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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Historiker über Ukraine-Krise "Diese Worte sind eine ungeheure Drohung"
Russland droht der Ukraine mit Krieg, der Westen hofiert Wladimir Putin. Und begeht damit einen gewaltigen Fehler, sagt Historiker Karl Schlögel. Putins größte Furcht gelte etwas ganz anderem.
t-online: Professor Schlögel, 2014 hat Russland die Krim annektiert, es folgte der Krieg in der Ostukraine. Nun ließ Wladimir Putin Zehntausende Soldaten an der Grenze zum Nachbarland Ukraine aufmarschieren. Welche Ziele verfolgt Russland mit dieser Drohgebärde? Wird es zum Angriff kommen?
Karl Schlögel: Ob die russischen Truppen die Ukraine in den nächsten Tagen oder Wochen angreifen werden, ist schwer vorherzusagen. Fest steht aber: Russland will die Ukraine in die Knie zwingen und sie destabilisieren. Darin besteht Wladimir Putins eigentliches Ziel. Unabhängig davon, ob Russland die Ukraine morgen, übermorgen oder in einem halben Jahr tatsächlich attackieren sollte.
Wladimir Putin hat ein Faible für Geschichte, allerdings nach seiner Lesart. 2021 hat er mit "Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer" einen Aufsatz veröffentlicht, der eine kaum verhüllte Drohung an die Ukraine darstellt.
Richtig. In diesem Traktat hat Putin versucht, seiner Politik eine Art historischer Herleitung und Begründung zu geben. Der Inhalt ist infam: Russlands Präsident spricht der Ukraine ihre Eigenständigkeit und Souveränität ab. Der Schlussteil des Aufsatzes bildet dann nahezu die Legitimation eines Marschbefehls gegen Kiew. Ein anderes Papier macht mir allerdings fast noch mehr Sorgen.
Sie meinen den Artikel, den Putins Vertrauter Dmitri Medwedew im letzten Herbst in der russischen Tageszeitung "Kommersant" publizierte?
Medwedews Artikel ist in Deutschland leider viel zu wenig beachtet worden. Neben allen falschen Vorwürfen gegen die Ukraine und einem antisemitischen Grundton ist vor allem der letzte Satz darin bedenkenswert: "Wir haben Zeit". Diese Worte sind eine ungeheure Drohung. Was auch immer geschehen mag, wie viele westliche Politiker auch immer der Ukraine ihre Unterstützung versichern mögen: Am Ende entscheidet Moskau. Das ist die unmissverständliche Botschaft.
Aber hat Wladimir Putin denn tatsächlich Zeit? Er ist mittlerweile 69 Jahre alt.
Niemand kennt die Zukunft. Putins Herrschaft kann noch lange dauern, aber es gibt auch überraschende Wendungen, den Schwarzen Schwan, mit dem niemand gerechnet hat.
In welchem Zustand will Russlands Präsident sein Land denn schließlich einmal hinterlassen?
In Russland kursiert eine Redewendung: "Regieren wie Stalin, leben wie Abramowitsch", das heißt despotische Macht und gleichzeitig westlicher Komfort. Russland wollte eigentlich ein normales Land werden, aber Putin will zurück zur Großmacht, zu einer Neuauflage des Ostblocks, ja zur Vorherrschaft über Europa.
Karl Schlögel, Jahrgang 1948, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2013 Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Sein Buch "Terror und Traum. Moskau 1937" wurde mit dem Preis des Historischen Kollegs ausgezeichnet, ferner ist der Historiker Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung. 2015 veröffentlichte Schlögel "Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen", zuletzt erschien 2020 "Der Duft der Imperien. Chanel N° 5 und Rotes Moskau".
Nun fordert Russlands Präsident ironischerweise immer wieder Sicherheitsgarantien vom Westen. Obwohl sich dieser eher von Moskau bedroht sieht.
Es war Putins Russland, das die Nachkriegsgrenzen in Europa infrage gestellt hat – Moldawien, Georgien, Ukraine. Russland von Feinden eingekreist, das ist das Propagandamärchen der Moskauer Fernsehkanäle, das auch im Westen Echo findet, als könnte man nicht mehr unterscheiden, wer Aggressor ist und wer Opfer.
Wie sollten der Westen und die Nato aber nun konkret bei der Lösung der Ukraine-Krise vorgehen?
Es gibt gar keine Ukraine-Krise.
Wie?
Meiner Ansicht nach ist es schlichtweg falsch, von einer Ukraine-Krise zu sprechen. Die Ukraine will nichts anderes als in Ruhe gelassen werden, sie hat keine imperialen oder territorialen Ansprüche, sie ist mit ihrer wirtschaftlichen und demokratischen Entwicklung beschäftigt. Tatsächlich haben wir es mit einer Russland-Krise zu tun. Die Politik der Russländischen Föderation ist keine Reaktion auf äußere Entwicklungen der Europäischen Union, der Nato oder der Amerikaner, sondern Ergebnis der innerrussischen Probleme. Russland stagniert. Statt sich der anstrengenden Modernisierung zu stellen, setzt Putin auf einen kleinen erfolgreichen Krieg. Das hat schon einmal funktioniert. Es ist seltsam, dass man den Zusammenhang von Niedermachen gesellschaftlicher Bewegungen und Gleichschaltung im Inneren mit Putins Flucht nach vorn in den Krieg nicht wahrhaben will.
Die Russland-Krise hat also noch ganz andere Ursachen als das Abstecken von Einflusszonen.
Man macht es sich zu leicht, wenn man nur von der Geopolitik redet, der Begriff der Geopolitik wird im Zusammenhang mit Russland geradezu inflationär gebraucht. Politik ist immer auch Geopolitik, auch im Kalten Krieg gab es Geopolitik. Aber es wäre gut, etwas mehr in Soziologie und Herrschaftsanalyse zu investieren, nicht nur in Geografie, vielleicht auch mehr in konkrete Kenntnis vor Ort als in historische Analogien und Zukunftsspekulationen.
Weil die russische Regierung etwa verstärkt gegen ausländische Medien im Land vorgeht wie zuletzt mit der Schließung des Moskauer Büros der Deutschen Welle?
Zuerst geht es um die Zerstörung der Reste von Öffentlichkeit in Russland. Es vergeht kein Tag, an dem nicht kritische Journalisten, Bürgerrechtler, ausgeschaltet werden mit Gerichtsverfahren, Inhaftierungen, physischen Angriffen. Einerseits findet ein Exodus kritischer Köpfe statt, andererseits geht ein neuer Eiserner Vorhang herunter. Wir kümmern uns zu wenig um das, was sich im Lande tut. Wir wissen einfach viel zu wenig.
Das sowjetische Imperium ist vor rund 30 Jahren untergegangen. Hat Russland diesen Verlust jemals verarbeitet?
Nein. Russland weiß bis heute selbst nicht, was es auf die Frage "Wer sind wir?" antworten soll – russisch, ein Vielvölkerstaat, zum Westen gehörig oder eine euro-asiatische Zivilisation. Die Russländische Föderation ist aus dem Ende eines Imperiums, des Russischen Reiches und der Sowjetunion, hervorgegangen, ein postimperiales Gebilde also. Der Selbstverständigungsprozess, der in den 1990er Jahren im Gange war, ist unter Putin zunehmend unterdrückt worden. Die Frage, was eine moderne russländische Nation sein soll, lässt sich mit Putins Idee von der russischen Welt oder dem Eurasiertum nicht beantworten.
Allerdings behält sich Wladimir Putin die Entscheidung vor, was Russland ausmacht.
Er hat es ja mehrfach formuliert in Anlehnung an seine Vorbilder, die Zaren Nikolaus I. und Alexander III. Aber er ist kein Autokrat alten Stils, er bedient sich aller möglicher Elemente; Orthodoxe Kirche und Hollywood, Stalin und Philosophie der antibolschewistischen Emigration, von Olympia-Inszenierung und Blitzkrieg. Aber vor der Modernisierung des Landes schreckt er zurück.
Bitte führen Sie das näher aus.
Russland ist ein Ressourcenstaat, es exportiert gewaltige Mengen an Rohstoffen, vor allem Öl und Gas, aber innovative Produkte gibt es kaum, es sei denn beim Militär. Alles Kapital konzentriert sich in Moskau, während die Provinz zurückbleibt. Gewaltige Reichtümer werden ins Ausland transferiert. Dazu kommt ein beklagenswerter "Brain Drain", wie man es heute ausdrückt: Millionen junge und gut ausgebildete Menschen haben das Land im Laufe der Jahre verlassen. Zusammengefasst, um Russlands Zukunft ist es schlecht bestellt.
Russland lebt auch von den Erlösen durch die Energielieferungen an den Westen. War nun der Bau von Nord Stream 2 ein Fehler?
Nord Stream 2 ist unter anderem mit der Begründung gebaut worden, durch diese Pipeline die Ukraine umgehen zu können. Allein diese Tatsache macht deutlich, dass Nord Stream 2 ein geopolitisches Projekt ist – und keineswegs eine privatwirtschaftliche Unternehmung, wie es auch die Regierung Angela Merkel so lange behauptet hat.
Aber nochmal nachgehakt: Ist Nord Stream 2 ein Fehler?
Die eigentliche Frage ist noch grundsätzlicher: Die Europäer müssen sich entscheiden, ob sie ein politisches System, das sich derart expansiv und aggressiv gebärdet, wie dasjenige von Wladimir Putin, mitfinanzieren wollen.
Nun sind wir in Deutschland aber ebenso dringend auf das russische Erdgas angewiesen, wie Waldimir Putin auf das westliche Geld.
Es ist mir nicht klar, wie die Deutschen rasch aus der auch selbst verantworteten Falle herauskommen wollen: gleichzeitig die alten Energieformen abzuschaffen und sich von russischen Importen abhängig zu machen. Aber Putin hat auch Russland in eine Sackgasse manövriert. Wie schon erwähnt, ist Russland überaus abhängig vom Export seiner Bodenschätze. Und diese sind irgendwann erschöpft. Eine vorausschauende Politik würde hingegen neue Wirtschaftszweige fördern, das intellektuelle, organisatorische Potenzial ist ja vorhanden – wenn man es nur zum Zug kommen lässt.
Wo wir gerade über den Westen sprechen und seine Haltung zu Russland: Welche Fehler haben wir begangen?
Dem Westen hat es an Gespür im Umgang mit Russland nach 1991 gemangelt. Es gab eine Mischung aus Ahnungslosigkeit, Triumphalismus, aber auch Angst, dass etwas passieren könnte. Der Westen, die Nato, die Deutschen – sie alle waren ja überrumpelt vom Fall des Eisernen Vorhangs im November 1989 – und alle Beteiligten machten daraus das, was sie für das Beste hielten.
Vor allem wurden zu Russlands Missfallen zahlreiche osteuropäische Staaten Mitglieder der Nato.
Was auch sehr verständlich ist. Polen und die baltischen Staaten etwa haben ihre historische Erfahrung mit Russland beziehungsweise der Sowjetunion gemacht. Das Bedürfnis dieser Länder nach Sicherheit war mehr als verständlich.
Immer wieder behauptet Wladimir Putin, dass der Sowjetunion versprochen worden wäre, die Nato nicht vor ihre Haustür hin zu erweitern.
Eine solche Zusage hat es in verbindlicher Form nicht gegeben, wie damals Beteiligte von auf westlicher Seite bis heute versichern. Ebenso wenig überzeugt der Vorwurf, dass eine sogenannte Nato-Lobby etwa Polen in das Verteidigungsbündnis hineinbugsiert habe.
2014 hat US-Präsident Barack Obama Russland einmal als mehr oder weniger "schwach" bezeichnet. Wie kam diese Wortwahl in Moskau an?
Das war eine von Ahnungslosigkeit geprägte taktlose Bemerkung Obamas, die viele in Russland, nicht nur Putin, gekränkt hat. Aber aus Kränkungen lassen sich nicht Gewaltaktionen einer nuklearen Großmacht ableiten.
Die Liste der Provokationen ist mittlerweile überaus lang: 2018 wurde in Großbritannien der frühere Doppelagent Sergei Skripal mit dem sowjetischen Kampfstoff Nowitschok vergiftet, ebenso wie es dem mittlerweile in eine Strafkolonie gesperrten Oppositionellen Alexei Nawalny 2020 passiert ist. 2019 erschoss ein russischer Staatsbürger den Asylsuchenden Selimchan Changoschwili im Berliner Kleinen Tiergarten im Auftrag des russischen Staates, wie ein deutsches Gericht festgestellt hat. Ist Russland mittlerweile eine Art Terrorstaat?
Russland unter Putin ist unberechenbar geworden. Im Westen gehen wir bei der Einschätzung immer von unserem eigenen gesellschaftlichen und politischen System aus, um das Land zu verstehen. So funktioniert es aber nicht. Die Duma ist ja kein Parlament, die politischen Parteien in Russland sind keine richtigen Parteien. Und schon gar keine Opposition. Es sind Imitationen, Inszenierungen, Fassaden einer postmodernen Diktatur.
Also genau genommen ist alles auf Wladimir Putin ausgerichtet.
Wir beschäftigen uns im Westen zu viel mit dem, was vermeintlich in Putins Kopf vorgeht. Er will nicht enden wie Libyens Diktator Gaddafi, seine Macht absichern – das ist sehr wahrscheinlich. Ansonsten sollten Deutsche und Europäer mehr darüber nachdenken, was sie eigentlich wollen und wofür sie selber einstehen.
Was meinen Sie?
Der Westen hat sich von Putin erpressen lassen. Schauen wir auf die Fakten: Erst lässt Russland Truppen an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren, stellt Forderungen auf, die überhaupt nicht erfüllt werden können. Was passierte dann? Die Führungsspitze der westlichen Welt pilgerte nach Moskau. Putin zu hofieren ist aber ein schwerer Fehler. So etwas trägt zu einem gewaltigen Zuwachs an Prestige in der gleichgeschalteten russischen Öffentlichkeit bei. Es rächt sich, dass man Putins Vabanque-Spiel nicht wirklich ernst genommen hat.
Auch militärisch?
Niemand darf einem befreundeten Land, das angegriffen wird, verwehren, sich Waffen zur Verteidigung zu beschaffen, erst recht nicht die Deutschen, die die Ukraine im Zweiten Weltkrieg entvölkert und verwüstet haben. Vor Jahren hätte aber bereits massiv die Ansiedlung von Unternehmen in dem Land unterstützt werden müssen. Die Ukraine ist in ihrer Existenz bedroht, sie ringt um ihre Entwicklung. Diesen Prozess muss Europa begleiten und fördern. Putins bösartige Politik will die Ukraine hingegen zerstören.
Gibt es denn jemanden, vor dem Wladimir Putin tatsächlich Respekt hat?
Putin fürchtet sich vor allen, für die der Name von Alexei Nawalny steht. Niemals spricht Putin seinen Namen aus, es grenzt geradezu an heidnischen Aberglauben.
Woran liegt das?
Nawalnys Botschaft an die Russen ist knapp, aber wirkungsmächtig: "Fürchtet euch nicht!" Und Furcht ist eben Putins mächtigste Waffe.
Professor Schlögel, vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Karl Schlögel via Videokonferenz