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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Legendäres Musik-Festival Was von Woodstock übrig blieb
Vor fast 50 Jahren feierten Hunderttausende auf dem Woodstock-Festival, heute suchen Archäologen nach Überbleibseln. Denn wo genau die Bühne stand, auf der Ikonen der Musik auftraten, weiß niemand mehr.
Wenn 400.000 Menschen vier Tage lang an einem Ort Geschichte schreiben, dann hinterlassen sie Spuren. Wenn ihre tanzenden Füße den Boden aufwühlen. Wenn sie essen und trinken, ihnen aber kein geordnetes System zur Müllsammlung und nur 600 mobile Toilettenkabinen zur Verfügung stehen. Und doch ist heute auf den ersten Blick von der Woodstock Music & Art Fair, dem legendären Hippie-Festival, das vom 15. bis zum 18. August 1969 auf dem Gelände des Farmers Max Yasgur nahe der Kleinstadt Bethel im US-Bundesstaat New York stattfand, nichts mehr zu sehen.
In diesem Sommer fahndet eine Gruppe von Archäologen um Josh Anderson von der Binghamton University nach den Hinterlassenschaften der knapp halben Million Festivalbesucher von damals. Beauftragt hat sie das Museum at Bethel Woods, eine Gedenkstätte in unmittelbarer Nachbarschaft des Festivalgeländes. Im kommenden Jahr werden zum 50. Jahrestag des Woodstock-Festivals zahlreiche Besucher erwartet, die Erkenntnisse der Archäologen sollen helfen, einen Geländeplan zu erstellen. Wo genau lag eigentlich die Bühne? Wie verliefen die Zäune? Und wie groß war das Gelände des sogenannten Bindy Bazaars, auf dem Händler Schmuck, Stirnbänder, T-Shirts und dergleichen verkauften?
Absolute Notlösung
Dass so wenig Spuren erhalten sind, liegt auch daran, dass Bauer Yasgurs Farm als Veranstaltungsort eine Notlösung in letzter Minute war. Ursprünglich sollte das Festival auf der 300 Hektar großen Winston Farm in der Kleinstadt Saugerties, etwa 15 Kilometer östlich von Woodstock, stattfinden. Doch als die Plakate bereits gedruckt und die ersten Eintrittskarten bereits verkauft waren, wehrte sich die Gemeinde gegen die Massenveranstaltung. So blieb der Name "Woodstock" erhalten – als neuer Veranstaltungsort fand sich hingegen ein Industriegelände im Städtchen Walkill.
Aber auch die Bürger von Walkill verhinderten die Pläne der Veranstalter, nun wurde die Zeit knapp. Am 15. Juli schließlich, nur einen Monat vor Konzertbeginn, erklärte Max Yasgur sich bereit, für 50.000 US Dollar seine leicht ansteigenden Felder, die wie ein Amphitheater in die Landschaft eingebettet und damit ideal für ein Konzert waren, zur Verfügung zu stellen.
Die Veranstalter rechneten mit 200.000 Besuchern. Dafür mussten eine Bühne und ein entsprechendes Soundsystem erst noch konstruiert werden, ganz zu schweigen von den Strom- und Telefonleitungen, die es zu verlegen galt. Wie auch den fehlenden Zufahrtsstraßen. Die Zeit rannte davon. Drei Tage vor Konzertbeginn standen die Veranstalter vor der Wahl: Entweder konnten sie die Bühne noch fertig bauen – oder den Zaun um das Gelände. Als am Mittwoch die ersten Zuschauer eintrafen und am Abend bereits Zehntausende auf den Wiesen ihre Zelte aufschlugen, war es zu spät. An Stellen, wo der Zaun schon stand, war er bald niedergetreten, Besucher ohne gültige Tickets strömten durch die Lücken.
Nicht für die Ewigkeit
Alle Kräfte waren schließlich in den Aufbau der 20 × 15 × 5 Meter großen Bühne und der beiden 21 Meter hohen Lautsprecher- und Scheinwerfertürme geflossen. Geplant war eine Drehbühne in der Mitte, sodass während eine Band auf der Vorderseite spielte, auf der Rückseite bereits das Bühnenset für die nächste aufgebaut werden konnte. Doch die Zimmerleute hatten das Gewicht des schweren Musikequipments unterschätzt. Bereits am ersten Tag brachen die Rollen unter der Last zusammen. Die Bühne war definitiv nicht für die Ewigkeit gebaut.
Immerhin etwas konnten die Archäologen von der hastig zusammengebauten Konstruktion finden: ein Pfostenloch. In ihm war die Trennwand verankert, die einen Graben für Journalisten und Kameraleute zwischen Bühne und Zuschauermenge freihielt. Für Grabungsleiter Anderson ist das schon ein Erfolg: Das Loch gibt den heutigen Besuchern einen Anhaltspunkt im Gelände.
In den Sieben der Archäologen bleiben auch Dosenverschlüsse und Glasscherben hängen. Sie stammen vermutlich alle noch aus den ersten Tagen: Bevor sich das Festival zum logistischen Desaster wandelte. Als statt der erwarteten 200.000 Besucher plötzlich 400.000 Menschen das Gelände bevölkerten, waren die Vorräte der Hamburger- und Hot-Dog-Stände schnell restlos aufgegessen. Findige Anwohner räumten ihre Speisekammern und verkauften die Lebensmittel zu horrenden Preisen. Andere hatten Mitleid und verteilten umsonst Hühnersuppe und Sandwiches an hungrige Besucher. Ausreichend war das alles nicht – vor allem weil es an Trinkwasser mangelte.
Hilfe von der U.S. Army
Nervös verfolgte Nelson Rockefeller, Gouverneur des Staates New York, das Geschehen. Am Sonntagmorgen schickte er sich an, das Gelände von 10.000 Soldaten räumen zu lassen, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Am Ende einigte man sich auf einen Kompromiss. Der Landkreis rief den Notstand aus, damit die U.S. Army Notverpflegung und Notärzte einfliegen konnte. Zahlreiche Schnittwunden von den herumliegenden Glasscherben mussten behandelt werden, ebenso wie Sonnenbrände, Hitzeschläge und Kreislaufprobleme nach übermäßigem Drogenkonsum. Zwei Besucher starben während des Festivals: einer an einer Überdosis Insulin, der andere wurde in seinem Schlafsack in einem anliegenden Feld von einem Traktor überrollt. Zwei Babies wurden während des Festivals geboren.
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Die jetzt gefundenen Dosenverschlüsse und Glasscherben, die einst für Verletzungen sorgten, dienen heute den Forschern dazu, diese Geschichten von damals besser erzählen zu können, das Pfostenloch zeigt, wo sich die Bühne befand. "Die Forschung, die wir hier in Woodstock betreiben, benutzt archäologische Methoden, um Fragen zu beantworten, die das Museum at Bethel Woods und die Organisation Heritage Landscapes haben", erklärt Projektleiterin Maria O'Donovan.
Historische Quellen wie Augenzeugenberichte sind oft subjektiv oder zeigen nur einen Ausschnitt des Geschehens. Der Bericht von Gouverneur Rockefeller wird sich drastisch von den Schilderungen eines Konzertbesuchers unterscheiden, der erschöpft, aber glücklich Jimmy Hendrix in der Morgensonne "The Star-Spangled Banner" spielen sah. Die Archäologie aber ist unbestechlich. Sie belegt nur, was auch tatsächlich passierte.
- Eigene Recherchen