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Katastrophe 1994: Warum die "Estonia" in den Fluten der Ostsee versank


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Neue Theorie
Warum die "Estonia" in den Fluten der Ostsee versank

Von Angelika Franz

01.11.2020Lesedauer: 6 Min.
Bugklappe der "Estonia": Beim Untergang der Autofähre starben Hunderte Menschen.Vergrößern des Bildes
Bugklappe der "Estonia": Beim Untergang der Autofähre starben Hunderte Menschen. (Quelle: Lehtikuva Avikainen/dpa)
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Seit die "Estonia" 1994 versank, schwären die Mythen um ihren Untergang. War ein U-Boot beteiligt? Ein neuer Dokumentarfilm will Licht ins Dunkel bringen. Dabei ist die Wahrheit längst bekannt.

Am Abend des 28. September 1994 war nichts so, wie es sein sollte an Bord der Autofähre "Estonia". Eigentlich hätte das Schiff schon lange ablegen sollen in der estländischen Hauptstadt Tallinn, um am nächsten Morgen pünktlich in Stockholm zu sein. Verzögerte Ankunftszeiten kosten Geld, das wollte Kapitän Arvo Andresson auf jeden Fall vermeiden. Er würde versuchen, schneller zu fahren, doch der Wetterbericht verhieß nichts Gutes.

Schwere See war vorausgesagt für die Ostsee vor der finnischen Südküste. Um 19:17 Uhr – 17 Minuten zu spät – legte die "Estonia" schließlich ab. Sie sollte nie ankommen. Gegen 01:00 Uhr in der Nacht riss unter dem Druck der stürmischen See das Bugvisier vor dem Autodeck ab und Wasser strömte ungehindert ins Innere der Fähre. 852 Menschen starben in der eiskalten Ostsee.

Die meisten von ihnen ertranken eingeschlossen im Schiffsrumpf, der zu einem riesigen stählernen Sarg wurde, nur 94 Opfer konnten tot in der Nähe des Wracks treibend geborgen werden. 137 Passagiere und Besatzungsmitglieder überlebten die Katastrophe. Der Untergang der "Estonia" ist bis heute das größte Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte. Im Video oben oder hier sehen Sie Aufnahmen der Überlebenden.

Woher stammt der lange Riss?

Über ein Vierteljahrhundert ist es her, dass die Autofähre in den Fluten versank – doch die Wogen, die das Unglück damals schlug, sind bis heute nicht geglättet. Zahlreiche Verschwörungstheorien ranken sich um das Wrack. Und seit im letzten Monat der TV-Sender Discovery Channel den Dokumentarfilm "Estonia – der Fund, der alles ändert" ausstrahlte, ist eine neue hinzugekommen. In der Dokumentation zeigen Unterwasseraufnahmen einen klaffenden vier Meter langen Riss in der Bugwand der Fähre.

Für Margus Kurm, ehemaliger Leiter einer "Estonia"-Untersuchungskommission, ist die Sachlage klar: Nur die Kollision mit einem U-Boot kann diesen fatalen Schaden verursacht haben. Die Empörung ist groß genug, dass die Regierungen der vom Unglück betroffenen Staaten Estland, Schweden und Finnland eine gemeinsame Erklärung veröffentlichten, nun der Sache endgültig auf den Grund gehen zu wollen – 26 Jahre nach dem Untergang der "Estonia".

Es wäre nicht die erste Suche nach einem Schuldigen für die Tragödie. Die erste Untersuchungskommission der drei Staaten arbeitete bereits von 1994 bis 1997. Verursacht worden sei die Katastrophe, so das Ergebnis der damaligen Studie, durch Sicherheitsmängel am aufklappbaren Bugvisier. Die Scharniere seien eine Fehlkonstruktion gewesen, viel zu schwach, um dem Wasserdruck bei schwerer See standzuhalten.

"Passt nicht mehr in den Hubschrauber"

Verantwortlich wäre für das Desaster: die Meyer Werft im niedersächsischen Papenburg, bei der die "Estonia" 1980 vom Stapel gelaufen war. Schade nur, dass für die Beweisaufnahme der Bolzen fehlte, der die Klappe mit dem Schiffsrumpf verband. Zwar konnten Taucher ihn aus dem Wrack bergen, doch statt das Beweisstück an Land zu bringen warf Börje Stenstörm, Vertreter der Untersuchungskommission, es über Bord zurück in die Tiefen der Ostsee. "Der passt nicht mehr in den Hubschrauber", lautete seine lapidare Begründung.

Das konnte die Meyer Werft – gegründet 1795 am Papenburger Hauptkanal und seit sieben Generation im Familienbesitz – nicht auf sich sitzen lassen und stellte als Antwort auf das Gutachten ein eigenes Expertenteam auf. Ihr Hauptansatz waren Berichte einiger Überlebender, die unmittelbar vor dem Untergang Explosionsgeräusche vernommen hatten.

Das internationale Team studierte Videoaufnahmen, die Tauchroboter von der Bordwand gemacht hatten – und fand tatsächlich aufgerissene Stellen, die für den britischen Ex-Marine und Sprengstoffexperten Brian Braidwood eindeutig nach Bombenlöchern aussahen. Sogar weitere undetonierte Sprengstoffpakete meinte der Hamburger Kapitän Werner Hummel am Schiffsrumpf noch ausmachen zu können.

Woher stammt der große Druck?

Das Gutachten der Meyer Werft bekam Rückenwind, als im Jahr 2000 die deutsche Fernsehjournalistin Jutta Rabe und der amerikanische Taucher Gregg Bemis eine geheime Expedition starteten, zwei unscheinbare dreieckige Metallstücke, etwa 5 mal 15 Zentimeter groß, vom Rand der vermeintlichen Bombenlöcher bargen und sie drei unabhängigen Instituten zur Prüfung vorlegten.

Alle drei Forschungseinrichtungen waren sich einig: Das Metall zeigte Gefügeveränderungen – verursacht durch große Druckeinwirkung, vermutlich eine Explosion. Etwa zeitgleich tauchte ein estnischer Kadett auf, der am Vorabend des Unglücks auf dem Schulschiff "Linda" ein fremdes Funkgespräch mitgehört haben will. Die Hafenkontrolle habe von den Offizieren der "Estonia" wissen wollen, ob Spürhunde an Bord der Fähre eine Bombe gefunden hätten, gab er in einem Interview zu Protokoll.

Fast hätte die Bomben-Theorie an Momentum gewonnen – wenn nicht das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", das sich zunächst an der Bergung und Untersuchung der Bordwandstücke beteiligte, dann aber seine Unterstützung zurückzog, eine weitere Meinung von der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) eingeholt hätte. Die Veränderungen im Metall, folgerten die Experten der BAM, seinen keineswegs durch eine Explosion verursacht worden, sondern zeugten von einer ganz normalen Rostschutzbehandlung.

Derartige Spuren entstünden, wenn man aus kurzer Entfernung winziger Stahlkugeln mit bis zu 80 Metern pro Sekunde auf die Bordwand schießt, um die Bleche zu reinigen, bevor Rostschutzfarbe aufgetragen werden kann – bei Schiffen ein Routinevorgang.

Bomben oder Sicherheitsmängel?

Beendet waren die Spekulationen damit allerdings nicht. Sie nahmen im Gegenteil erst richtig Fahrt auf, als 2004 bekannt wurde, dass sich an Bord der "Estonia" nicht nur Menschen und Autos befunden hatten. Schon früher war bei der Überprüfung der Ladeliste aufgefallen, dass es Unstimmigkeiten gab. Im Bauch der "Estonia" lagen Kisten, die bei der Anlieferung nicht kontrolliert worden waren – nicht kontrolliert werden durften.

Nun verriet ein schwedischer Zollbeamter, was es mit dieser Fracht auf sich hatte: Mitte der 1990er Jahre war es übliche Praxis gewesen, Militärelektronik und Waffen aus dem russischen Raum auf scheinbar harmlosen zivilen Passagierfähren über die Ostsee zu transportieren. Auch die "Estonia" war so ein trojanisches Pferd gewesen. Erneut wurde eine internationale Untersuchungskommission eingesetzt.

Der ehemalige estnische Außenminister Trimvi Velliste gab zu: Ja, er sei für diese Transporte verantwortlich – ebenso wie der damalige estnische Premierminister Mart Laar. Besonders pikant: Velliste war Mitglied des ersten Untersuchungsausschusses zum Untergang der Fähre gewesen. Eine Computersimulation sollte nun endgültige Klarheit bringen, ob Bomben im Spiel waren oder eklatante Sicherheitsmängel. Den Auftrag dafür bekamen unter anderen die Hamburgische Schiffsbauversuchsanstalt in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Hamburg.

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Die Forschergruppe berechnete Modelle und setzte sie in ein virtuelles Becken, in dem die stürmische Ostsee des 28. September 1994 tobte. Das Ergebnis war eindeutig. Bomben wären überhaupt nicht nötig gewesen, um das Bugvisier abzusprengen. Denn eigentlich war die "Estonia" gar nicht für eine Fahrt auf offener See konstruiert, mehr als 20 Seemeilen hätte sie sich nie von der Küste entfernen dürfen. Zudem klemmten sowohl das Visier als auch die dahintergelegene Rampe schon beim Verladen der Autos in Tallinn, Crewmitglieder berichteten, dass sie Matratzen zum Bug hatten schleppen müssen, um undichte Stellen zu stopfen.

Fataler Fehler des Kapitäns

Wie durch die Berechnungen schnell klar wurde, hatten die weit über fünf Meter hohen Brecher auf offener See leichtes Spiel mit dem Bugvisier und rissen es ab wie ein Spielzeug. Die Crew bemerkte zunächst nichts von dem Schaden – der Bug des Schiffes war von der Brücke aus nicht einsehrbar. Erst als so viel Wasser in das nun offene Autodeck geströmt war, dass die "Estonia" sich plötzlich um 30 Grad zur Seite neigte, schrillten die Alarmglocken. Kapitän Andresson versuchte, das Schiff mit der Schlagseite in den Wind zu drehen, in der Hoffnung, dass die Kraft der Wellen und des Windes die angeschlagene Fähre wieder aufrichten würden.

Ein fataler Fehler, denn die Zentrifugalkräfte schleuderten das Wasser im Inneren der Fähre an die tiefer liegende Steuerbordseite, rissen die Autos mit sich und drückten das Schiff noch tiefer nach unten. Bald lag die Fähre so schräg, dass es aus dem Inneren kein Entkommen mehr gab, über die Lüftungsschächte sog sie sich voll Wasser und glitt am Ende mit etwa 130 Grad Schräglage in die Tiefe.

Wie aber entstand dann der vier Meter lange Riss in der Bordwand, der in dem Film "Estonia – der Fund, der alles ändert" vorgestellt wurde? Stefan Krüger, der am Institut für Entwerfen von Schiffen und Schiffssicherheit der TU Hamburg an der Simulation mitwirkte, hat für die neuen Spekulationen höchstens ein Schulterzucken übrig – für ihn ist es es eher der Fund, der alles bestätigt.

"Das Bugvisier ist zur Steuerbordseite hin weggerissen. Dabei hat sich eine Ecke des Visiers in die Bordwand des immer noch 14 Knoten fahrenden Schiffes gebohrt", erklärt er auf Nachfrage. "Auf den Ablauf, den wir mit der Simulation rekonstruiert haben, hat der Riss jedenfalls kaum Einfluß – er liegt ja oberhalb der Wasserlinie." In der Tat zeigen die Videoaufnahmen, dass der Riss hoch an der Bordwand unmittelbar unter dem "Estonia" Schriftzug klafft – unerreichbar für jedes U-Boot. "Schiffe gehorchen immer noch den Naturgesetzen", schliesst Krüger, "und nicht irgendwelchen wilden Theorien."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräch mit Prof. Dr.-Ing. Stefan Krüger (Technische Universität Hamburg)
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