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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Lage an der Ukraine-Front "Das wäre politischer Selbstmord für Putin"
Die Ukraine gerät im Donbass zunehmend unter Druck. Schuld daran sind besonders drei Kernprobleme. Jetzt seien vor allem die europäischen Unterstützer gefragt, sagt ein Experte.
Für die Ukraine glichen die vergangenen Wochen einem Wechselbad der Gefühle. An der Front macht der brutale russische Angriffskrieg keine Pause. Mehr noch: Den russischen Truppen gelangen besonders in der Region Donezk Vorstöße. Sie konnten zuletzt gleich mehrere Ortschaften einnehmen und setzen die ukrainischen Verteidiger damit zunehmend unter Druck.
In der vergangenen Woche dann das kollektive Aufatmen: Erst das US-Repräsentantenhaus und dann im Anschluss der Senat stimmten einem 61 Milliarden US-Dollar schweren Hilfspaket für die Ukraine zu. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war erleichtert: "Das ist eine Entscheidung, die uns das Leben rettet", erklärte er nach der Entscheidung des Repräsentantenhauses.
Die Ukraine erhält jetzt dringend benötigten Nachschub an Munition und Militärgerät. Jubelschreie und Hoffnungen darauf, dass die ukrainischen Truppen schon bald die russischen Angreifer ihres Landes verweisen könnten, sind jedoch verfrüht. Denn die US-Militärhilfe lindert zwar die Probleme der Ukrainer, im Kern bleiben die Hürden auf dem Weg zu einem Sieg in diesem Krieg für die Verteidiger aber hoch.
Die Probleme auf ukrainischer Seite lassen sich auf drei Kernpunkte herunterbrechen: unzureichender Munitionsnachschub, Personalmangel und schlecht ausgebaute Verteidigungsanlagen. Die Vereinigten Staaten haben geliefert, gefragt sind nun besonders die europäischen Unterstützer.
Unzureichender Munitionsnachschub
Denn das US-Hilfspaket hat zwar einen enormen Umfang, ist jedoch auch mit zwei Problemen behaftet. Der Militärexperte Christian Mölling zeigt sie im Gespräch mit t-online auf: Zum einen laufe die Hilfe zwar jetzt an, "bis Gerät und Munition aber tatsächlich an der Front sind, kann es etwas dauern", so Mölling. Zum anderen werde auch das umfangreichste Hilfspaket irgendwann aufgebraucht sein. "Die Unterstützer der Ukraine müssen jetzt weiterdenken", sagt der Experte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Zur Person
Christian Mölling leitet das Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Sein Schwerpunkt liegt auf der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands und europäischer Länder, militärischen Fähigkeiten und der Rüstungsindustrie.
"Den Europäern läuft die Zeit davon", warnt Mölling. Die USA könnten angesichts der im November anstehenden Präsidentschaftswahlen und mit Aussicht auf eine erneute Amtszeit von Donald Trump im Weißen Haus als wichtigste Unterstützer schon bald wegfallen. Dann müssten die europäischen Unterstützer das kompensieren. Eines sei dabei besonders wichtig: "Wir müssen dabei raus aus der Weihnachtsgeschenke-Mentalität", sagt Mölling. Die Ukrainer sollten laut Einschätzung des Experten permanent bekommen, was sie brauchen, um den Krieg zu gewinnen. "Ein unzureichendes Waffenpaket jedes halbe Jahr reicht nicht."
Personalmangel
Auch beim zweiten Problem – dem Personalmangel aufseiten der Ukrainer – tut sich nun etwas. Mitte April hat das ukrainische Parlament eine Reform des Mobilmachungsgesetzes verabschiedet, das Mitte Mai in Kraft treten und es möglich machen soll, bis zu 500.000 Soldaten einzuziehen. Mehr dazu lesen Sie hier.
Doch das Gesetz ist nicht unumstritten: Eine erhoffte Begrenzung der Dienstzeit lässt sich darin nicht finden. Außerdem schränken ukrainische Konsulate seit Kurzem Dienstleistungen im Ausland für wehrfähige Männer ein, um sie zur Rückkehr in die Heimat und zu einem Einsatz an der Front zu bewegen.
Der polnische Militäranalyst Konrad Muzyka hält den Personalmangel für "den Schlüsselfaktor, der in den nächsten drei bis vier Monaten den größten Einfluss auf die Lage an der Front haben wird". Nach und nach würden nun neue Soldaten an die Front kommen, schreibt Muzyka auf der Plattform X. Sollte die Ukraine – etwa im Falle eines russischen Durchbruchs – noch stärker in Bedrängnis kommen, bestehe jedoch auch die Möglichkeit, ihre Ausbildungszeit zu verkürzen. Die Überlebenschancen der Soldaten steigert dieser Umstand nicht.
Kaum befestigte Verteidigungsanlagen
Auch auf den Ausbau der Verteidigungsanlagen blicken Beobachter mit Sorge. Militärexperte Muzyka hat auf Satellitenbildern aus den Regionen um Pokrowsk und Kostjantyniwka in Donezk bisher vor allem "Punktpositionen" ausgemacht, nicht jedoch befestigte Verteidigungslinien. Das begünstige Flankenmanöver, die die russischen Truppen laut Muzyka in diesen Gebieten bereits durchführen. Dabei greifen Russlands Truppen ukrainische Stellungen von mehreren Seiten an. "Wir können nur darauf hoffen, dass tief im Inneren der Oblast Donezks weitere Befestigungsanlagen gebaut werden", so der Analyst.
Ein ehemaliger ukrainischer Offizier, der auf der Plattform X unter dem Namen "Tatarigami_UA" firmiert, macht dabei darauf aufmerksam, dass Schützengräben allein nicht ausreichen würden. Drohnen machten demnach vor allem Schutz vor Angriffen von oben notwendig: Es sei "von entscheidender Bedeutung, dass Unterstände und Schützengräben durch Betonstrukturen und Drohnenfangnetze gut geschützt sind".
Russland macht Geländegewinne
Zuletzt wurden ukrainische Verteidigungsstellungen in Donezk von russischen Truppen förmlich überrannt. Im Ort Otscheretyne scheiterte ein ukrainisches Rotationsmanöver, das Soldaten ihre verdiente Pause ermöglichen sollte. Die Russen stießen vor und nahmen das Dorf nordwestlich von Awdijiwka kurzerhand ein.
Auch die nahe gelegenen Ortschaften Nowobachmutiwka, Solowjowe, Nowokalynowe und mindestens Teile des Dorfes Keramik fielen in kürzester Zeit an die russischen Angreifer. Russland könnte mit diesen Vorstößen einen groß angelegten Angriff auf die ukrainische Festung Tschassiw Jar vorbereiten, die bereits seit Wochen hart umkämpft ist.
Militäranalyst Konrad Muzyka zeichnet angesichts der Probleme ein düsteres Szenario. Die Situation an der Front sei aus Sicht der Ukraine die "schlimmste seit März 2022", so Muzyka. Russland könne seine zahlenmäßigen Vorteile bei Munition, Militärgerät und Personal genauso wie die Taktung seiner Angriffe weiter ausbauen. "Die Ukraine hat die dunkelste Stunde noch nicht erlebt", schreibt Muzyka. "Es geht bald los."
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Erwartung einer russischen Offensive
Der Militärexperte meint damit eine größere Offensive der russischen Streitkräfte, die Beobachter noch im Frühjahr, spätestens aber im Sommer erwarten. Diese könnte die ukrainischen Verteidiger an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringen. Auch DGAP-Experte Christian Mölling meint: Die Ukraine arbeitete zwar an einer Verbesserung der Situation, doch diese werde voraussichtlich über Monate hinweg prekär bleiben. "Die Russen nutzen diese Zeit", sagt Mölling.
Ob die russischen Streitkräfte tatsächlich bald eine größere Offensive beginnen werden, ist laut Mölling jedoch noch nicht schlussendlich absehbar. Genauso gut könnte es sich bei den viel zitierten Hinweisen um russische Beeinflussung des Informationsraums handeln. Zunächst aber stehe ein wichtiger Tag in Russland an: der 9. Mai, der "Tag des Sieges" über Nazideutschland. "Und Putin wird wohl mindestens einen symbolischen Erfolg vorweisen wollen", sagt Mölling.
"Wie dieser aussehen kann, lässt sich jedoch kaum sagen", fügt Mölling an. "Die Russen wissen aber, dass ihre Möglichkeiten mit der verstärkten Unterstützung des Westens für die Ukraine schwinden werden. Auch deshalb verstärken sie nun ihre Angriffe im Donbass."
ATACMS-Raketen setzen Russland auf der Krim unter Druck
Dennoch: Das US-Militärpaket weckt Hoffnungen auf eine Entspannung der Lage aus Sicht der Ukraine. Besonders die ATACMS-Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern könnten der Ukraine helfen. Ob die oft beschworenen durchschlagenden Erfolge oder gar der Status eines "Gamechangers" erreicht werden können, will Mölling nicht einschätzen.
Eines jedoch sei sicher, sagt der Experte: "Die dauerhafte Fähigkeit der Ukrainer, Ziele auf der gesamten Krim angreifen zu können, verändert für Russland den Gefahrenbereich drastisch." Aufgeben aber würden die Russen die Halbinsel deshalb noch lange nicht. "Das wäre politischer Selbstmord für Putin."
- Telefoninterview mit Christian Mölling:
- twitter.com: X-Beiträge von @konrad_muzyka und @Tatarigami_UA
- zeit.de: "'Der Feind drückt jeden Tag und hat leider Erfolg'" (kostenpflichtig)
- zdf.de: "Russland will verbleibende Zeit nutzen"