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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bundesweite AfD-Demo Liebesbekundungen mit Hitlergruß
Die AfD ruft bundesweit zum Protest gegen die Politik der Ampelregierung auf. Rund 10.000 kommen und ziehen selbstbewusst durch Berlin.
"Faules Pack!", schreit eine Frau über 50. "Geh endlich arbeiten!", ruft ein Mann. Andere lachen. Ziel der Attacken ist eine Obdachlose auf der Friedrichstraße, die am Boden kauert und um Spenden bittet. Üblich in Berlin, normalerweise kein Stein des Anstoßes. Heute aber zieht die AfD durch die Hauptstadt.
Es ist die erste von der Bundespartei zentral ausgerichtete Demonstration gegen die Politik der Ampelregierung in dieser Krise. Seit Wochen schon mobilisieren einzelne AfD-Politiker und die Landesverbände zu Protesten, nun aber will auch die Bundespartei ihren Beitrag leisten zu dem von ihr ersehnten "heißen Herbst".
Die aktuelle Krisenstimmung und die Demos dazu sollen der AfD endlich wieder steigende Zustimmungswerte bescheren. Und der Plan scheint aufzugehen: In Niedersachsen, wo am Sonntag ein neuer Landtag gewählt wird, steht die Partei in Umfragen bei 15 Prozent – mehr als doppelt so viel wie bei der letzten Wahl.
Chrupalla: "Wir haben bereits zwei Weltkriege verloren!"
Für den Protest in Berlin sind Mitglieder und Wähler aus ganz Deutschland angereist, besonders viele aus Ostdeutschland sind hier. Alice Weidel aber hat sich krankgemeldet, die schärfste und prominenteste Rednerin der AfD fehlt an diesem Tag. Nun geißelt vor allem Tino Chrupalla, der gemeinsam mit Weidel Partei und Fraktion leitet, die Politik der Bundesregierung.
Einer von Chrupallas Hauptgegnern ist dabei der Bundeswirtschaftsminister der Grünen: "Habeck führt Krieg gegen sein eigenes Land, unser Volk", ruft Chrupalla und fordert die Öffnung von Nord Stream 1 und 2. "Wir haben bereits zwei Weltkriege verloren, wir werden auch den dritten nicht gewinnen!"
Die Botschaft kommt beim Publikum gut an, viele hier tragen Schilder gegen Habeck, die Grünen oder die ganze Ampelregierung. Während Chrupallas Rede ruft die Menge immer wieder im Chor: "Habeck muss weg, Habeck muss weg". Als ein Kameramann des ZDF aus den ersten Reihen filmt, verändert sich der Slogan, wird lauter und aggressiver: "Lügenpresse, Lügenpresse". Frauen halten dem Kameramann Plakate vor die Linse, blockieren ihm so das Bild.
Grüße an den Verfassungsschutz
Wegen möglicher Eskalationspunkte wie dieser war der Plan der Bundespartei für die Großdemonstration auch unter Funktionären umstritten. Die einen träumen vom Umsturz und wünschen sich schon lange mehr Volksnähe und Protest auf der Straße. Süffisant grüßt Stephan Brandner, Mitglied des nur offiziell aufgelösten rechtsextremen "Flügels" in der Partei, von der Bühne aus die "Kettenhunde des Verfassungsschutzes". Die verhältnismäßig Konservativeren aber warnten vorab davor, dass auf der Straße eine Abgrenzung zu noch extremeren Gruppen kaum möglich sei und der Schaden für die Partei groß sein könnte.
Um diesen Schaden zu verhindern, hat die Bundesgeschäftsstelle der AfD wieder und wieder darum gebeten, verfassungswidrige Flaggen und Kennzeichen zuhause zu lassen und sich auf AfD- und Deutschland-Flaggen zu konzentrieren. Außerdem hat sie tief in die Kasse gegriffen: Direkt vor der Demo verteilt sie 8.000 Schals, Fahnen und Plakate in Herzform – alle versehen mit AfD-Sprüchen. Und ein Ordner bittet über Lautsprecher: "Bitte keine Angriffe auf die Presse!"
Der Osten ist am stärksten vertreten
Trotzdem wehen am Samstag über der Menge vor der Bühne gleich einige Flaggen der rechtsextremen "Freien Sachsen". Junge und mittelalte Männer tragen Pullis mit eindeutig eindeutigen Szene-Sprüchen wie "No fight, no glory – natürliche Auslese", "Wir sehen uns in Walhalla" oder "89" – angelehnt an die "88", die in der Szene für "Heil Hitler" steht. Am Rande der Demonstration verteilt Jürgen Elsässer, Chefredakteur des vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Compact-Magazins, sein Blatt, schießt Selfies mit Fans und sammelt Bargeld ein.
Als sich der Demonstrationszug in Bewegung setzt, bilden die Jugendorganisationen aus Sachsen und Thüringen den ersten, lautesten Block. "Schwarz-Rot-Gold ist bunt genug", "Unsere Straßen, unser Land, die Jugend leistet Widerstand" oder "Höcke, Höcke, Höcke", rufen sie. Ein Mann in der Menge witzelt: "Hüte dich vor Sturm und Wind – und Ossis, die in Rage sind!"
Immer wieder protestieren kleinere linke Gruppen entlang der Demo-Route. Schwarz Vermummte zeigen den Mittelfinger und rufen: "Ganz Berlin hasst die AfD!" Die Antwort aus dem Protestzug ist selbstbewusst und gelassen: Lachen, empor gestreckte Daumen oder Mittelfinger. "Ganz Berlin liebt die AfD", schreit eine junge Frau und zeigt den Hitlergruß. Heute fühlt man sich stark, auch auf dem sonst für die AfD eher unbequemen Pflaster Berlin.
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Angriff auf ein Kamerateam
Fünf Kilometer Fußmarsch und rund drei Stunden später geht die Polizei von mehr als 10.000 Teilnehmern bei der Demonstration aus – bei nur 1.400 Gegendemonstranten. Nur wenige Zwischenfälle habe es gegeben, kaum Auseinandersetzungen zwischen AfD-Unterstützern und Gegendemonstranten, heißt es von der Polizei. Ein Kamerateam von "Stern TV" sei angegriffen und dabei wohl ein Handy beschädigt worden, sagt eine Sprecherin. Ob Anzeige erhoben werde, habe das Team noch nicht entschieden.
Verhältnismäßig wenig Krawall also. Doch 10.000 Teilnehmer sind weniger, als sich die AfD insgeheim erhofft hatte. Die Zahl liegt auch weit unter den Teilnehmerzahlen, die Proteste gegen die Corona-Politik in Berlin zu Anfang der Pandemie erzielen konnten.
Chrupalla: "Sehr schön, super"
Wie fällt da die Bilanz des AfD-Chefs aus? "Sehr schön, super", sagt Tino Chrupalla am Ende der Veranstaltung t-online. Die Teilnehmerzahl sei für Berlin "sensationell". Weitere Demonstrationen, zentral organisiert von der Bundesgeschäftsstelle, seien aber vorerst nicht geplant. Die wolle man lieber auf Landesebene vorantreiben.
Unbedingt weiterdemonstrieren sollte die AfD, findet eine blonde 69-Jährige, die Lederhose trägt. Sie ist aus Thüringen angereist und trägt ein Schild um den Hals, auf dem in roter Farbe steht: "Auch heute möchte ich dieser Bundesregierung meine tiefste Verachtung aussprechen". Was denn für sie das Ziel der Proteste sei, wann also ein Ende denkbar? "Bis der Spuk vorbei ist", sagt sie.
Für die Demonstranten spielt die Zählung der Polizei ohnehin keine Rolle. Über Megafon und per Mundpropaganda werden Zahlen von 30.000 bis hin zu 60.000 Teilnehmern kommuniziert. Weit weg von der Realität – das aber kümmert hier niemanden.
- Eigene Beobachtungen auf der AfD-Demonstration