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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Interview zur Oktoberrevolution "Wer Frieden wollte, war ein jämmerlicher 'Sozialpazifist'"
Vor 100 Jahren erschütterte die Oktoberrevolution das Russische Reich. Im Interview erklärt der Historiker Gerd Koenen, wie Lenin mithilfe des Bürgerkriegs die Sowjetunion schuf. Und was Vordenker Karl Marx tatsächlich beabsichtigte.
Ein Interview von Marc von Lüpke.
t-online.de: Herr Koenen, vor 100 Jahren fegte Lenin mit der Oktoberrevolution die demokratischste Regierung hinweg, die Russland bis dahin gekannt hatte. Und errichtete später mit der Sowjetunion den ersten kommunistischen Staat der Welt. Was haben wir uns unter dem Kommunismus vorzustellen?
Gerd Koenen: Der Kommunismus war zunächst eine politisch-ideologische Weltvorstellung, die auf Karl Marx und seinem Kommunistischen Manifest von 1848 beruht. Sie bezeichnet einen Zustand, in dem auf Basis des gesellschaftlich erwirtschafteten Wohlstands die Widersprüche zwischen den besitzenden und den arbeitenden Klassen aufgehoben sein würden zugunsten einer "Association, worin die freie Entfaltung eines Jeden die Bedingung der freien Entfaltung Aller wäre". So heißt es im Manifest. Auch die tödlichen Konflikte zwischen den Staaten wären dann hoffentlich überwunden. Das setzt allerdings eine revolutionäre Entmachtung der herrschenden Schichten und demokratische Machteroberung und Selbstbildung der Proletarisierten voraus.
Mit Marx‘ Idealbild hatte Lenins Sowjetunion aber wenig zu tun.
Lenin hat, als er 1918 den kaum noch verwendeten Begriff des "Kommunismus" wieder aufnahm, der Sache eine ganz neue Bedeutung gegeben. Jetzt handelte es sich um die gewaltsame Errichtung einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung, die man mit Recht "totalitär" genannt hat. Das bedeutete, dass die Kommunistische Partei nicht nur die politische Kontrolle über Staat und über Wirtschaft beanspruchte, sondern auch das Alltagsleben und sogar die Gedanken der Menschen organisieren und gestalten wollte. "Kommunismus" war damit identisch mit der Herrschaft der Kommunistischen Partei. So ist das in China heute noch.
Gerd Koenen ist Historiker und Publizist. Bis 1982 war er Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland, später Mitarbeiter des sowjetischen Dissidenten Lew Kopelew. Sein neues Buch ist ein Standardwerk zum Kommunismus: "Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus".
Bereits im Februar 1917 war es im kriegsmüden Russland zu einer Revolution gekommen, die die Zarenherrschaft beendet und eine demokratische Regierung aus Sozialisten und Liberalen an die Macht gebracht hatte. Warum blies Lenin Monate später wieder zum bewaffneten Aufstand?
Das haben selbst seine Parteigenossen zunächst nicht verstanden, als er im April mit deutscher Hilfe aus seinem Schweizer Exil zurückgekehrt war. In marxistischer Perspektive musste in einem rückständigen Land wie Russland ja zunächst eine bürgerliche und demokratische Revolution stattfinden, um eine Republik zu begründen und das Land zu entwickeln. Erst danach konnte man überhaupt an Sozialismus denken. Das war bis dahin auch die Doktrin von Lenins Bolschewisten selbst gewesen.
Aber Lenin hatte andere Pläne.
Lenin wollte zu irgendeinem völlig neuen Ufer. Sogar als er schon die Macht in der Hauptstadt erobert hatte, hat es Ende November 1917 noch freie Wahlen mit einer sozialistischen, aber eben nicht bolschewistischen Mehrheit gegeben. Eine auf ein Parlament und die Arbeiter- und Bauernräte gestützte, breite Koalitionsregierung wäre möglich gewesen. Aber genau das wollte Lenin nicht, weil er fürchtete, dass die eben errungene Macht sich wie ein Stück Zucker im Tee auflösen würde.
Wie begünstigte der Erste Weltkrieg Lenins Machtübernahme?
Für Lenin war der Weltkrieg weniger eine Katastrophe, sondern eine historische Chance. Wer nur Frieden wollte, war ein jämmerlicher "Sozialpazifist". Er wollte die Umwandlung des Weltkriegs in den Bürgerkrieg. Dieser Bürgerkrieg brach dann ja 1917 auch aus, mit oder ohne die Bolschewiki. Das russländische Vielvölkerreich implodierte geradezu – während Deutschland alle Friedensangebote ignorierte und darauf aus war, vom Baltikum bis zur Ukraine große Gebiete zu okkupieren, um auf dieser Basis den Weltkrieg im Westen zu entscheiden. Die russischen Armeen brachen zusammen oder lösten sich auf. Es existierte keine Macht mehr, die das Ganze zusammenhalten konnte. Es herrschte Lynchjustiz und Chaos. Und die Bolschewisten mussten Lenin zufolge diejenigen sein, die bereit waren, diesen Tiger zu reiten, um – hinter der Fassade einer "Sowjetmacht" – selbst die Zügel in die Hand zu bekommen.
In dieser Zeit bewies Lenin außerordentliche Nervenstärke.
Es folgte ein mörderischer Bürgerkrieg, in dem Lenins Rote nicht nur gegen die sogenannten Weißen Monarchisten kämpften, sondern übertrieben gesagt alle gegen alle. Entscheidend war, dass es Lenin und seinem relativ kleinen Bürgerkriegskader gelang, erst in den beiden Hauptstädten Moskau und Petrograd (das heutige Sankt Petersburg) und dann in anderen Teilen Russlands einen neuen Machtkern um sich herum zu bilden – und vom Zentrum aus dieses riesige Vielvölkerreich schließlich politisch-militärisch zurückzuerobern.
Ein Sieg, der mit ungeheurer Brutalität errungen wurde.
Nicht nur die alten Macht- und Verwaltungsstrukturen wurden zerschlagen und die besitzenden Klassen enteignet. Auch die Arbeiterklasse löste sich in diesem Bürgerkrieg fast auf. Die Städte leerten sich, die Bauern zogen sich in ihre Dörfer zurück. Aber gerade in diesem Vakuum gelang es der bolschewistischen Räteregierung, jugendliche, aktivistische, ehrgeizige Elemente aus allen Schichten der Gesellschaft unter dem roten Banner zu sammeln. Das war eine neue, politische Klasse, die sich auch im Alltag weniger auf bürokratische Anordnungen als auf direkte, willkürliche Gewalt stützte. Das war wahrscheinlich Lenins entscheidende Tat.
Der Terror wurde zu einem legitimen Mittel der Machtausübung?
Bevor die Bolschewisten den sogenannten Roten Terror 1918 im Bürgerkrieg proklamierten, hatte es Massenterror auf Seiten der sozialistischen Bewegungen nicht gegeben. Die Jakobiner 1792 waren ja bürgerliche Revolutionäre gewesen – die damit allerdings ein Vorbild geliefert hatten. Lenin war es, der den Terror sogar im Strafgesetzbuch als ein dauerhaftes Instrument der neuen bolschewistischen Macht zur Umformung der Gesellschaft installierte. Das war etwas historisch vollkommen Neues. Terror sollte nicht nur einschüchtern oder auch physisch vernichten, sondern auch nach dem Sieg als Instrument der Umgestaltung dienen.
Die Deutschen, die den Berufsrevolutionär Lenin aus seinem Schweizer Exil zurück nach Russland beförderten, waren an all dem ja nicht unbeteiligt.
Beide Seiten haben seit 1915 indirekt schon kooperiert. Deutschland wollte das Russische Reich ja "revolutionieren" und zerlegen – notfalls eben mit Hilfe russischer Revolutionäre. Die Frage ist ja nur, wer da wen benutzt hat. Letztlich war es Lenin, der die Weltmachtambitionen des deutschen Imperialismus für seine Zwecke genutzt hat. Alle Eroberungen, die das deutsche Kaiserreich nach dem Diktat von Brest im Februar 1918 im Osten gemacht haben, haben ihren Zusammenbruch im Westen am Ende nicht verhindert.
Kommen wir kurz noch einmal auf die eigentliche Zielsetzung des Kommunismus zurück. Eigentlich sollte er doch der "Befreiung der Arbeiter" dienen und eine soziale Gerechtigkeit herstellen?
Alles was mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat, können Sie beim real existierenden Kommunismus des 20. Jahrhunderts vergessen. Aus dem Marxismus war in den 50 Jahren vor 1914 ja zunächst einmal ein europäischer Sozialismus hervorgegangen, in dem die deutsche Sozialdemokratie die stärkste Kraft war. Das war die eigentlich große, emanzipatorische Bewegung der Zeit: Es ging um staatsbürgerliche und rechtliche Gleichstellung aller, um die Emanzipation der Frauen sowie aller religiös oder ethnisch Diskriminierten, und natürlich um soziale Lebenssteigerung und Chancengleichheit. Ab der Oktoberrevolution 1917 und der Machteroberung der Bolschewiki wird daraus etwas ganz anderes: Ein kollektivistisches Gesellschaftsideal, das sich einem Gesamtzweck unterwirft, den letztlich die Kommunistische Partei wiederum definiert. Die sozialen Interessen von Arbeitern und Bauern, auf die sich die gesamte Ideologie beruft, spielten praktisch keine Rolle.
Immerhin avancierte „Sowjet-Russland“ zum bis dahin größten Gesellschaftsprojekt der Geschichte. Wie haben die Kommunisten das angestellt?
Es gab keinen Plan. Zunächst sprach Lenin von einer Kombination von "kommunistischer" Rationierung und Staatskapitalismus nach dem Vorbild der deutschen Kriegswirtschaft. Dann machte er angesichts der katastrophalen Lage und der Hungersnot 1922 einen Schritt zurück und proklamierte die sogenannte Neue Ökonomische Politik, in der Familienwirtschaft, Kleinhandel und Kleinindustrie wieder zugelassen wurden.
Also ließ Lenin verpönte kapitalistische Wirtschaftsformen zu?
Im Prinzip, ja – und übrigens mit großem Erfolg. Das Land regenerierte sich. Als Lenins Nachfolger Stalin 1929/1930 plötzlich den Hebel wieder umlegte und die totale Kollektivierung der Landwirtschaft verkündete, hatte das vor allem etwas mit einem Kontrollverlust der Kommunisten zu tun: Sie bemerkten, dass sie das Land gar nicht wirklich beherrschten. Diese gewaltsame Revolution von oben war sozusagen eine zweite Wiedereroberung des Landes. Zugleich sollte die Kollektivierung der Landwirtschaft die Mittel für eine beschleunigte Industrialisierung herbeischaffen, und damit auch für eine beschleunigte militärische Aufrüstung. Lässt man aus der rosigen Propagandawolke wie bei einem Luftballon die Luft heraus, treten ganz handfeste Interessen dieser neuen kommunistischen Staatsklasse hervor. Sie wollten einen großen Machtstaat neuen Typs aufbauen. Zu einem beträchtlichen Teil übrigens auch mit Zwangsarbeit und dann mit einem erneuten, halb systematischen, halb irregulären, sogar wahnwitzigen Großen Terror.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein großer Teil der Welt kommunistisch. Warum war der Kommunismus neben der militärischen Stärke der Sowjetunion, die sozialistische Regime in besetzten Ländern etablierte, so attraktiv?
Nach den verheerenden Weltkriegen glaubten viele Menschen, dass ein radikal neuer Anfang gemacht werden müsste. Das war 1917 ein Teil der Faszination des Bolschewismus gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Kommunistischen Parteien in vielen Ländern vor allem im Widerstand gegen Eroberungsprojekte faschistischer Mächte zur Macht gekommen. China war schon in den 1930er Jahren vom militaristischen Japan angegriffen und besetzt worden, Jugoslawien 1941 vom faschistischen Italien und vom nationalsozialistischen Deutschland. Lenins Wiederaufrichtung des zerfallenen Russischen Reichs gegen die Einmischungen der Versailler Siegermächte war ein großes Vorbild für Kommunisten in anderen Ländern, wie Mao Zedong in China oder Hồ Chí Minh im späteren Vietnam. Die Kommunisten im 20. Jahrhundert waren vor allem Staats- und Reichsgründer. Als Mao 1949 mit seiner Roten Arbeiter- und Bauernarmee in Peking einmarschierte, sagte er: "China hat sich endlich wieder erhoben. Und wir, die Kommunisten, wir haben es gemacht." Und darauf beruft die Kommunistische Partei Chinas sich auch heute. In meiner Jugend galt den vietnamesischen "Vietcong", die der überlegenen, amerikanischen Weltmacht auf eigenem Boden die Stirn boten, große Bewunderung. Die Kommunisten waren tatsächlich oft Meister einer revolutionären Kriegführung mit Partisanen und regulären Truppen – de facto natürlich als Führer einer jeweiligen "nationalen Befreiungsbewegung". Das war ihre historische Leistung.
Allerdings arteten viele kommunistische Machteroberungen in Verbrechen aus: Lager, Zwangsarbeit, Massenexekutionen.
Richtig. Auch in Vietnam folgten auf den Sieg 1975 Arbeitslager und der Exodus der sogenannten "boat-people", und in Kambodscha wüteten die Roten Khmer. In meinem aktuellen Buch versuche ich zu entschlüsseln, woher diese Brutalisierung, diese moralische Demoralisierung der kommunistischen Regime kommt, die oft noch schlimmer und raffinierter sein konnte als alles, was sie zuvor bekämpft hatten.
Sie sagten gerade, dass kommunistische Bewegungen meist äußerst nationalistische Ziele hatten. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?
Als die deutsche Wehrmacht 1941 die Sowjetunion überfiel, appellierte Stalin ja nicht an die Verteidigung des Sozialismus. Sondern er rief die Völker der Sowjetunion zum "Großen Vaterländischen Krieg" gegen die deutschen Invasoren auf. Sozialismus und Nationalismus haben historisch viele Berührungspunkte gehabt. Beides lässt sich organisch miteinander verknüpfen. Auch die französischen Kommunisten waren nach dem Zweiten Weltkrieg schnaubend patriotisch, vor allem gegen die amerikanische Kultur und Hegemonie. Und die chinesischen Kommunisten waren sowieso immer der Wiederaufrichtung des großen, chinesischen Reiches verpflichtet, von Mao bis Xi. Insofern war der Kommunismus des 20. Jahrhunderts eine neue Form eines jeweiligen Patriotismus, zum Beispiel eines "Sowjetpatriotismus". So hieß das ja auch ganz offiziell.
1989 endete das große Zeitalter des Kommunismus abrupt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion existiert mit China nur noch eine kommunistische Supermacht. Aber können wir im Falle Chinas wirklich noch vom Kommunismus sprechen?
Ja, zumindest in dem Sinne, dass die Kommunistische Partei Chinas, die über Staat und Verfassung steht, definiert, was dem Gemeinwohl dient und was nicht. Der erste Satz in ihrem Statut lautet: Das oberste Ziel ist der Kommunismus. Was das sein soll, braucht nicht weiter erklärt zu werden. Kommunismus heißt in China lediglich, dass alle Bürger sich dem Gesamtziel unterzuordnen haben, dass "China groß, reich und mächtig" wird. So die offizielle Formel.
Tatsächlich häufen chinesische Parteimitglieder enorme Reichtümer durch kapitalistische Verhaltensweisen an.
Das stimmt. Aber die Partei bleibt ein strikt hierarchischer, zusammengeschweißter Verband, in dem der einzelne nicht aus der Reihe tanzen darf, sondern sich dem Gesamtzweck der Machtbehauptung unterwerfen muss. Die Parteimitglieder dürfen ihre Privatinteressen haben und Geschäfte machen. Aber die dürfen niemals dominieren, sonst wird es Korruption genannt. Dann können sie schnurstracks aus der höchsten Höhe in die tiefste Tiefe eines Kerkers fallen.
Fassen wir zusammen: Eine reine Lehre oder Idee des Kommunismus hat es also nie gegeben?
Nein. Marx selbst hat den Begriff praktisch auch kaum gebraucht. Faktisch war das eine Leerformel, die völlig unterschiedliche, zum Teil auch fast reaktionäre und regressive Sozialvorstellungen und -praktiken abgedeckt hat.
Herr Koenen, vielen Dank für das Gespräch!
Zum Weiterlesen:
Gerd Koenen: "Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus", München 2017