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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verhängnisvolles Laster Wie sich die Iren die Zähne ruinierten
Viele arme Iren liebten im 19. Jahrhundert Tabak und Pfeife. Doch sie bezahlten einen hohen Preis dafür. Wie hoch dieser war, fanden Wissenschaftler nun heraus.
Über die erzwungene Diät der armen irischen Bauern – Kartoffeln und Milch – mag jeder denken, was er will. Sie schmeckt definitiv fade und enthält kaum Vitamine. Doch einen großen Vorteil hat die Kartoffel-Milch-Pampe: Sie reduziert die Gefahr, an Karies zu erkranken. Trotzdem litten erstaunlich viele Iren der Unterschicht an Zahnschäden. Eine Studie von Eileen Murphy von der Queen’s University Belfast und Kollegen hat einen möglichen Grund dafür gefunden: Sie waren passionierte Raucher.
Die Iren und die Kartoffel haben eine ganz besondere Verbindung. Die Kartoffelpflanze liebt das kühle, feuchte irische Klima. Nachdem sie einmal im 16. Jahrhundert Fuß gefasst hatte, eroberte das Nachtschattengewächs schnell die Felder der Grünen Insel. Und die Iren lieben die Kartoffel. Rund 5,4 Kilogramm davon verzehrte ein erwachsener Ire zu Beginn des 19. Jahrhunderts am Tag, Frauen 4,5 Kilogramm und selbst Kinder verschlangen im Schnitt noch 1,8 Kilogramm Erdäpfel täglich.
Die Hungersnot brachte Hunderttausenden den Tod
Gerade in Kombination mit den in Irland im Überschuss vorhandenen Milchprodukten eigneten die Knollen sich hervorragend, um große Menschenmengen mit ausreichend Kalorien und Nährstoffen zu versorgen – für einen sehr kleinen Preis.
Um 1840 waren rund 40 Prozent der irischen Bevölkerung von der Kartoffel als Hauptnahrungsmittel abhängig. Doch dann kam Phytophthora infestans, ein Pilz, der bei Kartoffeln die Kraut- und Knollenfäule auslöst, und vernichtete über Jahre hinweg fast die komplette Ernte. Knapp eine Million Iren verhungerten zwischen 1845 und 1852. Wer konnte, packte die Koffer und emigrierte nach Amerika.
970 Iren aus der Stadt Kilkenny im Südosten Irlands am Ufer des River Nore schafften es nicht, zu entkommen. Sie starben und wurden zwischen August 1847 und März 1851 in den Massengräbern des Kilkenny Union Workhouse, des Armenhauses der Stadt, begraben. Ihr Zähne dienten jetzt den Forschern für eine eingehende Untersuchung der Lebensumstände zu Zeiten der Großen Irischen Hungersnot.
Zahnstein und Parodontitis
Für ihre Untersuchung betrachteten die Wissenschaftler die Zähne aller Erwachsenen aus den Massengräbern, bei denen sich das Geschlecht eindeutig bestimmen lies. Insgesamt kamen sie so auf 192 Männer und 171 Frauen. Der Zustand der Zähne der Toten war alles andere als gut. 80 Prozent von ihnen hatten zu Lebzeiten an Karies gelitten, 58 Prozent an Parodontitis, einer bakteriellen Entzündung des Zahnfleisches, und 27 Prozent an einer Wurzelentzündung. Über der Hälfte der Toten fehlte mindestens ein Zahn und über 96 Prozent hatte mit Zahnstein zu kämpfen gehabt.
Auf die Ernährung lässt sich der schlechte Zahnzustand jedoch kaum schieben. Kartoffeln bestehen in der Hauptsache aus Stärke, zu etwa 60 bis 80 Prozent. Weniger als drei Prozent machen die unterschiedlichen Zuckerarten – Saccharose, Fruktose und Glukose – aus. Die größte Gefahr für Zähne an der Kartoffel birgt noch ihre Konsistenz: Im gekochten Zustand senkt sie den pH-Wert im Mund und sie wird so klebrig, dass Reste von ihr noch lange an den Zähnen haften bleiben.
Dennoch wird sie von Zahnärzten als Lebensmittel für Patienten empfohlen, die darauf achten müssen, ihre Zähne einem möglichst geringen Kariesrisiko auszusetzen. Der zweite Hauptbestandteil der irischen Diät, Milch, ist ähnlich gut für die Zahngesundheit. Der Laktosegehalt liegt bei rund fünf Prozent, jedoch ist Laktose die Zuckerart, unter der die Zähne am wenigsten leiden müssen. Zudem sorgt das Kalzium in der Milch dafür, dass der Zahnschmelz gestärkt wird.
Erstaunliche Ergebnisse
Es gab in der Geschichte tatsächlich eine Bevölkerungsgruppe, die sich ganz ähnlich von Kartoffeln und Milch ernährte wie die Iren: die Bevölkerung der kleinen Insel Tristan de Cunha im Südatlantik. 1926 untersuchte der Schiffsarzt des Expeditionsschiffs "R.R.S. Discovery", Edward Hillis, 54 der Insulaner, rund ein Drittel der damaligen Gesamtbevölkerung.
Nur etwa 67 Prozent von ihnen hatten einen oder mehr kariöse Zähne im Mund, und das obwohl die Insulaner, wie Hillis anmerkte, vermutlich überhaupt keine Zahnpflege betrieben. Noch deutlicher wurde der Unterschied in der Anzahl der befallenen Zähne. Während in der Altersgruppe von 45 bis 99 Jahren nur sechs Prozent aller Zähne der Einwohner von Tristan de Cunha kariöse Spuren aufwiesen, waren es in derselben Altersgruppe der Iren 29 Prozent.
An den Zähnen der toten Iren aus dem Armenhaus von Kilkenny war den Forschern allerdings noch etwas anderes aufgefallen. Sie hatten etwas, das den Insulanern von Tristan de Cunha fehlte – die typischen Pfeifenstieldellen. Raucht man jahrzehntelang Pfeife und hält den Pfeifenstiel dabei stets an der gleichen Stelle mit den Zähnen fest, reibt er den Zahnschmelz so weit herunter, dass eine runde Mulde entsteht.
Wissenschaftliche Tatsache
In der ältesten Bevölkerungsgruppe, den über 45-Jährigen, hatten über 80 Prozent der Männer und die Hälfte der Frauen entsprechende Pfeifenstieldellen im Gebiss. Der Befund passt zu den Berichten aus dem 19. Jahrhundert, in denen Reisende davon erzählen, dass selbst schon 14-jährige Jungen und auch Mädchen mit der Pfeife im Mund herumlungern.
Wie solle man die Finanzprobleme der Unterklasse lösen, beschwerten sich die Wirtschaftswissenschaftler des 19. Jahrhunderts, wenn der gemeine irische Arbeiter eine Summe von bis zu einem halben Penny pro Tag für Tabak ausgeben würde!
Dass Rauchen der Mundgesundheit schadet, ist längst klinisch belegt. Mit jedem Zug saugt der Raucher Teer, Nikotin und rund 4.000 weitere chemische Verbindungen in seine Mundhöhle, die sich auf der Mundschleimhaut, dem Zahnfleisch, den Zähnen und der Zunge ablagern. Dort beginnen sie ihr zerstörerisches Werk. Die Mundschleimhaut verliert ihre Schutzfunktion. Die Gefäße verengen sich, der Mundraum wird schlechter durchblutet. Die antibakteriellen Speichelbestandteile nehmen ab. Die Folgen: Das Zahnfleisch entzündet sich, der Zahnschmelz ist den Angriffen von Bakterien ausgesetzt.
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"Im Angesicht von Armut und Elend, dem Schrecken des Hungers und dem Massensterben der Großen Irischen Hungersnot, können wir uns gut vorstellen, dass die Pfeife eine der wenigen Freuden war, die den Armen noch blieb", schließen die Forscher ihren Bericht im American Journal of Physical Anthropology voller Verständnis. Allerdings eine, für die sie einen hohen Preis zahlen mussten: "Unsere Studie ist ein weiterer Beleg dafür, dass Rauchen nicht nur schädlich für die generelle Gesundheit ist, sondern insbesondere auch für die Zähne."
- Eigene Recherchen
- Geber, J., & Murphy, E. (2018): "Dental markers of poverty: Biocultural deliberations on oral health of the poor in mid-nineteenth-century Ireland", American Journal of Physical Anthropology, 1-16.