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Russlands Krieg und seine Folgen: "Putin hat eine zynische Wette abgeschlossen"


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Russlands Krieg und die Folgen
"Nun hat Putin eine zynische Wette abgeschlossen"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 06.07.2022Lesedauer: 7 Min.
Wladimir Putin und der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu: Russland hat einen günstigen Augenblick für den Angriff auf die Ukraine gewählt, sagt Historiker Harold James.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin und der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu: Russland hat einen günstigen Augenblick für den Angriff auf die Ukraine gewählt, sagt Historiker Harold James. (Quelle: Mikhail Metzel/POOL/TASS/imago-images-bilder)
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Corona, Ukraine-Krieg und Inflation erschüttern die Weltwirtschaft. Warum Deutschlands Zukunft trotzdem rosig sein könnte, erklärt Historiker Harold James.

Russland führt einen grausamen Krieg gegen die Ukraine, gleichzeitig schürt eine hohe Inflation die Ängste in den Staaten des Westens. Zur Freude Wladimir Putins, der Deutschland jederzeit das Gas abdrehen kann. Doch auch Russland hat trotz der aktuellen Rubel-Stärke Probleme. Welche das sind, erklärt mit Harold James einer der bekanntesten Wirtschaftshistoriker. Der Professor führt ferner aus, warum Russlands Machthaber eine zynische Wette gegen den Westen laufen hat.

t-online: Professor James, erst hat das Coronavirus die Welt erschüttert, dann überfiel Wladimir Putin die Ukraine. Hat der Kremlchef eine ihm günstig erscheinende Gelegenheit für die Attacke genutzt?

Harold James: Der Augenblick erschien Wladimir Putin sicher geeignet. Nun hat er eine zynische Wette abgeschlossen – und hofft auf einen Sieg am Ende. Wie sich zeigt, scheut Russlands Machthaber vor wenig zurück.

Selbst eine globale Ernährungskrise nimmt Putin durch seinen Angriffskrieg in Kauf. Wenn er diese nicht gar als Mittel zur Durchsetzung seiner Pläne einkalkuliert.

Der Ukraine-Krieg fällt in eine Phase der Knappheit auf zahlreichen Gebieten. Vor allem bedingt durch die Corona-Krise mangelt es zum Beispiel an Computerchips, durch die russische Aggression aber auch an Nahrungsmitteln und Energie. Genau das will Russlands Präsident für seine Zwecke ausnutzen: Europa ist von sibirischem Gas abhängig, der Mittlere Osten wiederum ist auf Getreidelieferungen aus Russland und der Ukraine angewiesen. Putin setzt darauf, dass der von ihm verursachte Mangel an beidem für ausreichend Druck und Ablenkung sorgt, damit er seine Ziele erreichen kann.

Russland setzt also darauf, dass der Westen sich von der Ukraine ab- und den von ihm mitverursachten Problemen zuwendet?

Der Kreml wendet eine Zermürbungstaktik gegen die Staaten des Westens an, die von der Corona-Krise immer noch gezeichnet sind. Letzten Endes kommt es darauf an, wer länger durchhalten kann und will: das autoritär regierte Russland oder die westlichen Demokratien. Von der sich verteidigenden Ukraine einmal abgesehen. Eine hohe Inflation im Westen spielt Putin in die Hände, denn sie ist mit sozialen Ungerechtigkeiten verbunden, die für Unruhe sorgen könnten. Die derzeitige Situation erinnert ein wenig an die 70er Jahre.

Harold James, Jahrgang 1956, lehrt Geschichte und Internationale Politik an der amerikanischen Princeton University. Der gebürtige Brite ist einer der wichtigsten Wirtschaftshistoriker der Gegenwart und unter anderem Experte für die Geschichte der Globalisierung. Am 10. Oktober 2022 erscheint sein neues Buch "Schockmomente. Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung 1850 bis heute" im Verlag Herder.

Als vor allem die Ölpreiskrise von 1973 zu schweren Rezessionen in den westlichen Industrieländern führte?

Nicht allein ein Rückgang der Wirtschaftsleistung war die Folge. Damals wurden eine Menge Bücher über das nahende Ende der Demokratie geschrieben. Heute wissen wir, dass dies Humbug war.

Warum?

Weil Demokratien einerseits widerstandsfähiger sind, als es manche wahrhaben wollen. Darüber hinaus sind wirtschaftliche Systeme keineswegs statisch, sondern flexibel. In den 70er Jahren kamen die Verantwortlichen in vielen westlichen Ländern zu dem einzig logischen Schluss: dass sie zu abhängig von Ölexporten waren.

Sparsamere Automobile waren eine der Folgen.

Diese Modelle kamen aber nicht ungefähr. In Deutschland und Japan ließ man die Energiepreise ziemlich stark ansteigen. In den USA hat die Politik in den 70er Jahren hingegen versucht, die Energiepreise künstlich niedrig zu halten. Die Folge besteht darin, dass die Amerikaner bis heute mit überdimensionierten Autos unterwegs sind. Die japanische – und die deutsche – Automobilindustrie stellte ihre Produktion hingegen sehr erfolgreich auf effizientere Modelle um.

In der Gegenwart ist angesichts der Klimakrise eine erneute Umstellung in der Automobilindustrie notwendig.

Der Wechsel von Verbrennermotoren auf Elektroantriebe ist unumgänglich. Für solche Transformationsprozesse sind Krisen oft sogar hilfreich. Denn Krisen setzen Signale für Politik, Unternehmen und Konsumenten. Im Falle steigender Energiepreise ist die einzig rationale Lösung eindeutig sparen. Autos müssen entweder weniger verbrauchen oder weniger gefahren werden. Wohnungen hingegen müssen besser isoliert und entsprechend weniger geheizt werden.

Nun hat die Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz einige Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die stark gestiegene Inflation zu dämpfen. Darunter ein Tankrabatt.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Aber hohe Inflation muss nicht immer schlecht sein. Wenn Sie Veränderung und Innovation hervorbringt, ist sie sogar gut. Energie, in diesem Falle Benzin und Diesel, künstlich billig zu halten, wäre ein Fehler. Wenn Kraftstoffe schon subventioniert werden, dann bitte nur äußerst gezielt und für Menschen mit niedrigem Einkommen, um besagte soziale Ungerechtigkeiten abzumildern.

Finanziell besser Gestellte sollen also den "wahren" Preis für Benzin und Diesel zahlen? Eine solche Maßnahme würde sicherlich auf Protest stoßen.

Warum sollen Wohlhabende denn nicht zahlen? Damit sie kostengünstig weiterhin die riesigen Fahrzeuge von BMW und Mercedes-Benz fahren können? Ein Tankrabatt für Gutverdiener ist schlichtweg Unsinn – und eine überflüssige und damit falsche Subvention. Diese Lehre können wir aus den 70ern ziehen.

Beim Thema Geldentwertung denken wir Deutschen schnell an das Jahr 1923, dessen Hyperinflation ein nationales Trauma darstellt. Nun haben wir eine Inflationsrate von 7,6 Prozent, die unangenehme Erinnerungen weckt. Als "gut" wird diese kaum jemand hierzulande empfinden.

Die Deutschen erinnern sich aus gutem Grund mit Schrecken an das Jahr 1923. Denn damals herrschte nicht nur eine Hyperinflation verbunden mit steigender Arbeitslosigkeit und Verarmung, sondern die nationale Einheit Deutschlands insgesamt war gefährdet. Franzosen und Belgier hatten das Ruhrgebiet besetzt …

… was ein Grund für die Hyperinflation gewesen ist.

Richtig. Dazu wollten Separatisten das Rheinland vom Deutschen Reich abspalten und in Sachsen und Thüringen planten Kommunisten, die Reichsregierung zu stürzen. Am 9. November wagte Adolf Hitler mit seinen Nationalsozialisten in München dann den Putschversuch. Alles zusammengenommen hinterließ das besagte Trauma.

Könnte eine hohe Inflation denn auch politische und wirtschaftliche Sprengkraft für den heutigen Euro-Raum entfalten?

Die Inflation könnte dem Euro tatsächlich gefährlich werden. Das müssen die europäischen Regierungen aber um jeden Preis verhindern. Denn ein Ende des Euros wäre genau in Putins Sinn.

Bleiben wir bei Russland: Das Land gilt trotz hoher Devisen- und Goldbestände faktisch als zahlungsunfähig. Ist es eine Folge der Sanktionen?

Technisch gesehen ist Russland zahlungsunfähig. Der Kreml hat Schulden nicht bedient, dann eine weitere Monatsfrist verstreichen lassen. Das ist aber tatsächlich eine Folge der Sanktionen, Russland hat Geld und Gold im Überfluss.

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Was auch an der europäischen Abhängigkeit von Gas und Öl aus Russland liegt.

Der Bedarf Europas an russischer Energie ist immer noch gewaltig. Auch deshalb ist Russland die Nation mit dem höchsten wirtschaftlichen Leistungsbilanz-Überschuss. Aber nicht nur das: Der Rubel ist zurzeit die stärkste Währung der Welt. Allen Sanktionen zum Trotz. Oder besser gesagt: wegen ihnen. Denn der hohe Kurs des Rubels liegt daran, dass der Kapitalfluss aufgrund der Sanktionen gestört ist.

So finanzkräftig Russland sein mag, ohne Zugang zu westlichen Produkten und Erzeugnissen wird Wladimir Putin irgendwann die Puste ausgehen.

Diese Ansicht teile ich. Die russische Luftfahrtindustrie braucht dringend Ersatzteile aus dem Westen, die russische Energiewirtschaft ebenso. Und auch militärisch macht sich das Embargo bemerkbar. Die russische Armee muss in der Ukraine Waffensysteme einsetzten, die weniger präzise sind. Putin kann sich diese Art der Kriegsführung gar nicht leisten. Jedenfalls nicht über längere Zeit.

Der Krieg wird möglicherweise noch Jahre andauern. Wird sich Russland irgendwann auf eine Verhandlungslösung einlassen? Zumal Putin das Land nicht ewig regieren kann.

Zurzeit scheint Putin zum Äußersten entschlossen. Ich habe keine Hoffnung auf einen baldigen Führungswechsel im Kreml. Wer sollte das auch sein? Putins Nachfolger könnte noch brutaler sein.

Wladimir Putin hat sein Land erneut in einen Krieg geführt, nun zeigt der Blick in die Geschichte des Russischen Reichs, dass Niederlagen in solchen Konflikten Russlands Herrscher immer wieder zu Reformen zwangen. Oder gar in Revolutionen endeten. Ist sich der heutige starke Mann im Kreml seines Sieges so sicher?

Putin ist volles Risiko gegangen. 1856 verlor Russland den Krimkrieg, später befreite Zar Alexander II. die Leibeigenen, nach der Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg kam es zur Einrichtung der ersten Duma. Von der Februarrevolution 1917 und der sich anschließenden Oktoberrevolution, die die Bolschewiki an die Macht brachte, ganz zu schweigen. Und der Krieg in Afghanistan war nicht die einzige Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion, hat aber sicherlich dazu beigetragen. Eine russische Niederlage in der Ukraine könnte also tatsächlich eine Wendung zum Besseren bewirken. Aber das ist Spekulation.

Nun befindet sich die Welt in einer Situation, in der sich die Krisen sehr eng aneinanderreihen. Sie veröffentlichen im kommenden Herbst mit "Schockmomente. Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung 1850 bis heute" ein Buch, das die Krisen der Vergangenheit untersucht. Gibt es Lehren aus der Vergangenheit, die wir beherzigen sollten?

Zurzeit haben wir verschiedene Schocks und ihre Folgen zu verarbeiten. Erst Corona, dann der russische Krieg gegen die Ukraine und die hohe Inflation. All diese Krisen sind miteinander verbunden und machen deutlich, wie eng die Welt miteinander vernetzt ist. Und wie verwundbar wir sind, wenn an einer Stelle etwas schiefgeht. So wie jetzt etwa mit den ausbleibenden Getreideexporten aus der Ukraine. Eine derartige Krise ereignet sich aber nicht zum ersten Mal in der Geschichte …

… das 19. Jahrhundert war etwa ein Zeitraum, in dem Nahrungsmittelkrisen für Verwerfungen sorgten.

Richtig. Nun könnte man annehmen, dass diese Krisen in der langfristigen Perspektive zu einer Abkehr der einzelnen Länder von der globalen Wirtschaft geführt hätten – um sich jeweils selbst zu versorgen. Aber das war nicht der Fall. Das Ergebnis waren stattdessen eine neue, leistungsfähigere Vernetzung und technische Innovationen. Und nicht zuletzt kristallisierten sich neue Vorstellungen von der Rolle des Staates wie der Unternehmen heraus. Beides ist nun auch mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Folge der gegenwärtigen Schocks.

Die sogenannte Geburt der modernen Aktiengesellschaft im Deutschen Reich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wäre ein Beispiel für Innovation?

Das ist ein gutes Beispiel. Damals wurde viel unternehmerische und wirtschaftliche Energie freigesetzt. Was innovative Unternehmen zu leisten imstande sind, hat gerade Deutschland in der Corona-Krise gezeigt. Der mRNA-Impfstoff von Biontech aus Mainz war ein Segen in dieser Zeit. Und damit sind die Möglichkeiten dieser Technologie nicht ausgeschöpft, auch im Kampf gegen den Krebs könnte sie helfen.

Gleichwohl hat Bundesfinanzminister Christian Lindner die Deutschen kürzlich angesichts gestörter Lieferketten und Energiemangels auf einige Jahre der Knappheiten eingeschworen. Wie beurteilen Sie die Lage?

Die Schwäche der deutschen Wirtschaft liegt nicht allein in den Problemen mit den Lieferketten und der Abhängigkeit vom russischen Gas begründet. Lange Zeit hat Deutschland etwa vom Wachstum in den Schwellenländern profitiert, diese Effekte lassen nun nach. Zudem wirkt sich auch die notwendige Umstellung von Verbrennern auf Elektroautomobile bereits aus. Es wird fraglos einen gewissen Mangel und Knappheiten geben, aber dafür werden sich Lösungen finden.

Also sehen Sie die Lage insgesamt weniger pessimistisch als Christian Lindner?

Ich jedenfalls sehe für Deutschlands wirtschaftliche Zukunft alles andere als schwarz.

Professor James, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Harold James via Videokonferenz
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