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Ehemaliger Kriegsgefangener: "Wurde in der Sowjetunion zum Tode verurteilt"


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Ehemaliger Kriegsgefangener
"Und dann verlas mir der Richter mein Todesurteil"


Aktualisiert am 30.12.2019Lesedauer: 15 Min.
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Ein Zeitzeuge erinnert sich: So erlebte Rudi Schürer seine Heimkehr nach über zehn Jahren sowjetischer Kriegsgefangenschaft. (Quelle: t-online)
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Zehn Jahre lang war Rudi Schürer Kriegsgefangener in der Sowjetunion. Er sah Kameraden sterben, litt an der Ruhr und wurde immer wieder verhört. Erst 1955 kam er nach Hause.

Dieser Artikel gehört zu den besten Beiträgen, die 2019 bei t-online.de erschienen sind. Er wurde am 24. November zum ersten Mal veröffentlicht.

Jahrzehntelang hat Rudi Schürer über die schlimmste Zeit seines Lebens geschwiegen. Mehr als zehn Jahre, von Mai 1945 bis Dezember 1955, war der gebürtige Rheinländer Kriegsgefangener in der Sowjetunion. Schürer überlebte die Gefangenschaft dank der Hilfe einer Ärztin, wurde zum Tode verurteilt, nur um kurz darauf zu einem Vierteljahrhundert Lagerhaft "begnadigt" zu werden.

Seine emotionale Rückkehr nach Deutschland rührt Rudi Schürer bis heute zu Tränen, wie Sie oben im Video sehen.

Im Gespräch schildert Schürer, wie er die lange Zeit in der Kriegsgefangenschaft überstand, wie Verhöre abliefen, warum er vor Informanten auf der Hut war und warum er den Menschen in der ehemaligen Sowjetunion bis heute zutiefst dankbar ist.

t-online.de: Herr Schürer, erinnern Sie sich noch an Ihre Gefangennahme durch die Rote Armee?

Rudi Schürer: Natürlich. Es war der 13. Mai 1945. Ich war mit meinen Kameraden auf Hela, einer Halbinsel gegenüber Gotenhafen, wie es damals genannt wurde. An diesem Tag kam ein russischer Offizier zu uns – und forderte alle deutschen Soldaten auf, sich am nächsten Tag beim dortigen Bahnhof einzufinden. Wer später noch bei einer Kontrolle im Wald erwischt wird, der wird sofort erschossen, so hieß es.

Die Wehrmacht hatte schon am 8. beziehungsweise 9. Mai 1945 kapituliert. Was haben Sie an diesen Tagen erlebt?

Am 9. Mai bin ich mit meinen Kameraden zu unserem Befehlsstand marschiert. Wir wollten von den Offizieren wissen, was jetzt passieren würde. Was wir nicht wussten: Die Herren Generäle hatten schon Reißaus genommen, waren mit dem letzten Schiff abgehauen. Da waren nur noch ein paar Stabsoffiziere. Die sagten, wir müssten warten, bis der Russe kommt. Wir haben dann später noch unsere Funkgeräte gesprengt. Bei meiner Maschinenpistole habe ich hingegen den Schlagbolzen abgebrochen und sie in die Danziger Bucht geschmissen. Damit der Russe die nicht bekommt …

Was passierte nach Ihrer Gefangennahme?

Wir sind zunächst in einem Marschblock von rund 3.000 Mann zur ehemaligen Hauptkampflinie marschiert. Später hat uns ein russischer General per Dolmetscher erklärt, dass der Krieg vorbei sei. Und dass wir uns keine Sorgen machen sollten, denn wir wären sowieso bald wieder zu Hause.

Haben Sie seinen Worten geglaubt?

Viele Soldaten, die schon länger im Krieg gewesen sind als ich, waren natürlich skeptisch. Aber als guter Neuling habe ich schon darauf vertraut, dass das stimmt.

Rudi Schürer wurde am 11. Dezember 1927 in Kamp-Lintfort geboren. Mit 16 Jahren meldete er sich freiwillig zur SA-Standarte "Feldherrnhalle". Nach verschiedenen Ausbildungen, darunter zum Tastfunker, kam er im März 1945 zur 83. Infanteriedivision. Zwei Monate später geriet Schürer in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Er kehrte erst mehr als zehn Jahre später zurück. 2017 hat Schürer seine Erinnerungen verfasst: "Meine gestohlenen Jahre. 10 1/2 Jahre russische Kriegsgefangenschaft. Eine Dokumentation". Es kann bei der Familie direkt bestellt werden: sigrid.schuerer@t-online.de

Hatten Sie und Ihre Kameraden Angst vor der sowjetischen Kriegsgefangenschaft? Die Nationalsozialisten hatten die Sowjets unentwegt als "Unmenschen" propagiert, zudem hatte Deutschland einen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion geführt.

Natürlich hatten wir Angst, erschossen zu werden. Zumindest eine gewisse. Denn in der Propaganda hieß es ja immer: Der Russe macht keine Gefangenen, alles wird erschossen. Wir haben uns dann aber im Stillen gesagt, die Russen werden schon nicht alle sofort erschießen. Denn dann wären sie selber schuld, wenn sie alles wieder allein aufbauen müssen.

Was haben Sie damals im Krieg und bei der Kapitulation über die Menschen der Sowjetunion gedacht?

Ich machte mir vor allem Gedanken darüber, wie die russische Bevölkerung uns aufnehmen wird. Denn es war ja bekannt, dass dort vor allem die SS sehr gewütet hatte.

Über mehrere Stationen wurden Sie dann tatsächlich in die Sowjetunion transportiert.

Zunächst ging es nach Graudenz in Westpreußen. Tagelang sind wir dahin marschiert. Dort wurden wir erst mal von oben bis unten gefilzt. Wir mussten alles abgeben, was nicht niet- und nagelfest war. Die Verpflegung war miserabel. Wir haben damals immer gesagt: Spülwasser. Und es gab einen sehr traurigen Zwischenfall in Graudenz.

Was ist passiert?

Nach ein paar Tagen sind wir in Marschkolonnen zum Güterbahnhof von Graudenz gebracht worden. Dazu mussten wir durch eine Straße im Altstadtgebiet. Und plötzlich haben Polen das Feuer auf die Kolonne eröffnet. Einige deutsche Soldaten sind erschossen worden, andere wurden verletzt. Aber der Russe hat kurzen Prozess gemacht, sofort zurückgeschossen. Dann haben sie Polen aus den Wohnungen geholt, um den Zug wieder aufzufüllen. Damit die Zahl stimmte.

Es war ein Racheakt, 1939 hatte Deutschland Polen überfallen und ein Terrorregime errichtet. Wussten Sie etwas darüber?

Erst in der Gefangenschaft habe ich die Wahrheit und die ganzen Zusammenhänge über den Polenfeldzug erfahren.

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"Sofort zu erschießen" Rudi Schürer berichtet über seine Gefangennahme 1945

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Sie standen nach dem Beschuss wahrscheinlich unter Schock. Haben Sie in dieser Zeit einmal an Flucht gedacht?

Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre dies nicht so einfach gewesen. Die
Polen waren voller Hass gegen uns, sie hätten uns sofort erschossen. Flucht wäre Selbstmord gewesen.

Und in der Sowjetunion?

Auch das war kaum denkbar. Ein Beispiel: Ich kam im August 1945 nach Memel in Litauen, das bereits wieder zur Sowjetunion gehörte. Dort mussten wir Kriegsgefangenen uns quasi selbst ein Gebäude als Lager herrichten, ein Stück entfernt war ein weiteres für andere deutsche Soldaten, die einen Fluchtversuch unternommen hatten. Eines Tages mussten wir vor dem Zaun mit Blick auf eben dieses Lager Aufstellung nehmen. Dann mussten wir zusehen, wie zwei Gefangene, die ohnehin schon fast totgeschlagen worden waren, vor eine Wand gestellt und erschossen wurden.

Ein schwer zu ertragendes Erlebnis: Wie haben Sie es geschafft, unter diesen Umständen zu leben?

Nun, es gab die Arbeit. In Memel habe ich zum Beispiel in einer alten Papierfabrik gearbeitet. Da hieß es zuerst, wir brauchen unbedingt technische Zeichner im Büro. Da habe ich mich gemeldet. Das ging dann so einen Monat, dann kam der deutsche Ingenieur zu mir und meinte, es hat keinen Zweck mit mir. Danach habe ich das Schweißen gelernt, darin war ich viel besser. Später habe ich sogar meinen Schweißerausweis in der Sowjetunion gemacht. Ich wurde ein sogenannter "Spezialist", das war für die Russen sehr wichtig.

Klingt, als wenn Sie sich mit der Situation arrangiert hätten. Trotzdem kam es zu einem bedrohlichen Ereignis.

Das war Ende Dezember 1945, ich war mittlerweile in ein Lager in der Innenstadt von Memel verlegt worden. Mitten in der Nacht holten mich russische Soldaten aus dem Bett. Mit großem Theater, ich konnte mich nicht einmal richtig anziehen. Dann ging es außerhalb des Lagers zu einem Gebäude. Zunächst wusste ich nicht, wo ich war, später wurde klar: Ich war beim russischen Geheimdienst. Da haben sie mich dann eingesperrt.

Was passierte dann?

In der zweiten Nacht haben sie mich zur Vernehmung rausgeholt. Ich kam in einen Raum, war zunächst allein. Dann kam ein junger Leutnant rein, die Befragung ging los: Familienname, Vorname, Geburtsdatum, Einheit. Was ich damals erst nicht wusste: Der Vernehmungsoffizier hat stets alles schriftlich festgehalten und bei jeder weiteren Vernehmung wurden die neuen Aussagen mit den alten verglichen. Und wenn es leichte Abschweifungen gab, dann konnte es unangenehm werden.

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"Gleich wirst du verprügelt" – Rudi Schürer erinnert sich an ein Verhör

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War es denn immer der gleiche Fragesteller?

Nein, nicht immer. Einmal kam ein Oberleutnant rein. Während der Vernehmung holte er auf einmal eine Pistole aus der Schublade des Schreibtisches heraus. Über die Dolmetscherin fragte er mich, ob ich ihm zeigen könne, wie man sie auseinandernimmt.

Ziemlich gefährlich, wenn Sie die Waffe angerührt hätten.

Das dachte ich mir auch. Deshalb habe ich dem Herrn gesagt, dass ich laut Genfer Konvention im Gefangenenlager keine Waffe in die Hand nehmen darf. Da wurde der wild, hat rumgeschrien und ich rechnete schon damit, verprügelt zu werden. Aber dann hat er sich wieder beruhigt. Und dann war da noch eine Frau, die mich vernommen hat.

Was hat diese getan?

Die fing plötzlich damit an, warum ich in der Hitlerjugend gewesen wäre. Da habe ich dann geantwortet, dass sie in der Sowjetunion doch auch die Komsomolzen als Jugendorganisation hätten, um die Kinder kommunistisch zu erziehen. Ebenso wie es auch die Nazis in Deutschland in ihrem Sinne gemacht haben. Da sprang die Dame auf und ich kriegte eine anständige Ohrfeige. Insgesamt sechs Wochen lang war ich in den Karzer gesperrt, bis ich wieder raus durfte. Es herrschte strenger Winter, deswegen sind mir im eiskalten Raum die Füße erfroren. Bis zum 2. Grad.

Haben Sie je erfahren, warum Sie vernommen worden sind?

Ich denke, allein durch meine Beziehung zur "Feldherrnhalle" war ich auffällig. Konkret wollten sie mir Kriegsverbrechen in der Gegend um Lagoda um 1941 nachweisen. Zu diesem Zeitpunkt war ich allerdings erst 14 Jahre alt gewesen und niemals auch nur in der Nähe dieses Ortes. Allerdings war damals dort meine spätere Einheit eingesetzt. So erklärt es sich. Ansonsten wollten sie wohl einfach wissen, wie tief der Nationalsozialismus bei uns verhaftet war. Auch, um uns zu Kommunisten umerziehen zu können.

Gab es viele Misshandlungen?

Später in Swerdlowsk gab es einen Hauptmann, der war so breit gebaut, dass wir ihn nur "Schrankkoffer" nannten. Der hatte eine Masche: Wenn man nicht sofort gespurt hat, dann ist der aufgestanden mit dem Lineal. Zack, hat er einem mit der Kante gegen die Halsschlagader gekloppt. Und schon lag man da. Ich selbst habe das Gott sei Dank nicht selber abgekriegt.

Neben viel Negativem haben Sie auch Hilfe erfahren im Lager.

Natürlich, das fing bei der lettischen Dolmetscherin bei den Vernehmungen an. Sie hat mir verraten, dass der Oberleutnant perfekt Deutsch sprach. Aber aus Taktikgründen eben mit Dolmetschern arbeitete. Oder mein Kamerad im Gefangenenlager. Der hatte alle meine Sachen sichergestellt, als ich zur Vernehmung abgeholt worden bin. Denn die wurden von den anderen Gefangenen in der Regel sofort geplündert. Aber am dankbarsten bin ich einer sowjetischen Ärztin.

Bitte erzählen Sie.

In Memel hat mich die Ruhr erwischt. Es sind etliche Gefangene daran gestorben, ich hatte große Angst. Diese Ärztin aber, die den Rang eines Oberstleutnants bekleidete, gab mir heimlich Medikamente, die sie den Kriegsgefangenen wohl gar nicht hätte geben dürfen. Dann verschaffte sie mir leichte Arbeit, damit ich mich erholen konnte. Ohne diese Ärztin hätte ich die Gefangenschaft vielleicht nicht überlebt. Ich bin ihr ewig dankbar.

Haben Sie eine Vermutung, warum die Frau Ihnen geholfen hat?

Ein Sanitäter hat mir erzählt, dass sie einen jungen Sohn in meinem Alter hatte, der 1944 an der Front gefallen ist. Dann habe ich noch erfahren, dass die Ärztin Jüdin war. Und im Holocaust Verwandte in der Ukraine verloren hat. Ich bin aber der Meinung, dass diese Ärztin mich als normalen Soldaten nicht dafür verantwortlich gemacht hat. Auch altersmäßig konnte sie das ja nicht.

Kommen wir auf dieses Thema zu sprechen: Wann haben Sie selbst vom Genozid an den Juden erfahren?

Was mit den Juden gemacht wurde, war bekannt. Aber wirklich Genaueres habe ich persönlich erst 1945 in Memel in Erfahrung gebracht. Und zwar durch einen von den Sowjets in Polen aufgenommenen Film, der die Verbrechen an den Juden zeigte.

Was war Ihnen über den Terror und Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten bekannt?

Was mit den Menschen im Konzentrationslager angestellt wurde, habe ich auch erst 1945 erfahren. Ich war in Danzig mit einigen Kameraden auf dem Schießstand, da kamen auf einmal ein paar SS-Leute mit drei Frauen in KZ-Kleidung dazu. Die Frauen sollten da aufräumen. Als die SS-Leute kurz in einem Gebäude waren, haben wir uns etwas mit den Frauen unterhalten. Sie haben uns erzählt, dass sie als Polinnen im Konzentrationslager Stutthof eingesperrt waren. Und dass es ihnen saudreckig ging.

Was ging da in Ihnen und Ihren Kameraden vor sich?

Ein paar Tage später hat einer von uns ihnen etwas Brot gegeben. Das Ergebnis war: Ab in den Knast. Einfach, weil er den Frauen etwas zu essen gegeben hatte. Erst kam er in den Knast, dann ins Strafbataillon.

Aber noch mal nachgefragt: Sie müssen bereits vorher von den Konzentrationslagern erfahren haben.

Ich will ehrlich sein: Da habe ich mir keine Gedanken drüber gemacht. Aber es gab ein Ereignis, es muss 1935 oder 1936 gewesen sein, das mir in Erinnerung blieb. Ich kam aus der Schule, da hielt auf der anderen Straßenseite ein dicker Mercedes. Ein paar Männer in schwarzen Ledermänteln gingen in ein Haus hinein. Dann haben sie einen Mann herausgebracht und seine Frau hinterher.

Also die Geheime Staatspolizei.

Genau. Am nächsten Tag hat uns der Schuldirektor, der auch zugleich der SA-Chef von Kamp-Lintfort war, erzählt, dass die beiden gegen das System gewesen wären. Und dass beide nun umgeschult würden. Und zwar an einem Ort namens Dachau. Man hat den Mann und die Frau nie wiedergesehen.

Fiel es Ihnen besonders nach der Begegnung mit den drei KZ-Insassinnen 1945 nicht schwer, weiter für das NS-Regime zu kämpfen?

Es war nicht so, dass ich eine Wahl gehabt hätte.

Sie waren erst bei der Hitlerjugend, dann haben Sie sich 1943 freiwillig zur SA-Standarte "Feldherrnhalle" gemeldet.

Das ist richtig, ich war aber kein Nazi im eigentlichen Sinne. Ich musste damals zur Hitlerjugend, denn sonst hätte ich meine Lehrstelle verloren. Im Mai 1942 musste ich dann zur Flakabteilung. Am Tage bei der Lehrstelle, in der Nacht am Scheinwerfer, das war sehr anstrengend für mich. Zudem war mir damals klar, dass ich über kurz oder lang eingezogen werden würde. Und ich wollte auf keinen Fall bei der Waffen-SS landen. Über die Truppe hatte ich schon allzu viel Nachteiliges gehört.

Also die "Feldherrnhalle".

Das Problem war nur mein Vater: Der hätte niemals für mich als Minderjährigen die Freiwilligenmeldung unterschrieben. Das hat dann ein SA-Führer gemacht. Außerdem wusste ich, dass ich dort eine verhältnismäßig gute militärische Ausbildung bekommen würde. Denn ich wollte kein Kanonenfutter für die Front werden. Andere in meinem Alter waren erst ein paar Wochen lang Soldat, da wurden die bereits in den Kampf geworfen.

Kommen wir wieder auf Ihre Zeit als Kriegsgefangener zu sprechen. Wie waren Ihre Lebensbedingungen im Lager?

Das änderte sich natürlich im Laufe der Jahre in den verschiedenen Lagern. In Memel, wo ich seit August 1945 war, herrschte große Enge. In der Baracke stand in der Mitte ein Ofen, dann gab es drei Etagenpritschen. Der Schlafplatz war so eng, dass man praktisch nur auf der Seite schlafen konnte. Und wenn man sich drehen wollte, musste sich die ganze Kolonne mitdrehen. Es gab nur Pritschen, keine Strohsäcke, gar nichts.

Gab es Ärger mit dem Wachpersonal?

Genug. Und zwar grundsätzlich abends, wenn wir Kriegsgefangene von der Arbeit außerhalb des Lagers wiederkamen. Da wurde sofort gefilzt, damit keiner etwas reinschmuggeln konnte. Zusätzlich wurde das Wachpersonal im Laufe der Zeit getauscht. Am Anfang waren es Frontsoldaten, die waren verhältnismäßig freundlich. Als später Jüngere nachkamen, waren das ideologisch Geschulte. Für die waren wir die Erzfeinde.

Haben Sie und Ihre Kameraden denn viel "organisiert"?

Alles, was möglich war. Vor allem um den kargen Speiseplan anzureichern. Wir mussten auf der Hut sein, manchmal auch vor den eigenen Leuten.

Wie meinen Sie das?

Es gab Gefangene, die der Russe angeworben hat, um uns andere auszuhorchen. Wir nannten sie "Sängerknaben". Diese Leute wurden etwa zur Vernehmung geholt, dann konnten sie ihre Erkenntnisse preisgeben. Dafür haben sie ein Stückchen Brot oder Zigaretten gekriegt.

Wie war es in Ihrem Fall? Sollten Sie auch angeworben werden?

1947 wollten sie mich zum Beispiel als Spitzel rekrutieren. Das geschah bei einer Vernehmung, ich habe es zum Glück noch rechtzeitig gemerkt. Danach ging es ab mit mir in den Karzer.

Hatten Sie Verständnis für Kriegsgefangene, die für die Sowjets spionierten, weil sie überleben wollten?

Ich hatte keinerlei Verständnis für diese "Sängerknaben". Das waren Verräter, keine Kameraden. Einige haben auch einfach Sachen erfunden und versprachen sich dadurch Vorteile. Für die unschuldigen Gefangenen konnte es dann ganz schlimm werden. Einmal habe ich gehört, dass in einem anderen Lager ein "Sängerknabe" von Mitgefangenen umgebracht worden ist.

Sind Sie je verzweifelt angesichts dieser Bedingungen?

Ich habe schlimme Situationen erlebt: 1947 etwa wurde ich mit Hunderten Kriegsgefangenen per Zug zum Brückenbau in die Nähe von Moskau gebracht: Als sie die Türen öffneten, fielen die Toten heraus. Hunger und Fleckfieber eben. Einmal hat ein Wachsoldat einen Gefangenen so sehr mit seinem Gewehrkolben verprügelt, dass der starb.

Wie gingen Sie mit der Sehnsucht nach der Heimat und Ihrer Familie um?

Ich war jung, hatte keine Frau und keine Kinder. Das machte es mir leichter als den Familienvätern. Ich wollte alles nur gesund und heil überstehen. Aber natürlich stellte ich mir die Frage, wann das alles vorbei sein würde.

Wann erhielten Sie Kontakt zu Ihren Eltern?

Im Herbst 1946 durften wir zum ersten Mal Karten nach Hause schicken. 25 Wörter waren erlaubt, aber keinerlei Information darüber, wo wir waren. Leider kam meine erste Karte nie zu Hause an. Und natürlich ging alles durch die Zensur. Später durften wir dann sogar ganze Briefe schreiben.

Wann dachten Sie, nach Hause zu kommen?

Schwer zu sagen. 1948 gingen aus meinem Umfeld erste Transporte mit Kriegsgefangenen Richtung Heimat ab. Das haben wir erfahren, als auf einmal Post ankam, die ehemalige Gefangene ihren Kumpels schrieben, die noch im Lager waren. Da kam schon der Gedanke auf: Und wann komme ich nach Hause? 1949 haben sie mich dann in einen Zug gesteckt. Einen Personenzug, purer Luxus! Welcher Kriegsgefangene fuhr in Russland schon im Personenzug …

Es ging aber nicht in die Freiheit.

Richtig. Stattdessen wurde ich in der Sowjetunion zum Tode verurteilt.

Bitte erklären Sie.

Wir wurden zunächst in ein Lager in der Nähe von Charkiw in der Ukraine gebracht. Dann ging alles so schnell: Ende Dezember 1949 sind wir morgens auf den Lkw verladen worden, dann ging es in die Stadt. Ich musste vors Militärgericht treten, kein Verteidiger, nichts. Neben mir standen zwei Posten, jeder mit Maschinenpistole. Name, Einheit und so weiter wurden erfragt, dann Vernehmungsprotokolle vorgelesen. Danach musste ich raus, fünf Minuten später wieder rein. Und dann verlas mir der Richter mein Todesurteil. Allerdings abgemildert zu 25 Jahren Besserungslager.

Wie lautete die Begründung?

Es waren vor allem die Ereignisse am Ladogasee 1941, wo die "Feldherrnhalle" eingesetzt worden war. Ich habe dann dem Vorsitzenden Richter gesagt, dass ich zuvor noch nie in Russland gewesen bin. Wie kann ich dann dort Kriegsverbrechen begangen haben? Da hat der mich rausgeschmissen. Nicht mal das Urteil habe ich schriftlich bekommen.

Wie haben Sie sich gefühlt?

Ich war vorgewarnt. Schon seit Tagen waren andere Gefangene in die Stadt gefahren worden. Als die zurückkamen, waren manche am Heulen, andere riefen uns zu: "Todesstrafe, Todesstrafe". Später wurde mir dann klar, dass ich tatsächlich zu 25 Jahren verurteilt worden war. Jetzt hängst du hier noch länger rum, dachte ich.

1949 wurden die beiden deutschen Staaten gegründet, haben Sie etwas davon mitbekommen?

Grundsätzlich haben wir vom Russen nichts Konkretes erfahren. Das Einzige, was man mitbekommen sollte, war das russische Radio. Im Lager waren ja überall Lautsprecher. Dann berichtete später die Propaganda, es gäbe ja nun zwei deutsche Staaten, den kapitalistischen Westen und den sozialistischen Osten. Wir waren aber besser informiert, als die Wachen wussten: In Swerdlowsk waren wir sieben Mann, die zusammenhielten. Und wir hatten uns eine Radiovorrichtung gebaut, mit der wir deutschen Rundfunk hören konnten.

In Swerdlowsk hatte sich Ihre Situation schon verbessert.

Das stimmt. Trotz des schon erwähnten "Schrankkoffers". Die Unterkünfte waren besser, ich wurde sogar Filmvorführer in unserem Kultursaal. Wir durften auch einen Fotoapparat bauen. Das sind alles Sachen, die es vorher nie gegeben hätte.

1955 reiste Bundeskanzler Konrad Adenauer dann nach Moskau, schließlich sagte die Sowjetunion die Freilassung der letzten Gefangenen zu.

Und er hatte Gott sei Dank Erfolg. Am 7. Dezember 1955 ging es mit dem Zug Richtung Heimat.

Allerdings verlief die Rückfahrt nicht wie geplant.

Das ist richtig. Der Zug hielt in Moskau und wir wurden natürlich misstrauisch. Ich dachte, jetzt verarschen die uns wieder. Ein Gefangener drehte schließlich durch, und wollte sich erschießen lassen. Der ist in den Zaun um das Gelände rein und die Wachtürme waren ja besetzt. Und dann geschah das Erstaunliche: Die Wachtposten haben nicht geschossen. Schließlich kamen ein paar russische Offiziere und haben den aus dem Zaun geholt. Da wussten wir, dass sich etwas verändert hatte.

Und dann ging die Fahrt schließlich weiter.

Richtig. Am 16. Dezember 1955 waren wir in Herleshausen. Also fast zu Hause.

Was war das für ein Gefühl?

Ich war völlig sprachlos. Es waren so viele Leute da, die Busse konnten gar nicht mehr durchfahren. Die Fahrt ins Durchgangslager Friedland dauerte Stunden. Später holte mich der Bürgermeister von Kamp-Lintfort persönlich dort ab. Da bin ich zum ersten Mal in meinem Leben im Mercedes 170 mitgefahren. Unterwegs haben wir einmal Pause gemacht. Da habe ich mein Wunschessen bestellt: Hähnchen.

Sie waren mehr als zehn Jahre lang in Gefangenschaft. Was empfinden Sie heute über diese Zeit?

Gott sei Dank ist es vorbei. Ich habe nie über meine Zeit in der Kriegsgefangenschaft gesprochen, bis zu einer Fernsehdokumentation vor fast 20 Jahren, in der ich auch vorkam. Da war der Punkt gekommen, an dem ich mir sagte: "Rede!" Ich dachte, das wird mir helfen, über den ganzen Scheiß hinwegzukommen. Heute fällt es mir auch nicht mehr schwer, über diese Zeit zu sprechen. Und ich habe auch meine Erinnerungen geschrieben.

Hegen Sie Groll oder Verbitterung?

Ich habe das Buch "Meine gestohlenen Jahre" genannt. Die Nazis haben mir einen Teil gestohlen, die Sowjets den anderen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch ich habe damals beim Jungvolk unter Hitler mitgejubelt. Und ich habe auch Verständnis dafür, dass ich nach dem Krieg in Gefangenschaft kam. Aber ich habe kein Verständnis dafür, dass die so lange dauerte.

Was empfinden Sie heute für Russland?

Ich bin der russischen Bevölkerung bis heute dankbar. Von diesen Leuten habe ich so viel Gutes erfahren.

Wie das?

Die Wachsoldaten haben uns Kriegsgefangene zum Betteln auf die Dörfer geschickt. Und die Menschen dort haben das letzte Brot mit uns geteilt, dabei hatten die selber kaum was. Das haben wir dann zwischen den Soldaten und uns aufgeteilt. Nur in der Ukraine haben die Leute manchmal gefragt, ob wir bei der SS gewesen wären. In dem Fall hätten wir Prügel gekriegt.


Was denken Sie über Wladimir Putin?

Putin ist für mich ein kleiner Stalin. Er kommt aus dem Geheimdienst, ich traue ihm nicht über den Weg.

Eine letzte Frage: Sind Sie jemals wieder in Russland gewesen?

Zu meinem Bedauern leider nicht.

Herr Schürer, vielen Dank für das Gespräch.

Zum Weiterlesen:

Rudi Schürer: "Meine gestohlenen Jahre. 10 1/2 Jahre russische Kriegsgefangenschaft. Eine Dokumentation", 4. ergänzte Auflage, Wesel 2018 (ISBN: 978-3-00-058633-0)

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Rudi Schürer
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