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Warum eine Frau aus Bochum totgeborene Kinder fotografiert


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Frau fotografiert totgeborene Kinder
"Das gibt mir mehr, als es mir nimmt"

Von Marie Illner

Aktualisiert am 12.04.2022Lesedauer: 4 Min.
Lily und ihre Mama: Eine Bochumerin fotografierte sie – als Erinnerung.Vergrößern des Bildes
Lily und ihre Mama: Eine Bochumerin fotografierte sie – als Erinnerung. (Quelle: Isabelle Lidke)

Isabelle Lidke fotografiert ehrenamtlich totgeborene Kinder. Auch wenn viele Momente sie zerreißen, will die 30-Jährige nicht aufhören. Im Ruhrgebiet werden weitere solcher Fotografen gesucht.

Manchmal bedeutet das Handyklingeln bei Isabelle Lidke, dass sie einen Schalter umlegen muss. Nämlich dann, wenn die neueste Nachricht auf ihrem Display nicht von Facebook oder WhatsApp kommt, sondern eine Meldung im Alarmkreis 15 ist. Aus der Mutter, die gerade zu Hause mit ihren Kindern spielt, kann schnell eine andere Isabelle Lidke werden.

Denn der Alarm bedeutet: Eltern suchen für ihr totes Kind einen Fotografen. Manchmal passiert das nur drei Mal täglich, manchmal alle 30 Minuten. "Ich spüre immer sofort, ob das mein Sternchen ist", sagt die Fotografin aus Bochum.

Ehrenamtliche im Einsatz

Hauptberuflich fotografiert die 30-Jährige lebende Menschen, fängt Momente der Freude ein: Wochenbettreportagen, Familienshootings, Hochzeitsküsse. Ehrenamtlich fotografiert sie seit 2017 über die Initiative "Dein Sternenkind" totgeborene Kinder. Bundesweit machen das über 600 Fotografen, doch es werden händeringend weitere gesucht. Besonders im Ruhrgebiet fehlen sie.

An diesem Tag heißt das Sternenkind Lily. Sie fährt sofort los. Ihre Mutter kommt Lidke weinend auf dem Krankenhausflur entgegen. Den Schmerz der Frau spürt die Fotografin in wenigen Sekunden. Die Frauen umarmen sich, schweigen. "Ich passe gut auf Lily auf", verspricht Lidke der Mutter.

Im Kreißsaal hebt sie sachte den kleinen Körper aus dem Bettchen, hüllt das Neugeborene in eine Decke und legt es in den Arm der Mutter. Sie küsst das Mädchen auf die Stirn. "Ich habe noch nie einen Kuss gesehen, in dem mehr Liebe und Schmerz zur gleichen Zeit steckte", sagt Lidke. Sie hat den Moment festgehalten, mit der Kamera. Hat damit einen kleinen Augenblick der wenigen Minuten, die Lily auf der Welt hatte, konserviert.

Während allein im ersten Lebensjahr eines Kindes die Kameras der Eltern Tausende Male klicken – erstes Bad, Zoobesuch, Spielplatzrutsche – hat Lilys Mutter dafür nur eine Gelegenheit. Jetzt. "Die Eltern stehen so unter Schock, dass sie oft gar keine Erinnerungen sammeln können", weiß die Fotografin. Waren die Lippen so geschwungen wie bei Mama oder Papa? Hatte die Kleine viele oder wenig Haare? War da auch das Muttermal am Kinn, so wie beim großen Bruder?

"Kein blutiges Horrorszenario"

Mit ihren Fotos gibt Lidke den Eltern eine Chance, sich an all das zu erinnern. "Die Bilder können einen wichtigen Beitrag zur Trauerarbeit leisten", ist sie sich deshalb sicher. Zwischen ihrer Registrierung und dem ersten Einsatz lagen nur wenige Wochen.

Hannah und Jana hießen die ersten Sternchen, die sie damals fotografierte. Das erste Mal tote Kinder zu sehen, war anders als erwartet. "Kein blutiges Horrorszenario in der Pathologie, sondern ein heller Raum, in dem die Kinder friedlich aussahen", erinnert sie sich.

Routine kehrt nicht ein

Die Kiste mit den Namenssteinchen, die Lidke nach jedem Einsatz füllt, ist inzwischen randvoll. "Es kehrt trotzdem keine Routine ein", sagt sie. Der Tod von Kindern, jedes Mal trifft er sie bis ins Mark. "Jedes Mal frage ich mich, warum das Leben so fies sein kann", sagt sie. Bei Tessa. Bei Mira. Bei Joshua. Und auch bei Henrie.

Das Frühgeborene lebte noch, als Lidke in die Klinik gerufen wurde. Eltern können die Initiative direkt kontaktieren, werden aber auch von Hebammen auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht. Die Bilder sind für sie kostenlos. "Es gab noch eine Chance, dass Henrie es schafft. Wir wollten nur zur Sicherheit Lebendbilder machen", erinnert sie sich.

Manche Eltern möchte dabei sein, wenn Lidke fotografiert. Manchmal sind auch Geschwisterkinder anwesend, in anderen Fällen trifft Lidke keine Angehörigen. Mit mehreren Eltern hat sie zusammen gesungen und geweint. "Von mir wird keine Perfektion erwartet, ich zeige mich auch menschlich", sagt die 30-Jährige.

Trotzdem haben nicht alle in ihrem Umfeld Verständnis für das, was Lidke macht. "Du fotografierst tote Kinder? Wo, bei dir zu Hause? Wie kannst du nur?", heißt es dann in entsetztem Ton. Ob das nicht irgendwie komisch sei, kommt oft die vorsichtige Nachfrage.

Bildbearbeitung zum Abschließen

Auch in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis sorgt ihr Ehrenamt manchmal für Sorge: "Meine engsten Freundinnen merken schnell, wenn ich an einem Fall zu knacksen habe", gibt Lidke zu. Manchmal muss sie bei der Bildbearbeitung selbst abbrechen, kann nicht mehr. "In der Regel setze ich mich immer schnell an den Computer, um für die Eltern alles fertigzustellen", sagt Lidke. Auch sie selbst will durch die Bildbearbeitung abschließen.

"Ich lasse die Kinder so weit wie möglich so, wie sie sind", sagt Lidke. Bei Farben, Kontrast und Sättigung bearbeitet sie nach, aber die Gesichter der Eltern bleiben schmerzverzerrt. "Wenn die Kinder schon länger im Mutterleib tot waren, die Kinder durch Medikamente aufgedunsten sind oder in einer sehr frühen Schwangerschaftswoche geboren wurden, kann der Anblick zunächst schockieren", sagt Lidke.

Die Eltern, durch die Situation völlig aus der Bahn geworfen, würden das nicht immer so wahrnehmen. "Damit ich sie durch meine Bilder nicht nachträglich traumatisiere, retuschiere ich in solchen Fällen etwas mehr", sagt Lidke.

Eine kleine Blume legt sie den Kindern stets mit auf das Bild. Wenn sie dann die Päckchen mit den Fotos für die Eltern packt, finden sie auch die getrocknete Gänseblume oder den Löwenzahn darin. "Eine kleine Brücke zum Kind", sagt Lidke. Manche Eltern, das weiß Lidke auch, werden ihre Fotos niemals öffnen. "Auch das ist okay", sagt sie.

Arbeit gibt viel zurück

Weil Lidke selbst gesundheitliche Probleme hat, kann sie aktuell keine Einsätze fahren. "Wenn ich sehe, dass ein Alarm schon in der dritten Runde klingelt, zerreißt mir das Herz", sagt sie. Bevor sie als Sternenkindfotografin angefangen hat, musste sie ein Video auf der Website über das, was sie erwartet, schauen.

Ungeschönt und ehrlich. Viele Tränen hat Lidke seit ihrem Start vergossen. Viele Male gefragt: "Wie sollen Eltern das ertragen?" Aufhören will sie mit ihrem Ehrenamt trotzdem nicht.

"Mir gibt das Ganze mehr, als es mir nimmt", ist sie sich sicher. Weil sie den Eltern der Sternenkinder ein Geschenk ohne zweite Chance machen kann, aber auch, weil die Arbeit sie selbst geerdet hat. Ihre eigenen Kinder schaut Lidke inzwischen anders an. "Für uns ist das immer selbstverständlich, dass wir die Wimpern, die Muttermale, die Grübchen morgen wiedersehen", sagt sie. "Aber das ist es nicht."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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