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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ukrainekrieg im Winter "Diese Kriegsführung wird sich nun verschärfen"
Die widrigen Wetterbedingungen werden den Ukraine-Krieg in den kommenden Monaten verändern. Ein Experte verrät, wem das in die Karten spielen könnte.
Sturmfluten an der Küste, überschwemmte Lager in Flussnähe und matschige Wege, auf denen selbst für Kettenfahrzeuge kaum ein Vorankommen ist: Das Wetter stellt die Kriegsparteien in der Ukraine derzeit vor große Herausforderungen.
Zahlreiche Videos, die in den sozialen Netzwerken geteilt werden, zeigen etwa Fahrzeuge, die im Schlamm feststecken. In den Schützengräben entlang der Frontlinie waten die Soldaten durch knöcheltiefen Matsch.
Die Wetterbedingungen werden die Art der Kriegsführung in den kommenden Monaten verändern, sagt Militärexperte Wolfgang Richter im Interview mit t-online. Er verrät, auf welche Waffensysteme jetzt vorrangig gesetzt werden wird, wenn Schnee und Eis die Ukraine überziehen.
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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine steht vor dem zweiten Winter und die Wetterbedingungen stellen beide Seiten vor große Probleme. Überschwemmungen setzen Lager in der Nähe von Flussufern unter Wasser. Sturmfluten treffen mit großer Kraft auf Küstenbefestigungen, wie hier in Sewastopol. Und in Lagern an der Front schlagen sich die Soldaten mit Schlammmassen herum, die das Vorankommen massiv erschweren. Inwieweit die Wetterbedingungen den Krieg in den kommenden Wochen und Monaten verändern werden, erklärt Militärexperte Wolfgang Richter.
“Ja, zunächst einmal werden Überflutungen – das fängt ja meistens im Herbst mit der Matschperiode an, wo Schlamm und Matsch zumindest außerhalb der Straßen das Gelände weitgehend unbegehbar machen und unbefahrbar. Selbst für Kettenfahrzeuge ist das sehr schwierig. Und das gilt noch mehr für Flussufer, die ja noch mehr durchnässt sind. Deswegen habe ich da ein paar Fragezeichen an dem Brückenkopf von Cherson.
Wenn es dann allerdings noch kälter wird und der Boden wieder zufriert, werden dann Bewegungen wieder leichter möglich, weil der Boden dann hart wird. Das heißt: Wir können davon ausgehen, dass im Winter die Kämpfe nicht zum Stoppen kommen. Das wird nicht der Fall sein, sondern, dass sich einige Bewegungen auch für Kettenfahrzeuge im Schnee dann wieder ermöglichen. Und ich gehe mal davon aus, dass deswegen auch die russischen Angriffe auf Awdijiwka weitergehen und sie nach wie vor versuchen, einen Erfolg zu verbuchen am Ende dieses Kriegsjahres, indem sie Awdijiwka nehmen.”
Da das Vorankommen für Bodentruppen und Fahrzeuge erschwert ist, wird sich in den nächsten Wochen und Monaten auch bei der Wahl der Kampfmittel etwas verändern, sagt Wolfgang Richter.
“Der Krieg wird sich beim strategischen Luftkrieg verschärfen. Es wird mehr Drohnen- und dann auch Angriffe mit ballistischen Raketen und Marschflugkörpern geben. Bewegungen auch auf dem Gefechtsfeld selbst sind nicht ausgeschlossen, wenn der Boden friert, sondern können sich dann doch wieder etablieren, allerdings unter erschwerten Bedingungen. Natürlich ist es weitaus schwerer in der Kälte, wenn es auch schwierig ist, Waffensysteme zu bedienen und teilweise dann durch Vereisung auch mögliche Lücken im Feuer entstehen können. Das ist immer schwieriger als im Sommer, selbstverständlich.”
Die Wetterbedingungen beeinträchtigen beide Kriegsparteien in diesem Winter in gleichem Maße, sagt Wolfgang Richter. Denn es gibt derzeit entlang der Frontlinie keinen klaren Angreifer, der gezwungen wäre, sich auf befestigte Stellungen eines Verteidigers zuzubewegen.
“Ja, wir sehen ja im Moment, dass der Krieg ein Stellungskrieg ist, in dem an der Masse der Front beide Seiten in Verteidigungsstellung sind und nur örtlich wird angegriffen. Es wird also konzentriert, was die Russen betrifft, auf Awdijiwka angegriffen. Sie haben ein paar leichtere Gegenangriffe versucht bei Robotyne und Werbowe, vielleicht werden sie das auch weiterführen. Wir müssen sehen, was sie im Bereich des Brückenkopfs Cherson tun. Ich glaube, das sind so die Hotspots, um die es im Moment geht.
Man kann nicht ganz ausschließen, dass die Russen versuchen, an anderer Stelle auch noch eine Front aufzumachen. Das wird dann sehr von den personellen Ressourcen abhängen, die sie da noch haben. Wir dürfen davon ausgehen, dass sie mittlerweile die Kräfte in der Ukraine auf an die 450.000 wieder hochgebracht haben, nachdem sie mit 200.000 vor zwei Jahren angetreten sind und dann durch die Verluste gezwungen waren zu mobilisieren, teilzumobilisieren, wie sie sagten. Also diese Kräfteunterlegenheit, die es am Anfang gab, haben Sie wieder ausgeglichen und versuchen Sie jetzt noch weiter anzureichern. Und ich gehe davon aus: Die Russen werden weiter angreifen, aber nicht auf breiter Front, sondern punktuell.”
Eine Winterpause ist also derzeit nicht absehbar im Ukraine-Krieg. Beide Seiten werden sich weiter entlang der Front gegenüberstehen. Große Vorstöße sind aufgrund der Witterungsbedingungen allerdings auch nicht zu erwarten.
Wie ukrainische und russische Streitkräfte im Winter vorgehen werden, welche Kampfmittel jetzt im Fokus stehen und ob eine der beiden Kriegsparteien daraus einen Vorteil schlagen kann, sehen Sie im Video direkt hier oder oben.
- Interview mit Militärexperte Wolfgang Richter vom 28.11.2023
- Lagebericht des Institute for the Study of War
- Aufnahmen aus der Ukraine via Nachrichtenagentur Reuters und X (vormals Twitter)