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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Türken in Berlin vor Staatsbesuch "Erdoğan ist kein guter Mensch – aber Deutschland braucht ihn"
Am Freitag kommt der türkische Präsident Erdoğan nach Berlin. Was denken die Türken in der Hauptstadt über den Staatsbesuch? Eines ist sicher: Dieser Mann lässt niemanden kalt.
"Jeder Türke hat eine Meinung zu Recep Tayyip Erdoğan", sagt ein Mann, der sich am Morgen vor einer Bäckerei in Berlin-Kreuzberg die Hände an einem Kaffeebecher wärmt – "aber nicht jeder sagt sie öffentlich", fügt er schmunzelnd hinzu. Der Mann sollte recht behalten. Der Name Erdoğan lässt die Türken, die t-online an diesem Tag am Kottbusser Tor trifft, nicht kalt. Viele werden den Besuch des türkischen Staatspräsidenten am Freitag in Berlin genau verfolgen – doch öffentlich Stellung zu beziehen sei schwierig, sagen sie. Die Angst vor Verurteilung ist ein Grund.
Diese Zurückhaltung kommt nicht von ungefähr. Als im Mai mehr als die Hälfte der Berliner Türken Erdoğan erneut zum Staatschef wählten und auf den Straßen feierten, hagelte es Kritik. Bundesagrarminister Cem Özdemir etwa kritisierte, dass Erdoğans Anhänger hierzulande einen Wahlsieg bejubelten, "ohne für die Folgen einstehen zu müssen".
"Erdoğan ist unsere Stimme"
Erdoğan sei ein Phänomen für die Türkei. Menschen, die keine Heimatgefühle für die Türkei hätten, könnten das nur schwer nachvollziehen, sagt ein älterer Herr, der bereit ist, öffentlich über seine Sympathie für Erdoğan zu sprechen. Er selbst ist mit fünf Jahren aus dem Land am Bosporus nach Deutschland gekommen. Er und seine Freunde warten auf ihr türkisches Frühstück. Hier sind sie unter sich, hier werden sie verstanden, sagen die Männer. Dass Erdoğan seit 2014 Präsident ist, finden sie gut. "Er hat die Türken wieder stolz gemacht", sagt der Ältere und steht auf, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen.
- Ist es richtig, den türkischen Präsidenten nach Berlin einzuladen? Lesen Sie hier das Pro und Contra und geben Sie selbst Ihre Meinung ab.
Der Politiker habe die Türkei insgesamt selbstbewusster in der Welt gemacht. "Erdoğan spielt nicht ganz vorne mit, aber er hat sich einen Namen gemacht", so der Mann. Das Staatsoberhaupt sei auch für die Türken in Berlin wichtig, deshalb freue er sich auf den Besuch. "Wir Türken haben das Gefühl, dass Erdoğan unsere Stimme ist", erklärt der Mann.
In Berlin leben rund 200.000 Personen mit türkischem Migrationshintergrund (rund 6 Prozent der Berliner Bevölkerung). Die damals als Gastarbeiter bezeichneten Migranten, die in den 1970er-Jahren nach Berlin kamen, ließen sich vor allem in Kreuzberg nieder – und prägten den Bezirk mit. Hier ist auch heute noch die größte türkische Community zu finden.
Zustimmung für Erdoğan in Berlin
Am 29. Mai hat Recep Tayyip Erdoğan die Stichwahl um das Amt des türkischen Staatspräsidenten mit 52,14 Prozent der Stimmen gewonnen. Damit bleibt er für weitere fünf Jahre im Amt. Insgesamt waren in Berlin 101.000 Menschen mit türkischem Pass wahlberechtigt. 51,46 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf Erdoğan. Erdoğans Anhänger in Deutschland feierten den Wahlsieg vor allem in den Großstädten auf den Straßen. Das Wahlverhalten der Türken in Deutschland stieß auf großes Unverständnis.
"Erdoğan ist kein guter Mensch"
Nicht alle Türken an diesem Mittwochmorgen in Berlin-Kreuzberg sprechen so über einen Staatschef, dessen Land auch wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen in der Kritik steht. "Erdoğan ist kein guter Mensch, aber ich glaube, Deutschland braucht ihn", sagt ein Mann mit einem Baby auf dem Arm. Er hat es eilig. "Bei dem Besuch geht es nur um Politik", ruft er, bevor er mit seiner Kleinen weitergeht. Auch eine Frau am Gemüsestand winkt ab, als sie den Namen Erdoğan hört: "Ich halte nicht viel von ihm".
- Erdoğans erster Besuch in Deutschland seit drei Jahren wird heftig kritisiert. Warum es trotzdem wichtig ist, dass der Politiker in die deutsche Hauptstadt kommt, lesen Sie hier.
"Erdoğan verdient Respekt"
Der Besuch Erdoğans erhitzt die Gemüter in Berlin. Man müsse nicht immer einer Meinung sein, sagt eine Frau, die versucht, versöhnliche Töne anzuschlagen. Ihre Familie stammt aus der Türkei. Dem Besuch Erdoğans sieht sie gelassen entgegen. Wichtig sei ihr vor allem, dass man auch jemandem wie Erdoğan mit Respekt begegne und nicht gleich aufschreie, sagt sie t-online.
Das wünscht sie sich auch für den Umgang mit türkischstämmigen Menschen in Deutschland – eine viel differenziertere Sichtweise: "Es wird oft der Eindruck erweckt, dass die Türken in Deutschland von Erdoğan beeinflusst werden, aber ich bin alt genug, um zu wissen, was ich will und was nicht. Am Ende muss ich selbst entscheiden, was für mich richtig oder falsch ist".
Den meisten Menschen, mit denen t-online an diesem Tag spricht, ist klar, dass die Kritik an Erdoğan berechtigt ist. Aber sie sagen auch, dass ihm etwas gelingt, was die Politiker in Deutschland noch nicht gut schaffen würden – auch auf die Menschen mit türkischem Migrationshintergrund zuzugehen und sie für sich zu gewinnen.
- Reporter vor Ort
- statistik-berlin-brandenburg.de: "Wie viele türkische Staatsangehörige leben in Berlin und Brandenburg?"