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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Keine Essenslieferungen "Am Limit": Lieferando-Fahrer streiken in Großstadt
Zum ersten Mal streikt ein Lieferdienst für mehr Lohn in Deutschland. In Frankfurt trägt Lieferando sogar stundenlang kein Essen mehr an die Kunden aus.
Rund 100 Lieferando-Mitarbeiter aus ganz Deutschland haben sich am Freitag in Frankfurt zum ersten Streik eines Lieferdienstes in Deutschland zusammengetan. Sie folgten dem Aufruf der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und fordern mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen. Stundenlang wurde kein Essen ausgeliefert.
Statt Essensboxen auszuliefern, tragen sie Plakate. "Takeaway, we want more pay!" (sinngemäß: "Fürs Liefern wollen wir mehr Geld"), "Runter mit den Stunden, rauf mit den Löhnen" und "15 Euro" schrillt es wütend über die Hauptwache. Sie kommen aus Dortmund, Nürnberg, Stuttgart und Berlin, um ihren Unmut bei dem Lieferdienst, der in Deutschland zwischen 6.000 und 10.000 Mitarbeiter beschäftigt, kundzutun.
Lieferando-Fahrer: "Das ist kein Leben"
"Wer Vollzeit arbeitet, muss sechs Tage die Woche arbeiten. Anders geht das nicht mit den zwei Schichten", sagt Antonio Fernandes Coelho (51). Er ist seit 2015 dabei. Erst bei Foodora, "bis wir 2019 an Lieferando verkloppt wurden". 12 bis 14 Stunden seien die Vollzeitkräfte auf der Straße, "um auf 1.500 bis 2.000 Euro Grundlohn zu kommen. Das ist kein Leben", beklagt der Mann, der schon seit Foodora-Zeiten im Betriebsrat sitzt.
Er erzählt von einem Bonussystem. "Wer 100 Bestellungen schafft, bekommt einen Euro, wer 200 Bestellungen schafft, kriegt zwei Euro. Das geht nur bei Vollzeitlern. Wer darunter liegt, bekommt 50 Cent Bonus." Die Boni seien kaum zu schaffen.
Normal seien zwei bis zweieinhalb Bestellungen pro Stunde. Wie alle seine Kollegen fordert Coelho 15 Euro Stundenlohn für alle. Ohne Boni. "Maximal 20 bis 30 Prozent der Rider kommen auf 14 Euro Stundenlohn inklusive Boni. Das geht so nicht", ist er überzeugt.
Fahrer haben massive Probleme, über die Runden zu kommen
Die meisten Fahrer seien nicht wie früher Studenten, die nebenbei jobben wollen, sondern – vor allem in Frankfurt – osteuropäische Menschen, die ihre Familie ernähren. Titus Barbiam ist einer von ihnen. Er kommt aus Rumänien und arbeitet für den Mindestlohn von 12 Euro. "200 Stunden im Monat. Da bleibt keine Freizeit", sagt er leise.
Ingo Gerth (24) ist aus Solidarität gekommen und trägt eine rote Fahne mit einem weißen Lieferfahrer und gekreuztem Werkzeug darauf. "Ich habe bei Lieferando in Nürnberg aufgehört, als ich einen Studienplatz in Marburg bekommen habe. Das Radfahren hat im Prinzip Spaß gemacht, aber bei Wind, Schnee, Hitze und Regen für 12 Euro zu strampeln, ist krass. Die Inflation haut jetzt auch noch voll rein, allein Lebensmittel sind bis zu 30 Prozent teurer geworden und vor allem lebt man immer in Unsicherheit. Der Arbeitgeber kann jederzeit die Stunden drastisch reduzieren. Das passiert vor allem im Sommer, wenn weniger bestellt wird. Die Fahrer haben dann echt Probleme, über die Runden zu kommen", sagt er.
Poolpartys bei Lieferando – allerdings nicht für die Fahrer
Seit drei Jahren ist auch Nadhir Hamdi (24) als Rider in Frankfurt dabei. Der Informatikstudent aus Tunesien findet seinen Job "akzeptabel". "Aber ich mache das als Minijob und weiß, was ich verdiene. Einen höheren Stundenlohn wünsche ich mir auch", sagt er und zeigt sein Plakat, auf dem "15 €" steht.
"Wir wollen von Lieferando nichts Besonderes. Das Unternehmen ist keine Hinterhofklitsche. Es gibt Billard und Poolpartys – aber nicht für Fahrer, sondern nur für Staff. Also die Leute, die im Büro arbeiten. Oben hui, unten pfui", schimpft NGG-Referatsleiter Mark Baumeister.
Soziale Absicherung in Gefahr
"Lieferando hat mit Tarifverträgen so wenig am Hut, wie ich mit Kochen. Wer krank ist oder Urlaub hat, bekommt keinen Bonus. Und Niedriglohnarbeit mit Bonussystem ist ohnehin inakzeptabel", sagt er und fordert 15 Euro Stundenlohn brutto, die Bezahlung der Heimfahrt und Transparenz bei der Datenerfassung.
Er ist stolz auf das, was sie heute geschafft haben. "Wir haben Testbestellungen gemacht. Es gibt momentan keine einzige Lieferung von Lieferando im Innenstadtbereich von Frankfurt", erzählt er. "In zwei Wochen streiken wir in Köln. Wir hören nicht eher auf, bis es vernünftige Tarifverhandlungen gibt."
Kampf der Lieferando-Fahrer soll weitergehen
Philipp Schurk (25) ist Betriebsratsvorsitzender in Frankfurt und seit 2016 dabei. Er bestätigt die Kritik von Nadhir Hamdi. "Die Mitarbeiter in der Verwaltung bekommen 90 Euro Essenszuschuss, 64 Euro Fahrtkostenzuschuss, Nacht- und Feiertagszuschläge und sie haben eine Einmalzahlung wegen Corona erhalten. Die Fahrer nicht. Und die Verwaltungen fahren zusammen in die Schweiz in den Skiurlaub. Für 15 Millionen Euro. Und sie feiern ausgelassene Poolpartys. Auch da sind Rider nicht zugelassen", erklärt er.
"Dafür ist jede Menge Geld da. Für die, die sich im wahrsten Sinne des Wortes abstrampeln, gibt es angeblich kein Geld", klagt er. Die Betriebsräte kämpfen weiter gemeinsam mit der NGG für bessere und faire Arbeitsbedingungen der Fahrer. Schurk gibt sich kämpferisch. "Heute ist noch lange nicht Schluss damit. Das ist erst der Anfang."
- Reporterin vor Ort
- Eigene Recherchen