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Drohender Corona-Crash? Experte: "War wahrscheinlich Rettung in letzter Sekunde"


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Drohender Corona-Crash
"Es war wahrscheinlich Rettung in letzter Sekunde"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 14.09.2021Lesedauer: 9 Min.
Börsenhändler in New York: Im März 2020 wäre es beinahe zu einem globalen Kollaps der Finanzmärkte gekommen, sagt Adam Tooze.Vergrößern des Bildes
Börsenhändler in New York: Im März 2020 wäre es beinahe zu einem globalen Kollaps der Finanzmärkte gekommen, sagt Adam Tooze. (Quelle: Andrew Kelly/reuters)
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Corona hätte Anfang 2020 fast ein noch viel größeres Desaster ausgelöst. Warum unsere Welt am Abgrund stand und was Donald Trump dagegen getan hat, erklärt der Historiker Adam Tooze.

Mitte März 2020 gingen Fotos aus der oberitalienischen Stadt Bergamo um die Welt: Das Coronavirus geriet außer Kontrolle, Bilder zeigten röchelnde Patienten, ausgelaugte Krankenschwestern, Militärtransporter mit Särgen. Das Entsetzen war groß. Dagegen nahmen nur wenige Menschen Notiz von der drohenden Katastrophe, die sich zeitgleich auf der anderen Seite des Atlantiks anbahnte – und fast noch viel heftigere Folgen gehabt hätte: Wären die internationalen Finanzmärkte kollabiert, unsere Welt wäre heute eine andere.

Einer, der sich so gut wie kaum ein anderer mit Finanzturbulenzen auskennt, ist Adam Tooze. Der britische Historiker hat die Weltwirtschaftskrise in den Jahren ab 2007 erforscht und das Standardwerk dazu geschrieben. In seinem neuen Buch beschreibt er nun unter anderem, wie Corona die globalen Finanzströme einfror – und wie nahe wir alle deshalb am Abgrund standen. Im Interview mit t-online erklärt Adam Tooze, warum unsere Welt nie mehr normal sein wird, wen er für den besten künftigen Kanzler hält und warum Europa die Lehre aus Corona nicht verstanden zu haben scheint:

t-online: Professor Tooze, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit Wirtschafts- und Finanzkrisen, jetzt haben Sie ein Buch über die Corona-Krise geschrieben: Stand die Welt jemals so nah vor dem Abgrund wie im Jahr 2020?

Adam Tooze: Die Corona-Krise ist mit nichts vergleichbar, was die Menschheit jemals zuvor erlebt hat. Ein Großteil der Weltwirtschaft wurde stillgelegt, das globale Bruttoinlandsprodukt stürzte im April 2020 um 20 Prozent im Vergleich zum Jahresanfang ab. So einen freien Fall hatte es bisher nie gegeben, auch nicht während der Großen Depression der Dreißigerjahre. Dabei haben viele Menschen gar nichts von der eigentlichen Krise mitbekommen, die sich im Hintergrund abgespielt hat.

Sie meinen die Turbulenzen um die US-Staatsanleihen im März 2020?

Turbulenz ist ein ziemlich harmloses Wort für das, was damals geschah. Es war eine Erschütterung nie geahnten Ausmaßes. Der Markt für amerikanische Staatsanleihen hörte im März 2020 schlichtweg auf zu funktionieren. Wir reden hier von einem Markt, der Billionen Dollar umfasst. Auch das mag noch harmlos klingen, aber auf US-Staatsanleihen baut eben der ganze Globus seine Reserven an Liquidität auf. Auch Großbritannien und die Eurozone wurden in Mitleidenschaft gezogen. Die Lage war außerordentlich ernst, beinahe hätte es den Rest der Welt mit hinfort gerissen.

Der amerikanischen Zentralbank, dem Federal Reserve System, war die Rettung zu verdanken.

Die Federal Reserve ist auch unter Donald Trump eine sehr kompetente Institution gewesen. Ihr Chef, Jerome Powell, wandte unter anderem Mittel an, die sich auch in der Krise von 2008 als hilfreich erwiesen hatten: Die Fed senkte die Zinsen, unterstützte die Geldmärkte, kaufte Staatsanleihen auf. Letzteres in einem gigantischen Ausmaß, Ende März erreichte sie eine Rate von einer Million Dollar pro Sekunde! Binnen kurzer Zeit hatte die Fed fünf Prozent dieses 20-Billionen-Dollar-Marktes aufgekauft. Das waren Interventionsgrößen, die es niemals zuvor gegeben hatte. Es war wahrscheinlich Rettung in letzter Sekunde.

Adam Tooze, Jahrgang 1967, zählt zu den führenden Wirtschaftshistorikern der Gegenwart. Seine Bücher "Ökonomie der Zerstörung" und "Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben" sind Standardwerke. Tooze lehrte in Cambridge und Yale, mittlerweile ist der Historiker Direktor des European Institute an der Columbia University in New York. Seinen Newsletter, Chartbook, können Sie bei Substack lesen. Am 16. September 2021 erscheint sein neues Buch, "Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen", im Verlag C.H. Beck.

Was wäre das Worst-Case-Szenario gewesen?

Im schlimmsten Fall wären die weltweiten Finanzmärkte kollabiert, so gut wie jeder Mensch hätte die Folgen zu spüren bekommen. Game over.

Und das alles mit Donald Trump im Weißen Haus. War der Ex-Präsident mit seiner Neigung zum exzessiven Geldausgeben eher Belastung oder Vorteil in dieser Krise? Die Mitarbeiter der Fed hatte Trump bereits in der Vergangenheit als "Holzköpfe" beschimpft.

Trump war zwar beleidigend im Umgang mit der Fed, aber beileibe nicht der schlechteste Präsident zu diesem Zeitpunkt: Er hatte keinerlei wirtschaftspolitische Vorstellungen, war ein knallharter und zynischer Pragmatiker. Und wenn es je einen Präsidenten gegeben hat, für den Geld einfach aus dem Nichts erschaffen wird, dann war es Trump. Solange die Schecks seinen Namen trugen, hatte er keinerlei Problem damit, sie auszustellen.

Donald Trumps Zeit im Weißen Haus ist Geschichte, auch im Bundeskanzleramt in Berlin wird es bald eine neue Führung nach Angela Merkel geben. Wer ist Ihr Favorit als neuer Regierungschef in Deutschland, gerade in Bezug auf die Bekämpfung der Corona-Krise?

Warum ausgerechnet der Kandidat der Sozialdemokraten?

Es wäre für Deutschland doch sehr vorteilhaft, jemanden im Kanzleramt zu haben, der Ahnung von Wirtschaft und Finanzen hat. Italiens Regierungschef Mario Draghi ist ein Top-Ökonom, Emmanuel Macron in Paris kommt auch aus der Geschäftswelt. Außerdem ist Scholz derjenige, der als Nachfolger am ehesten in der Linie Merkels stünde.

Das wird der christdemokratische Kanzlerkandidat Armin Laschet aber gar nicht gerne hören.

Den Parteigrenzen zum Trotz ist dies allerdings Realität. Laschet hat zurzeit auch massive Probleme, seine Umfragewerte sind erstaunlich tief eingebrochen. Wenn es weiterhin so schlecht läuft, kann Laschet froh sein, wenn die Union überhaupt in die Regierung kommt.

Bleiben wir einmal bei Olaf Scholz. Bitte noch genauer: Warum wäre er aus Ihrer Sicht eine gute Wahl?

Olaf Scholz verfügt über mehrere gute Eigenschaften. Eine davon ist, dass er im richtigen Augenblick den Mund zu halten weiß. Er stichelt nicht im unpassenden Moment, wie es Wolfgang Schäuble als Finanzminister bisweilen zu tun pflegte. Scholz hat es auch nicht nötig, sich wie sein Vorgänger als konservativer Gralshüter der Schwarzen Null zu profilieren. Dass die SPD in den vergangenen vier Jahren das Ruder im Finanzministerium geführt hat, war sehr wichtig für die Fortentwicklung der gesamten europäischen Politik.

Nennen Sie bitte ein Beispiel.

2018 und 2019 ging es in Italien wegen dem hohen Schuldenstand hoch her. Diese wurde mit ruhiger Hand entschärft. Und es ist auch ein offenes Geheimnis, dass in der kritischen Phase der Corona-Krise im Frühjahr 2020 eine Art Hotline zwischen dem deutschen Finanzministerium und dem französischen Finanzminister Bruno Le Maire existierte. Scholz betreibt eine pragmatische und flexible, aber auch konsequente Politik. Er weiß die Freiräume der Schuldenbremse auszunutzen.

Und wie schätzen Sie Armin Laschet und die grüne Kandidatin Annalena Baerbock ein?

Annalena Baerbock hat ein großes Problem im Wahlkampf offenbart: Sie ist überaus verletzlich.

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Eine durchaus menschliche Eigenschaft.

Natürlich. Aber wenn eine Partei eine Kandidatin aufstellt, darf diese nicht verwundbar sein. Das Verhalten der Medien in Deutschland ist doch bekannt: Mit Baerbocks Plagiaten war gewissermaßen Blut im Wasser, und die Haie kamen angeschwommen.

Jeder kann mal einen Fehler machen.

Auch das ist richtig. Aber bei Baerbock fehlt es bislang an der nötigen Substanz und der persönlichen Ernsthaftigkeit, um wieder aufzuschließen. Armin Laschet hat ein ähnliches Problem: Ein Kanzlerkandidat der Union muss einfach ein gewisses politisches Gewicht mit sich bringen. Das ist jetzt keine tiefgehende Analyse, aber ich glaube, darin liegt der Kern des Problems. Dazu tritt der Faktor, dass die deutschen Wähler politisch sehr mobil geworden sind.

Falls Olaf Scholz wirklich Kanzler wird, wer wäre dann aus Ihrer Sicht der beste Nachfolger im Finanzministerium?

Habeck? Aber der hat doch bisher noch nie ein finanzpolitisches Amt bekleidet!

Robert Habeck und Olaf Scholz ist beiden bewusst, wie zentral Wirtschafts- und Finanzpolitik für Deutschland und Europa sind. Der Kontinent ist enorm gespalten, in gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht. Eine kluge Politik kann da polarisierenden Kräften entgegenwirken. Habeck ist smart und wird sich um guten Rat bemühen.

Das Wort "Krise" ist in unserem Gespräch nun schon mehrfach gefallen. 2007 und 2008 ereignete sich die Weltfinanzkrise, dicht gefolgt von der Euro-Krise, nun haben wir die Corona-Krise. Ist der Ausnahmezustand mittlerweile die neue Normalität?

Normalität ist mittlerweile eine Fata Morgana. Wir sollten uns von dieser Vorstellung verabschieden. Im amerikanischen Markt für US-Staatsanleihen war es auch schon im September 2019 zu Störungen gekommen. Auch die EZB hat im Herbst 2019 wieder mit dem Ankauf von Anleihen begonnen. Damals schon war klar, dass "Normalisierung" außer Reichweite liegt. Jetzt erst recht.

Worunter positive Zinsen fallen, was sich gerade viele deutsche Sparer wünschen?

Richtig. Wenn Sie nun das Coronavirus nicht als Ausrutscher betrachten, sondern als einen Indikator, dass das Verhältnis zwischen Natur und Menschheit vollkommen gestört ist, dann ist eine Schlussfolgerung sehr naheliegend: Normalität, wie die Menschen etwa die Fünfziger- oder Neunzigerjahre empfunden haben mögen, wird nicht mehr herzustellen sein. Wer den Bericht des Weltklimarats liest, kann gar nicht anders, als sich einzugestehen, dass wir uns in einer sich steigernden Dauerkrise befinden.

Das klingt nicht schön.

So ist es aber. Wir können jedoch lernen, mit der Wirklichkeit umzugehen. Verzeihen Sie den Vergleich, aber ich habe während der Olympischen Spiele den Wettbewerb im Kajak gesehen. Das ist ein passendes Bild: Wir befinden uns gewissermaßen im reißenden Fluss – und müssen die nötigen Muskeln entwickeln, um wieder Balance zu finden und nicht im Wasser zu landen. Um die Metapher nicht überzustrapazieren: Wir brauchen Instrumente, um in Fragen der Politik, der Wirtschaft und der Finanzen Stabilität und Flexibilität zugleich zu erreichen.

In den USA will Präsident Joe Biden mit einem viele Milliarden Dollar umfassenden Finanzpaket das Land sanieren.

Biden will die in der Tat sehr marode Infrastruktur in den USA modernisieren. Sein Ansatz geht noch weiter, er will auch eine Familienpolitik installieren, die es bislang in den USA kaum gibt. Diese Ziele werden viele, viele Milliarden Dollar erfordern. Aber generell sind die Vereinigten Staaten auf einem guten Erholungskurs. Europas Wirtschaft droht hingegen ein Long-Covid-Effekt.

Aber Europa hat sich doch zusammengerauft und einen Wiederaufbaufonds in Höhe von 750 Milliarden Euro aufgelegt. Deutschland hat dafür sogar seine Abwehrschlacht gegen ein gemeinsames Schuldenmachen aufgegeben. In Ihrem Buch loben Sie diese Entscheidung von Bundeskanzlerin Merkel.

Von europapolitischer Seite ist das Investitionspaket imponierend. Allein seine Komplexität ist beeindruckend – grün, digital, rechtsstaatliche Konditionalität. Alles schön und gut. Das Problem besteht allerdings darin, dass Europas Wachstumsrate schon vor Corona relativ schwach gewesen ist. Und das Paket ist einfach nicht groß genug. Dazu kommt, dass jeder finanzpolitische Impuls im folgenden Jahr eigentlich erneut erfolgen muss. Wenn es 2021 50 Milliarden sind, müssen es 2022 auch 50 Milliarden sein. Und wenn man einen zusätzlichen Impuls wünscht, müssen es sogar 100 Milliarden sein. Sonst entsteht kein Wachstum.

Wir müssen also viel lernen, lautet die Aufgabe für die Zukunft. Aber werden wir denn für die nächste Pandemie besser gerüstet sein?

Wir haben doch noch nicht einmal Corona verdaut, sondern stecken noch mittendrin in der Pandemie. Wenn ich mir das große Investitionsprogramm der Europäischen Union anschaue, zweifle ich allerdings daran, dass die Lektion aus Corona verstanden worden ist. Mit viel Geld will die EU die Energiewende vorantreiben, wo aber sind die Milliardeninvestitionen in die Biotechnologie? Die hat uns gerettet, und sie könnte noch Großes leisten, etwa im Kampf gegen Krankheiten wie Malaria. Dagegen fällt das EU4Health-Programm, mit einem Budget von 5,1 Milliarden über 7 Jahre verteilt, sehr bescheiden aus. Zwischen 2014 und 2020 hat die EU nur eine Milliarde für die Förderung von Impfstoffen ausgegeben. Das muss sich ändern. Die Ambitionen beim Klima und der Digitalisierung gehen auch heute noch viel weiter als im Umgang mit Risiken wie Pandemien.

Bevor die Impfstoffe zur Verfügung standen, behalfen sich die meisten Regierungen der Welt, indem sie das öffentliche Leben mehr oder weniger vollständig stilllegten, um das Virus einzudämmen. War das richtig?

Die Maßnahmen waren extrem, der Preis könnte in der Nachbetrachtung zu hoch gewesen sein. Aber ich maße mir kein Urteil an, sondern will in meinem Buch historisch darstellen, wie es zur Stilllegung der Welt gekommen ist. In einer modernen Gesellschaft entscheiden Regierungen aufgrund von wissenschaftlichen Prognosen – und im Falle einer Bedrohung durch ein potenziell tödliches Virus muss dies in Windeseile erfolgen.

Anfang 2020 waren die Prognosen überaus alarmierend.

Die Prognosen waren dramatisch, die Einsätze hoch. Auf der einen Seite stand das Leben ungezählter Menschen auf dem Spiel, ebenso der Zusammenbruch der Gesundheitssysteme. Auf der anderen Seite war mit gigantischen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kosten zu rechnen. Eigentlich hat man viel zu spät gehandelt, bereits im Februar 2020 hätte der Luftverkehr gezielt eingeschränkt werden müssen. Wer das allerdings damals im Westen gefordert hätte, wäre mit ziemlicher Sicherheit ausgelacht worden. Als es dann richtig kritisch wurde, blieb fast allen Regierungen nichts anderes mehr übrig, als das öffentliche und wirtschaftliche Leben einzufrieren.

War Chinas Vorgehen in Form eines harten Shutdowns richtig?

Im von der Kommunistischen Partei geführten China hat es funktioniert, in demokratischen westlichen Gesellschaften gestaltet sich eine solche Lösung weitaus schwieriger. Unsere Fähigkeit, mit solchen Bedrohungen umzugehen, ist begrenzt. Das sollte uns allen bewusst sein.

Also bleibt uns im Westen nur die Hoffnung, dass Technologie, insbesondere die Biotechnologie, in Zukunft Schlimmes zu verhindern hilft?

Das wird sie sicher tun. Allerdings bin ich kein reiner Technikgläubiger. Falls das Coronavirus doch einem Laboratorium entstammen sollte, werde ich sehr unruhig beim Gedanken an die vielen, vielen Labore rund um den Globus – und an das, was sich darin befindet.

Professor Tooze, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Adam Tooze via Zoom
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