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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mehr Fälle von Kindesmissbrauch "Die Opfer werden immer jünger – die Täter auch"
Ein Verbrechen an hilflosen Opfern: Kindesmissbrauch. Seit Jahren steigen die Fallzahlen. Verantwortlich sind offenbar mehrere Faktoren – darunter auch die Corona-Pandemie, wie eine Expertin erklärt.
In Berlin häufen sich die Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder. Kindesmissbrauch, kinderpornografische Bilder und Videos: Sechs Fälle dieser Art wurden allein vergangene Woche vor Berliner Gerichten verhandelt, eine ungewöhnlich hohe Zahl. Auch der Blick in die jüngsten polizeilichen Kriminalstatistiken offenbart einen eindeutigen Trend. Allein 2021 ermittelte die Polizei in 917 Fällen wegen Kindesmissbrauch – über zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Bei der Verbreitung kinderpornografischer Schriften gab es sogar einen Zuwachs von über 175 Prozent.
Diese Entwicklung kann auch Astrid Helling-Bakki, Kinderschutzärztin und Geschäftsführerin der World Childhood Foundation, bestätigen. "Ich sehe diesen Trend auch, schon über viele Jahre. Auch wenn man sich zum Beispiel die Zahlen der Kindeswohlgefährdungen, der Meldungen bei den Jugendämtern anguckt." Für die Opfer habe der Missbrauch oft fatale Folgen.
"Etwa ein Drittel hat wirklich schwerwiegende längerfristige Folgeschäden, im Sinne von psychiatrischen und psychologischen Problemen", so die 39-Jährige. Ein weiteres Drittel benötige einige Zeit lang intensive Unterstützung.
Doch einige Opfer verarbeiten den Missbrauch überraschend gut, so die Kinderschutzärztin. "Wir sehen sehr deutlich, dass ein weiteres Drittel der Menschen Missbrauch in ihrem Lebensweg sehr gut verarbeiten und im Prinzip ohne längerfristige therapeutische Unterstützung zurechtkommt. Das finde ich bemerkenswert. Wenn man sich überlegt, was sie für Bedrohungen und Gewalt erlebt haben."
Berlin: In jeder Klasse haben ein bis zwei Kinder Missbrauch erlebt
Ein Großteil der Fälle komme allerdings nie ans Licht, sagt die 39-Jährige. "Es gibt ganz viele Kinder, die zeigen gar nichts nach außen, weder körperlich noch in ihrem Verhalten. Das macht es auch so schwierig bei der sexualisierten Gewalt. Es ist schlecht sichtbar, passiert meist im Geheimen, selten gibt es irgendwelche Beweise dafür." Dementsprechend hoch sei die Dunkelziffer.
"Wir gehen davon aus, dass über 90 Prozent der Kinder nicht bekannt werden. Dass der Missbrauch weiterhin im Geheimen passiert, dass sie sich nicht offenbaren, dass nie eine Institution davon erfährt, weder Jugendamt noch Polizei, noch ein Mediziner. Die Dunkelziffer ist also wahnsinnig hoch. In jeder Schulklasse in Deutschland haben statistisch gesehen ein bis zwei Schulkinder Missbrauch erfahren." Wird der Missbrauch nicht bekannt, ist es für die Opfer besonders schwer, Hilfe zu erhalten.
"Ganz viele Opfer sind sehr, sehr jung"
Die Täter seien vor allem im direkten Umfeld der Kinder zu finden, so Helling-Bakki. "Es ist nicht der Fremde von der Straße oder so was, sondern in der Mehrheit der Fälle ist es wirklich der engste familiäre oder soziale Nahraum. Was ist der Lebensraum eines Kindes? Der ist im engsten familiären Raum in der Regel." Am häufigsten seien das die Eltern oder Großeltern.
Ausgenutzt werde vor allem die Machtposition dem Kind gegenüber, so die Kinderschutzärztin. "Nicht primär die Pädophilie ist der maßgebliche Antreiber. Ganz oft ist es die Gesamtkonstellation, die Nähe, die Möglichkeit, die Macht, die Abhängigkeit, die bei den Kindern besteht und das Wissen, dass sie im Zweifelsfall nicht darüber berichten können. Also auch vom Alter her. Ganz viele Opfer sind sehr, sehr jung, nämlich im Kindergartenalter."
Kindesmissbrauch: Corona hat das Problem verstärkt
Intensiviert habe sich diese Problematik während der Corona-Pandemie. Besonders verstärkt habe sich der Missbrauch im Netz, sagt die Kinderschutzärztin. "Das zu ermittelnde Material im Internet nimmt rasant zu, das ist während Corona exponentiell gestiegen." Es habe mehr Gelegenheiten gegeben, entsprechendes Material zu erstellen. Auch seien die Menschen, vor allem auch Kinder und Jugendliche, vermehrt im digitalen Raum unterwegs gewesen.
Auch das sogenannte Grooming habe sich verstärkt. "Es findet dabei eine Instruktion zu Übergriffen statt. Also angeleitetes Vorgehen. Es findet so Missbrauch statt, ohne dass ein anderer Mensch im Raum ist, nur über digitale Kommunikationswege", erklärt Helling-Bakki.
"Vieles davon wird nie zutage treten"
Zusätzlich dazu haben sich auch die Risikofaktoren für Kinder zu Hause verstärkt. "Man war ungeschützt, keine anderen Personen haben auf die Kinder gucken können. Es waren Erhöhung der Stressoren zu Hause, durch Lockdown und Quarantäne, aber auch durch finanzielle Not. Es gab weniger Ausweichmöglichkeiten, weniger Rückzugs- und Fluchtmöglichkeiten aus entsprechenden Situationen. Dadurch haben sich in der Summe ganz viele Risikoelemente, die sexuelle Übergriffe begünstigen, drastisch vermehrt", erzählt Helling-Bakki. Das habe wohl auch zu einer Zunahme der Missbrauchsfälle geführt. Dennoch sei das schwierig, mit Zahlen zu belegen.
"Vieles davon wird einfach nie zutage treten, weil es wirklich so abgeschlossen passieren konnte. Die Offenbarung des Missbrauchs ist eh schon ein sehr, sehr schwieriger Weg für die Betroffenen. Und dann auch noch aus dieser Situation heraus. Ich glaube nicht, dass wir da annähernd erfassen, was wirklich hinter verschlossenen Türen passiert ist. Auch vielleicht deswegen, weil die Kontrollmechanismen von außerhalb, wie Schule oder Kindergarten, fehlen."
Diese Entwicklungen lassen sich an vielen Orten erkennen. Doch es gibt auch besondere Missbrauchsmuster in der Hauptstadt. "Ein großer Missbrauchsaspekt, den wir hier in Berlin sehen, ist, dass die Übergriffe und auch sexualisierte Gewaltformen von immer Jüngeren betrieben werden. Also, dass immer mehr Zwischenfälle auch unter Kindern und Jugendlichen auftreten", so die Kinderschutzärztin." Die Opfer werden immer jünger – die Täter auch."
Dennoch findet Helling-Bakki positive Worte für die Arbeit der Berliner Polizei. "Ich denke, dass ein hoher Aufwand betrieben wird in Berlin. Also dass es eine Region ist, wo ein Bewusstsein dafür besteht. Ich weiß auch, dass die dementsprechenden Kommissariate in Berlin aufgestockt werden mussten", berichtet die 39-Jährige.
Viel mehr Fälle werden jetzt später gemeldet
Für den jahrelangen Anstieg der polizeilich bekannten Missbrauchsfälle in Berlin gibt es neben einem Anstieg durch die Corona-Pandemie auch noch einen anderen Erklärungsansatz. Es würden schlicht mehr Fälle bekannt, weil das Problem stärker in den Fokus gerückt und die Anzeigenbereitschaft gestiegen sei.
"Ich denke, das eine ist Bewusstsein und vielleicht mehr Wahrnehmung im Hellfeld, also dass eine Anzeige erstattet wird", sagt Helling-Bakki. "Wenn Sie sich die Zahlen angucken, die sind ja winzig im Vergleich zu den Dunkelfeldschätzungen. Wir sehen auch erhöhte Ermittlungstätigkeit."
Besonders im Bereich des Missbrauchs und der Verbreitung von Kinderpornografie im Internet machten die Ermittler große Fortschritte – und könnten so auch immer wieder Missbrauchsopfer identifizieren.
"Die Cyberkriminellen haben sich ja auch erst entwickelt in den letzten Jahren", so Helling-Bakki. "Es gibt es auch ganz klare Trends, dass mehr gemeldet wird. Und dann haben wir hier mehr Ermittlungstätigkeit. Allerdings wird auch berichtet, dass man weit mehr Material zum Ermitteln hat, als man Personal hat, das zu ermitteln." Letztendlich würden die stark steigenden Missbrauchszahlen vor allem auf diese Entwicklung zurückzuführen sein. Mehr Fälle werden also bekannt, die sonst im Dunklen geblieben wären.
"Ich würde jetzt mal behaupten, es ist nicht das Dunkelfeld, was da mehr und mehr erhöht wird", sagt die Kinderschutzärztin. "Ich denke eher, dass es mehr Bewusstsein ist bei den Fällen, die schon irgendwo auftauchen. Es ist aber eine Vermutung. Es gibt dafür sehr wenig gut verlässliche wissenschaftliche Daten."
Genaue Rückschlüsse seien daher schwierig, auch eine generelle Entwarnung wäre falsch. "Wir wissen zum Beispiel, dass das Material im Internet rasant zunimmt. Das sind Steigerungen, die bisher ein Vielfaches von dem sind, was Sie in der polizeilichen Kriminalstatistik sehen."
- Interview mit Dr. Helling-Bakki
- Polizeiliche Kriminalstatistik
- Presseinformationen der Berliner Gerichte