Berlin Zahl antisemitischer Vorfälle steigt in der Corona-Pandemie
Deutschlandweit sind nach Daten des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) im vergangenen Jahr 1909 antisemitische Vorfälle erfasst worden. Das waren gut fünf pro Tag. Im Jahr davor waren es 1252. Allerdings hat der Bundesverband diesmal 472 Vorfälle aus Bundesländern einbezogen, in denen es keine Rias-Meldestellen gibt und die zuvor nicht berücksichtigt worden waren. Der Großteil der Vorfälle (1449) entfiel 2020 auf "verletzendes Verhalten", wie aus dem am Montag in Berlin vorgestellten Rias-Jahresbericht hervorgeht. Dazu zählen unter anderem antisemitische Beschimpfungen.
Hier gab es Rias zufolge eine Zunahme. Die Zahl der bekannt gewordenen "gewaltsamen Angriffe" auf Jüdinnen und Juden ging dagegen von 109 auf 96 zurück, die der Bedrohungen von 58 auf 39, was der Verband mit dem Lockdown und den damit verbundenen Einschränkungen etwa bei großen Veranstaltungen erklärt. Unter "extremer Gewalt" verzeichnet die Statistik einen Fall, bei dem im Oktober ein 29-Jähriger einen jüdischen Studenten vor der Hamburger Synagoge mit einem Klappspaten angegriffen und erheblich verletzt hatte.
Insgesamt waren 677 Personen und 679 Mal Institutionen von antisemitischen Vorfällen betroffen. Rias geht davon aus, dass die Dunkelziffer noch höher ist.
Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sagte, er habe jeden Tag mit diesen Themen zu tun, doch dass 677 Menschen antisemitisch beleidigt und verunglimpft worden seien, habe ihn besonders getroffen. "Das sind Dinge, die sind furchtbar." Diese Zahlen zeigten wie wichtig die Arbeit von Rias sei. Viele Gemeindemitglieder scheuten sich, solche Vorfälle an offizieller Stelle anzugeben oder gar Anzeige zu erstatten.
Rias-Bundesvorstandsmitglied Benjamin Steinitz sagte: "Bei mehr als der Hälfte (52 Prozent) der Vorfälle konnte kein politisch-weltanschaulicher Hintergrund zugeordnet werden." Mit rund einem Viertel aller Vorfälle (479) entfielen die meisten aber auf das rechtsextreme, rechtspopulistische Spektrum, gefolgt von jenen mit verschwörungsideologischem Hintergrund.
Mehr als ein Viertel aller dokumentierten Fälle (489) hatte den Daten zufolge einen direkten Bezug zur Corona-Pandemie. Dabei ging es um antisemitische Inhalte, die auf Versammlungen gegen Corona-Maßnahmen zum Beispiel in Reden oder auf Schildern und Plakaten verbreitet wurden. "Bei einer Vielzahl von Demonstrationen im ganzen Bundesgebiet kamen dabei insbesondere antisemitische Verschwörungsmythen sowie Verharmlosungen der Schoah zum Ausdruck", heißt es in dem Bericht.
So verzeichnete Rias zwischen Mitte März und dem Jahresende 2020 insgesamt 284 Versammlungen, bei denen Corona-Maßnahmen mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung gleichgesetzt wurden oder es zu anderen antisemitischen Aussagen kam.
Die Corona-Pandemie sei von Anfang ein Anlass zum Artikulieren schon vorhandener antisemitscher Haltungen gewesen, erklärte Steinitz. Die "Sagbarkeitsgrenzen" würden außerdem auch in der Mitte der Gesellschaft ausgedehnt. "In der Corona-Krise sehen wir eine bedrohliche Normalisierung von Antisemitismus, aber auch von Rassismus, Medien- und Wissenschaftsfeindlichkeit", stellte Steinitz fest. "Diese Grenzverschiebungen kehren nie wieder auf den Zustand vor Beginn einer solchen Dynamik zurück."