Hat Erdogan Recht? "Ströme von Blut" - unser vergessener Völkermord
Deutschland solle seine eigenen Völkermorde aufarbeiten, bevor es mit dem Finger auf die Türkei und ihre Armenier-Massaker zeigt, fordert der türkische Präsident Erdogan. Er nennt dabei auch den nicht eingestandenen Völkermord an den Herero in Deutsch-Südwest-Afrika (heute Namibia), 1904 bis 1908. t-online.de sprach darüber mit Ulrich Delius, Afrika-Experte der Gesellschaft für bedrohte Völker.
Herr Delius, Präsident Erdogan fordert, die Deutschen sollten den Völkermord an den Herero in Deutsch-Westafrika anerkennen. Ein Ablenkungsmanöver?
Er hat eigentlich zu viele Menschenrechtsprobleme im eigenen Land, um sich jetzt mit den Herero zu beschäftigen. Man sollte auch nie Gleiches und Ungleiches miteinander aufwiegen. Dass es den Völkermord an den Armeniern gegeben hat, ist Fakt. Ebenso hat es einen Völkermord an den Herero gegeben.
In aller Kürze: Was ist 1904 in Deutsch-Südwest-Afrika passiert?
Das war eine deutsche Kolonie, in der unter anderem rund 80.000 Herero lebten und 20.000 Nama. Sie hatten eine katastrophale Situation und lehnten sich auf. Bei dem Aufstand kamen relativ wenige deutsche Siedler ums Leben. Die Erhebung wurde dann brutal niedergeschlagen und endete in einem Völkermord.
Wie viele Menschen starben dabei in etwa?
73.000 Tote schätzt man aufgrund von Zählungen, die vorher und nachher stattgefunden haben. Man hat heute einen relativ genauen Überblick.
Also ein Großteil des Herero-Volkes?
Genau. Unter den Toten war auch die Hälfte des Nama-Volkes - also rund 10.000 Menschen.
Was für eine Einstellung steckte damals hinter diesen Massakern an der Urbevölkerung?
Man muss sich vor allem eine Persönlichkeit näher anschauen: Generalleutnant Lothar von Trotha, der Chef der deutschen Schutztruppe war. Er hatte schon eine lange Geschichte in afrikanischen Kolonialkriegen und hatte auch den Boxeraufstand in China niedergeschlagen. Von Trotha hatte ein ganz klares rassisches Überlegenheitsbewusstsein und sagte wörtlich: "Ich werde diese Herero mit Strömen von Blut und Geld vernichten." Durch die Auflehnung hatten sie demnach ihr Recht verwirkt, zu leben und deutsche Untertanen zu sein.
Unrechtsbewusstsein war damals aber durchaus vorhanden. Immerhin gab es Parlamentarier in Berlin, die gegen das Vorgehen von Trothas protestierten.
Ja, sein Vorgehen war sehr umstritten, vor allem innerhalb der SPD. Man hat auch sehr deutlich gegen ihn Partei ergriffen. Dennoch: Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung deckte sein Verhalten.
Was macht die Massaker an den Herero und Nama zu einem Völkermord?
Natürlich konnte Deutschland einen Aufstand niederschlagen. Nur hat von Trotha dabei ganz deutlich gesagt, dass er sich an kein humanitäres Völkerrecht oder sonstige Konventionen halten werde. So ist es auch geschehen: Man hat die Leute gejagt, obwohl sie keine Waffen hatten. Sie waren schon in einer Schlacht besiegt worden und dann hat man alle - Männer, Frauen und Kinder - die man greifen konnte, an Bajonetten aufgespießt, erschossen oder erschlagen. Den Rest der Bevölkerung - mehrere Zehntausend Menschen - hat man in Konzentrationslagern eingepfercht. Dort hatten sie nichts zu essen, es gab Seuchen und die meisten sind dabei zu Tode gekommen.
Das Ziel war die Vernichtung?
Das war das Ziel. Von Trotha wollte ein Exempel für ihr Aufbegehren statuieren. Er war auch nicht bereit, menschlich zu handeln. Das stand im Widerspruch zum Verhalten des deutschen Gouverneurs, der die Vernichtung ablehnte, aber sich nicht durchsetzen konnte. Es gab also zwei sehr unterschiedliche deutsche Positionen. Letztlich hat aber die Armee den Ausschlag gegeben und die meisten Ureinwohner getötet.
Deutschland, das auf seine Aufarbeitung des Holocaust zu Recht stolz ist, weigert sich, diesen Völkermord offiziell anzuerkennen, obwohl ihn kaum jemand abstreitet. Warum?
Da kommt viel zusammen: Erstens geschah dieser Völkermord weit weg, er liegt mehr als 100 Jahre zurück. Außerdem ist die Geschichtsschreibung dazu katastrophal: Da ist immer noch von "Hottentotten-Kriegen" die Rede. Das Geschichtsbild, auch von Deutschlands Rolle als Kolonialmacht, ist immer noch nicht aktuell. Und dann kommt noch die ganze Diskussion um die Folgen: Wenn wir den Völkermord anerkennen, müssen wir auch Entschädigungsleistungen zahlen.
Es geht also ums Geld?
Es geht auch ums Geld. Anders kann ich mir nicht erklären, warum sogar ein Außenminister wie der Grüne Joschka Fischer ganz kategorisch gesagt hat: Unter meiner Herrschaft wird es keine offizielle Entschuldigung geben.
Wie kommt das bei den Herero an?
Sie sind enttäuscht und verletzt. Das ist ja jetzt schon mehrere Generationen her. Gerade ist einer ihrer großen Führer gestorben, der lange den Kampf um Anerkennung gefochten hat. Die frühere Entwicklungshilfeministerin Heidi Wieczorek-Zeul hat 2004 eine Erklärung für sich abgegeben, die schon relativ weit ging in Richtung einer Entschuldigung - aber es war eben keine offizielle Anerkennung des Deutschen Bundestages oder der Regierung.
Die Fragen stellte Christian Kreutzer.