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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Das krude Weltbild des Giffey-Angreifers "Ich sehe mich nicht als Bürger dieses Drecksstaates"
Im Mai hat ein Mann Franziska Giffey attackiert, jetzt steht er vor Gericht. Zum Prozessauftakt äußerte der Beschuldigte sich in langen Tiraden gegen Giffey, den Staat und das System. Er sieht sich als Opfer.
Dass Helmut H. ein großes Mitteilungsbedürfnis hat, wird schon nach Sekunden klar. "Ich versteh' hier drinnen kein Wort", ruft er, als zu Beginn der Verhandlung am Berliner Landgericht noch eine Schöffin vereidigt wird. H., lange graue Haare, Lesebrille, sitzt in einem Glaskasten im Gerichtssaal. Dem 74-Jährigen wird vorgeworfen, Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey im Mai mit einem Jutebeutel mit schwerem Inhalt geschlagen zu haben.
H. ist in diesem Prozess nicht Angeklagter, sondern "Beschuldigter". Was nach einer juristischen Spitzfindigkeit klingt, ist entscheidend. Denn die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass H. an einer wahnhaften Störung leidet und daher nicht schuldfähig ist. Ihm droht keine bloße Verurteilung wegen Körperverletzung, sondern die dauerhafte Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. In einer solchen Einrichtung befindet er sich bereits seit seiner Festnahme im vergangenen Mai. H. sei eine Gefahr für die Allgemeinheit, sagt der Staatsanwalt.
Beruf? "Widerstandskämpfer"
Zu Beginn der Verhandlung fragt Richter Johannes Schwake die persönlichen Daten des Beschuldigten ab. Nach seinem Beruf gefragt sagt H., er sei Ex-Hausverwalter, Ex-Modernisierer und Ex-Sänger. Und: Widerstandskampfer, seit 50 Jahren. H. hat ein LinkedIn-Profil, in dem er sich als "Widerständler gegen Nazideutschland" bezeichnet.
"Sie haben also keinen Job", sagt der Richter, was H. erzürnt. Was H.s Nationalität sei, will der Richter wissen. Er habe weder Ausweis noch Staatsangehörigkeit, antwortet er. Als der Richter darauf hinweist, dass H. laut den Akten Deutscher sei, sagt dieser: "Ich sehe mich nicht als Bürger dieses Drecksstaates."
Gut anderthalb Stunden darf H. sich dann zu den Vorwürfen äußern. Doch er holt weiter aus, trägt seitenweise handgeschriebenen Text vor, gegliedert in mehr als 20 Unterpunkte. H. erzählt die Geschichte eines Mannes, der davon überzeugt ist, dass die ganze Welt sich gegen ihn verschworen hat, seine Brüder, die Politik, das System. "Auch als Sänger wurde ich nie gefördert", sagt er.
Es ist eine schier nicht enden wollende Tirade, gespickt mit Paragrafen und Gesetzen. Mehr als 1.000 Strafanträge habe er in den vergangenen Jahrzehnten gestellt, sagt er, alle skandalöserweise unbeachtet. Sein "Widerstandsrecht" ergebe sich aus dem Spruch, der auf der Freiheitsglocke im Schöneberger Rathaus stehe. "Ich schwöre, der Aggression und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo immer sie auf Erden auftreten werden."
Das Krankenhaus, in dem er untergebracht ist, bezeichnet er als "Nazi-KZ", die Psychiater, die ihm in der Vergangenheit schon psychische Erkrankungen attestiert hatten, als "Faschisten-Gutachter". Das Gericht und alle Beteiligten würden die Grundrechte beugen, die Richter seien als kriminelle Vereinigung zu verfolgen und des Amtes zu entheben.
Als der Richter H. darum bittet, endlich über den Vorfall vom 7. Mai 2024 zu sprechen, erzählt H. freimütig. Er habe am Computer in der Gertrud-Haß-Bibliothek in Rudow gesessen, "der mal wieder nicht richtig funktionierte", als er Giffey zufällig entdeckt habe. Diese hatte dort einen Termin mit der Bibliotheksleiterin, der vorher nicht öffentlich angekündigt worden war. Deshalb hatte die Senatorin auch keine Personenschützer dabei.
"Der bring' ich mal den Dutt durcheinander"
Er habe entschieden, Giffey einen "Denkzettel" zu verpassen, sagt H. "Der bring' ich mal den Dutt durcheinander, habe ich mir gedacht." Deswegen habe er ihr seine Tasche, in der Zeitungen gewesen seien, "um die Ohren gehauen". Dabei habe er gerufen: "Das ist für die 3,2 Millionen, die Sie hier mal wieder in den Sand gesetzt haben." Giffey selbst wird später noch aussagen, dass er außerdem "Das ist für diese Scheißbibliothek" gerufen habe. Giffey hatte sich schon in ihrer Zeit als Neuköllner Lokalpolitikerin für den Bau der Bibliothek eingesetzt, die H. offenbar nicht gefällt. Der Stammgast H. habe sich immer wieder über die Computer und die Architektur beschwert, berichtete die Bibliotheksleiterin Giffey nach dem Angriff.
Helmut H. sieht sich bis heute im Recht. Der Angriff sei "Widerstand" gewesen, denn Giffey sei für ihn eine "Terroristin". Über die Jahre habe er etliche Mails mit Beschwerden an sie geschrieben, nie habe sie reagiert. Angefangen habe es 2003, als ihm in Neukölln ein Ausleihausweis für Bibliotheken verweigert worden sei. "Sie wäre als Bezirksstadträtin für Kultur dafür zuständig gewesen", sagt H. Diesen Posten hatte Giffey allerdings erst ab 2010 inne. Immer wieder habe Giffey ihm Unrecht getan, behauptet H., als Bezirksbürgermeisterin, als Familienministerin, als Berlins Regierende Bürgermeisterin.
"Ich fühle mich weder als Nazisau noch als Drecksau"
Giffey selbst kennt ihren Angreifer. Nicht sein Gesicht, aber seinen Namen. "Über die Jahre gingen immer wieder Hass- und Drohmails ein, die mit diesem Namen unterzeichnet waren", sagt sie in ihrer Zeugenaussage. Einige davon habe sie zur Anzeige gebracht, aber nicht alle. Angesichts der schieren Menge sei das kaum möglich gewesen. In einer der Mails bezeichnete H. Giffey etwa als "Nazisau" und "Drecksau". "Ich fühle mich weder als Nazisau noch als Drecksau, das ist kein Umgang in einer Demokratie", sagt Giffey. "So ist es, wenn man zum Kochen gebracht wird, weil einem niemand hilft", sagt H.
Seit mittlerweile mehr als vier Monaten ist H. im Krankenhaus des Maßregelvollzugs untergebracht. Medikamente lehnt er ab, die seien nur dazu da, ihn ruhigzustellen. Er brauche eine Behandlung seiner Wirbelsäule, psychisch sei er vollkommen gesund, sagt er. Eine psychiatrische Sachverständige ist an dem Prozess beteiligt, der am Donnerstag fortgesetzt wird. Ihre Einschätzung dürfte maßgeblich mitentscheiden, wie die Zukunft von Helmut H. aussieht.
- Reporter vor Ort