wunder, verfügt er doch über Hunderttausende Fans auf zahlreichen Social-Media-Kanälen, gastiert bei den "Nachdenkseiten", im "Rubikon" und bei "KenFM". In der Vergangenheit gab er auch dem rechtsextremen "Compact"-Magazin Interviews. Dazu kommen esoterisch angehauchte Lebenstipps seines Schweizer Coaching-Unternehmens, die Kunden in "Peacemaker" verwandeln sollen. Entsprechend bunt gemischt ist das Publikum auch in Hannover.
Gansers Auftritt gleicht an diesem Abend dem eines Comedians. Doch im Gegensatz zu einem Mario Barth besitzt Ganser einen unbestreitbaren Charme und trägt seine Erzählungen langsam und mit Bedacht vor. Wenn er im gedeckten Schweizerdeutsch verbale Rote Karten verteilt, hängen die Zuschauer an seinen Lippen: Eine Rote für Bundeskanzler Olaf Scholz wegen dessen Waffenlieferungen an die Ukraine, weitere an die US-Präsidenten Barack Obama, Joe Biden, Bill Clinton, George W. Bush, und eine gibt es für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Doch auch Wladimir Putin wird für dessen Invasion in der Ukraine vom Platz gestellt. Ja, richtig gelesen. Auch Putin.
Daniele Ganser: "Putin hat illegal gehandelt"
"Der Einmarsch Russlands in die Ukraine war illegal", legt sich Ganser nämlich gleich zu Beginn seines Vortrags fest. Doch auch wenn Russland am 24. Februar 2022 gegen das Völkerrecht verstoßen habe, würde der Krieg in der Ukraine bereits seit dem Jahr 2014 laufen, seit dem Euromaidan, um genau zu sein, nur als Bürgerkrieg.
Während seines Vortrags kritisiert Ganser vor allem die Nato, die USA und die Bundesregierung. Die westliche Ankündigung, "bis zum letzten Ukrainer" kämpfen zu wollen, kritisiert Ganser als zynisch: Junge Ukrainer und junge Russen würden durch den vor allem US-gesteuerten Krieg verheizt werden. "Stattdessen sollten sich die Staatsoberhäupter, die von dem Krieg profitieren, selbst bewaffnet an die Front stellen, um ihre Interessen durchzusetzen."
Schuld an 14.000 Toten im Donbass vor dem Einmarsch Russlands wäre demnach vor allem das ukrainische "Putsch-Regime", so Ganser. Das wäre ohnehin nur ein Vasall der US-Amerikaner, was westliche Medien verschweigen würden. Damit gibt der Schweizer Narrative des russischen Außenministeriums wieder, die auch von Putin höchstselbst befeuert werden und die russische Spezialoperation seit Kriegsbeginn rechtfertigen sollen. Das hatte bis jetzt Hunderttausende Tote, Kriegsverbrechen vor allem auf russischer Seite und die Flucht von Millionen Ukrainern zur Folge.
Im Weiteren erklärt Ganser, "die Medien" würden ausblenden, dass sich die Bewohner von Krim und Donbass in freiheitlich demokratischen Referenden dazu entschlossen hätten, zu Russland gehören zu wollen. Anstatt ihnen dies aber zu gewähren, wären viele durch das Militär von Selenskyj und Vorgänger Petro Poroschenko gezielt getötet worden. Doch für einen derartigen Völkermord gibt es laut OSZE bis heute keine Beweise. Und auch die russische Regierung hat bisher keine geliefert, selbst wenn sie das weiter behauptet.
"Ich bin vom Fach. Ich erkenne so was"
Doch laut Ganser hätten US-Regierung und eine korrupte ukrainische Elite Putin schlicht provoziert. So sagt Ganser, dass während des Euromaidan 2014 die US-Botschaft die aufständischen Ukrainer zu noch mehr Gewalt angestachelt habe. Zudem hätten Scharfschützen in Geheimoperationen sowohl auf Demonstranten als auch auf Sicherheitskräfte des früheren Präsidenten Janukowitsch geschossen. Ein Lieblingsthema von Ganser, der als Stimmungsmacher der sogenannten "Truther"-Bewegung seit einigen Jahren eine US-gesteuerte Verschwörung hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 vermutet und damit erst in der Szene Fuß fasste. Und das lässt er seine Anhänger auch wissen: "Ich habe das alles schon immer gewusst", sagt er. "Ich bin vom Fach. Ich erkenne so was".
Ganser beruft sich während seines Auftritts einige Male auf seine Expertise zum Thema "Verdeckte Operationen" und "Nato-Geheimarmeen", um sich damit auch als ernst zunehmender Experte für Ostpolitik darzustellen. Und er hat klare Forderungen: "Das Blutvergießen in der Ukraine muss enden. Besser heute als morgen." Frenetischer Applaus erfüllt die Halle, als ob Ganser damit etwas grundsätzlich anderes gesagt hätte, als die Menschen, die vor der Halle demonstrieren.
Manche der Besucher, darunter vor allem Vertreter hannoverscher "Querdenker", Pro-Russland-Demonstranten und Corona-Skeptiker, hatten bereits vor Beginn Kontakt zur Gegendemonstration gesucht. Sie bezeichneten deren Anliegen als Kriegstreiberei. Mit Forderungen nach mehr Waffen für die Ukraine würde man sich den Interessen der Rüstungsindustrie dienstbar machen. Einige versuchten auch eine Rede von Hannovers OB durch Zwischenrufe gezielt zu stören – und sein Recht auf freie Rede damit einzuschränken.
- Experten warnen vor ihm: Warum Daniele Ganser so umstritten ist – und gefährlich
"Am Ende entscheidet Putin"
Deutschland mache laut Ganser ohnehin alles verkehrt: Durch Waffenlieferungen und die Ausbildung ukrainischer Soldaten habe sich die Lage erst zugespitzt. Doch nicht nur das: "Scholz hat Deutschland in einen Krieg mit Russland geführt", so Ganser, nach der Frage an sich selbst zum diplomatischen Status mit Russland. In anderen Situationen spricht er von Stellvertreterkrieg oder von einem Wirtschaftskrieg. Zwar würden die Meinungen über die Definition, wann ein Krieg ausgelöst würde, auseinandergehen, doch letztlich würde Putin entscheiden, wann er sich mit Deutschland im Krieg wähnt.
Noch wäre der Krieg lokal, doch Waffenlieferungen könnten dazu führen, dass der Krieg weitere "Metastasen" bilde. So bezeichnet Ganser etwa die Vorgänge um die Sprengung von Nord Stream 2. Für Ganser ganz eindeutig eine Sabotage durch die USA: "Es ist erbärmlich und feige, dass die Bundesregierung den Vorfall unter den Teppich kehren will." Dass derzeit unterschiedliche Theorien debattiert werden, lässt Ganser jedoch außen vor.
Kritik gibt es dann noch zur Nato-Osterweiterung. Die Erzählung bleibt bei einem Sandwich aus Wahrheit, russischen Narrativen, Verzerrungen und Behauptungen und dann wieder eingerahmt von historischen Fakten. Den Besuchern gefällt es, vor allem weil Ganser ihnen bekannte Themen erfrischend vorträgt, wie Besucher nach der Veranstaltung zu berichten wissen. Dennoch teilte Ganser an diesem Abend nicht nur Kritik aus. Im Fall Sahra Wagenknecht zum Beispiel. Die nicht anwesende Linken-Politikerin erntet frenetischen Applaus, als Ganser sie zum Kopf der "deutschen Friedensbewegung" benennt.
Wie ein religiöser Führer
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"Dr. Ganser", wie ihn seine Anhänger auch an diesem Abend in einzelnen Gesprächen ehrfürchtig nennen, bezeichnet sich selbst als "Friedensforscher". In der Forschung aktiv ist Ganser jedoch seit Jahren nicht mehr: Im Jahr 2018 verlor er seinen letzten Lehrauftrag in St. Gallen. Seither verkauft er Bücher, macht YouTube-Videos, bietet Onlinekurse zum Thema "Innerer Frieden" an, ruft zu Spenden auf und tourt.
Wie eine Sekte?
In seinen Vorträgen führt Ganser sein Publikum genau mit der Methode durch den Abend, die er den Medien vorwirft: Er setzt auf Wiederholungen. Zudem ist nicht viel Neues zu erfahren, was die Anhänger nicht schon längst aus dem Internet kennen. Nur dürfen sie ihren "Dr. Ganser" aus der Nähe sehen. Insgesamt gleicht die Veranstaltung eher einem Fan-Treffen, einem Live-Podcast oder wirkt wie ein Treffen mit dem religiösen Führer einer Bewegung – oder einer Sekte?
Denn offenbar geht hier vieles um Gefühle, um Glauben. Wissen wird in Teilen des Auftritts offensichtlich bewusst verdreht. Doch dafür zahlt man gerne Geld: Kaum ein Gast, der sich nicht ein Exemplar von Gansers Werken "Imperium USA: Die skrupellose Weltmacht" oder "Illegale Kriege" signieren lässt oder gar vor Ort noch schnell kauft.
Zum Abschluss der Veranstaltung geht es Daniele Ganser um Gefühle: Anstatt sich abends auf YouTube zum Einschlafen schlechte Dinge wie etwa Videos aus dem Krieg in der Ukraine anzusehen, rät er den Zuschauern, sich auf schöne Dinge wie Sterne oder Seerosen zu konzentrieren. "Dann findet das alles gar nicht erst statt, wovon die Medien Ihnen weiß machen wollen, dass Sie davor Angst haben müssten." Angst ums Geld dagegen braucht er sich nicht machen: Vor Hannover trat Ganser ebenfalls in Kiel und Rostock auf. Auch dort zahlten mehrere Tausend Besucher im Schnitt etwa 30 Euro für ihre Tickets. Etwa zehn Termine stehen noch an, ebenfalls jeweils vor mindestens tausend Besuchern.
Frei nach Daniele Ganser: Rechnen Sie selbst.
Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels hatte es geheißen, dass die Bücher von Daniele Ganser vom Kopp-Verlag herausgegeben werden würden. Das entspricht nicht den Tatsachen und wurde entsprechend geändert. Zuerst sind sie bei Orell Füssli in der Schweiz erschienen. Heute erscheinen sie bei Westend gem..
- Reporter vor Ort
- thegurdian.com: "Russian troops removing ID markings 'gross violation'"
- woz.ch: "Daniele Gansers Safe Space"
- osze.de: "OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (closed)"
- haz.de: "Gemeinsam gegen Ganser – und seine Verschwörungsfantasien"
- aargauerzeitung.ch: "Verschwörungsstar verliert Lehrauftrag: Auch Uni St. Gallen lässt Daniele Ganser fallen"
- br.de: "#Faktenfuchs: Dieses Verschwörungs-Video enthüllt nichts"
- nachdenkseiten.de: "Vom Friedensforscher zum Verschwörer: Daniele Ganser und die Medien"
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Alles eine Verschwörung?"
- video-liberty.com: "Mutig durch den Sturm – Dr. Daniele Ganser im Interview bei Mutigmacher TV"
- nzz.ch: "Gansers Jünger"
- Eigene Recherche