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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kreml-Herrscher in Peking Droht eine neue Weltordnung?
Zuerst kommt Putin, dann ein Mann mit einem Koffer. Der Inhalt ist brisant. Noch aufschlussreicher aber ist, was uns die Inszenierung des Ganzen sagen könnte.
Als Wladimir Putin am Mittwoch in Peking ankam und beim Seidenstraßengipfel dem chinesischen Gastgeber Xi Jinping seine Aufwartung machte, hatte der Kreml-Herrscher wie immer eine imposante Entourage im Schlepptau. Hinter der Kolonne von Bodyguards marschierten zwei russische Marineoffiziere. Einer der beiden Seemänner trug einen auffälligen Koffer: ein schwarzer Attachékoffer aus Hartplastik und mit silbernem Rahmen. Der sogenannte Tscheget.
In dem Koffer befinden sich die russischen Atomcodes. Mit ihnen kann der Präsident einen nuklearen Angriff befehligen. Dass Putin den Tscheget in Peking dabei hatte, ist zunächst nicht ungewöhnlich. Der Atomkoffer ist fast immer dabei, wenn Putin verreist (was Putin aus Angst vor Anschlägen und Verhaftung nicht sehr oft tut). Auch die Anführer anderer nuklearer Großmächte, wie etwa die USA oder China, haben eine Aktentasche mit den Informationen für einen möglichen Nuklearschlag dabei. Nur für den Notfall.
Ungewöhnlich am Tscheget, der nach einem Berg im Nordkaukasus benannt ist, war in Peking lediglich seine prominente Inszenierung. So verpasste es das mitgereiste Videoteam des Kreml nicht, den Marineoffizier mit dem Atomkoffer ausführlich ins Bild zu rücken. Die Kreml-Propagandisten vergrößerten sogar den Bildausschnitt, um der Tasche noch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Nur ein Detail, aber ein symbolträchtiges.
Kampf der Systeme und nukleare Drohszenarien
Die Koffer-Inszenierung, die von zahlreichen Medien sogleich aufgeschnappt wurde, hatte wohl gleich zwei Adressaten: zum einen den chinesischen Staatschef Xi Jinping. Der ist in den vergangenen 20 Monaten so etwas wie Putins Gönner geworden. Ohne den politischen Rückhalt aus Peking und die wirtschaftliche und inzwischen auch militärische Hilfe Chinas wäre der Kreml-Despot vermutlich längst in größeren Schwierigkeiten.
Um das Ungleichgewicht zwischen den beiden Autokraten nicht zu groß werden zu lassen, könnte der Atomkoffer Xi wohl daran erinnern, dass Russland immer noch über ein beträchtliches Arsenal an Vernichtungswaffen verfügt. Putins Reich mag zuletzt gewankt haben, mächtig ist es gleichwohl immer noch.
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Der andere Adressat ist natürlich der Westen. Seit dem Einmarsch in der Ukraine lässt der Kreml keine Gelegenheit aus, den Kampf der Systeme durch nukleare Drohszenarien anzuheizen. In staatlichen Medien und bei Telegram fordern die Einpeitscher des Putin-Regimes – gut situierte Hassprediger wie Solowjow, Medwedew oder Simonjan – fast schon zwanghaft den Einsatz von Atomwaffen gegen die Ukraine und ihre Verbündeten und fantasieren regelmäßig über die nukleare Auslöschung westlicher Hauptstädte.
Er beherrscht das Spiel mit den Symbolen
Putin selbst lässt lieber Bilder sprechen und so führt der Kreml die Show mit dem Atomkoffer nicht zum ersten Mal auf. Erst im April stattete Putin den von russischen Truppen völkerrechtswidrig besetzten ukrainischen Städten Luhansk und Cherson einen Besuch ab; mit dabei und prominent im Bild: der Atomkoffer. Wenige Monate zuvor hatte Russland unter dem Protest weiter Teile der Weltgemeinschaft die Annexion der besetzten Gebiete verkündigt. Auch hier setzte die Inszenierung der Kreml-Medien offenbar auf die Botschaft der nuklearen Abschreckung.
Das Spiel mit den Symbolen beherrscht der russische Machthaber gut. Im Laufe seiner fast 25 Jahre dauernden Amtszeit ist die bildhafte Sprache zu einem zentralen Instrument der Herrschaft Putins geworden. Experten sprechen bereits von einer "imperialen Linguistik", derer sich der Putinismus bedient. Eine Sprache, die auf die Überlegenheit des russischen Volkes und die aggressive Expansionspolitik Russlands zielt.
Nicht nur der Machthaber selbst spricht dabei stets im Gestus der Selbstversicherung, auch seine Adepten versichern sich mit ihren Hasstiraden und Drohgebärden gegen die Ukraine oder den Westen permanent der eigenen Position. "Seht her, wir sind wieder wer", scheinen sie zu rufen. Und: "Wir sind besser als ihr".
Es ist der Gestus des Halbstarken, der sich ebenso wütend wie risikofreudig gegen das Establishment stellt. Das Gehabe eines Diktators, der sich als junger Mann in den Hinterhöfen der Leningrader Kommunalka – jener ärmlichen Gemeinschaftsquartiere, in denen Putin aufwuchs – einen Ruf als breitbeiniger Schläger erwarb. Heute herrscht er im Kreml und setzt immer noch auf das Prinzip Einschüchterung. Statt Fäuste lässt er nun den Atomkoffer sprechen. Dass das nicht minder gefährlich ist, liegt auf der Hand.
Erstmals wieder Kernwaffentests?
Angesichts der pompös inszenierten Peking-Reise mag etwas untergegangen sein, das sich am Mittwoch im russischen Parlament abgespielt hatte. Da nahm die Duma in zweiter und dritter Lesung die Ratifikation eines Vertragswerks zurück, das seit einem Vierteljahrhundert die Welt sicherer machen sollte: das umfassende Verbot von Nukleartests (CTBT). Im Deutschen trägt der Vertrag den Titel Kernwaffenteststopp-Vertrag.
Russland hatte ihn 1996 neben 177 anderen Staaten unterschrieben und später auch durch die gesetzgebenden Organe ratifiziert. Acht Atommächte, darunter China, Indien oder die USA, hatten den Vertrag allerdings nicht ratifiziert, hielten sich de facto jedoch an das Nuklearwaffentest-Verbot (aus der Reihe fiel lediglich Nordkorea und dessen Machthaber Kim Jong Un).
Durch den Ausstieg aus dem Vertrag kann Russland bald, und erstmals seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wieder Kernwaffen testen (Mehr dazu lesen Sie hier). Der bislang letzte Atomwaffentest liegt 33 Jahre zurück, er fand am 24. Oktober 1990 statt.
Darwinistische Polit-Doktrin
Indem Russland nun den Vertrag deratifiziert, liefert es einen weiteren Beleg für seine Bereitschaft, aus der regelbasierten Weltordnung des Westens auszuscheren und seine eigene Agenda zu profilieren. Diese setzt im Wesentlichen auf nationalen Interessenvorrang, ethnische Überlegenheit, das Recht des Stärkeren und eine Sprache der Gewalt.
Einer der wichtigsten Alliierten innerhalb dieser darwinistischen Polit-Doktrin, die Putin mit dem Euphemismus "multipolare Weltordnung" umschreibt, ist China. Der kommunistische Machthaber Xi Jinping teilt viele der russischen Perspektiven. Mit Putin eint ihn vor allem das Interesse an einer Zurückdrängung des Einflusses des Westens und insbesondere der USA. Beide Autokraten scheuen vor einem neuen Kalten Krieg der Atommächte nicht zurück.
Kaum etwas könnte diesen Weltmachtanspruch besser symbolisieren als der Atomkoffer namens Tscheget. Darum rückte der Kreml ihn in Peking wohl groß ins Bild.
- newsweek.com: "Video Shows Putin With Nuclear Briefcase in China" (englisch)
- reuters.com: "Russian Duma takes first step to revoke ratification of nuclear test ban treaty" (englisch)
- theconversation.com: "In Russia’s war against Ukraine, one of the battlegrounds is language itself" (englisch)
- rferl.org: "Packed For The Apocalypse: U.S., Russian Leaders And Their 'Nuclear Suitcases'" (englisch)
- frontierindia.com: "Putin brought his Nuclear button, the Cheget terminal of the Kazbek system, to Luhansk and Kherson" (englisch)
- thesun.co.uk: "Putin seen with nuclear briefcase on shock trip to Ukraine in closest ever visit to front as nuke bombers take flight" (englisch)
- airandspaceforces.com: "The Russians and Their Nukes" (englisch)
- pravda.com.ua: "Putin arrives in China with nuclear briefcase" (englisch)
- paulmasonnews.medium.com: "You wanted a multipolar world? You got chaos" (englisch)
- cnbc.com: "US and China reportedly scuffled over nuclear ‘football’ during Trump’s Beijing visit" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- Eigene Recherche