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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Was Russen zum Krieg sagen "Ich unterstütze den Krieg nicht, aber …"
Auch nach Monaten voller Leid in der Ukraine geht die Kriegspropaganda des Kremls offenbar auf. Das zeigen Rechtfertigungsversuche mehrerer Russinnen und Russen.
Die russische Kriegspropaganda scheint weiter in Russland zu verfangen: Die Ukraine wolle angeblich keinen Frieden und schlimmer als ein Krieg sei nur ein verlorener Krieg. Mit solchen und ähnlichen Propagandaerzählungen versuchen russische Bürger den Angriffskrieg ihres Landes gegen die Ukraine zu rechtfertigen.
Das russische Exilmedium "Meduza" hat Leserbriefe seiner größtenteils russischsprachigen Leserschaft ausgewertet. Die Zuschriften zeigen, wie selbst Leser eines russischen Oppositionsportals die offizielle Propaganda nacherzählen. t-online zeigt eine Auswahl der markantesten Aussagen:
"Die Ukraine will keinen Frieden"
So schreibt etwa Andrej: "Eine Niederlage wäre für Russland eine nationale Demütigung [...]. Die Ukraine will keinen Frieden". Der Mann soll aus Wolgograd stammen, einer Millionenstadt südöstlich von Moskau. Mit der Behauptung, die Ukraine wolle keinen Frieden, übernimmt er ein Narrativ der russischen Propaganda – ungeachtet der scharfen Friedensbedingungen, die Moskau an Kiew gestellt hat.
Damit Russland möglichen Friedensverhandlungen überhaupt zustimmt, müsste die Ukraine demnach etwa die Waffen niederlegen, Ambitionen zu einem Nato-Beitritt aufgeben, Russisch als Staatssprache akzeptieren, die Krim als russisch anerkennen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte Friedensgespräche darum bislang abgelehnt.
"Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg"
Auch "Meduza"-Leser Oleg teilt die Sicht Andrejs: "Ich unterstütze den Krieg, weil ich denke, dass Selenskyjs 'Friedensplan' den 'kollektiven Westen' unterstützt und Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit einen solchen Schaden zufügen würde, dass es daran zerbrechen könnte [...]" Selenskyj hatte gefordert, dass Russland seine Truppen aus den besetzten Gebieten abziehen müsse, bevor Kiew sich auf Verhandlungen einlasse. Inwieweit dies Russland schaden könne, führte Oleg nicht aus.
Es war ein irrsinniger Fehler, den Krieg zu beginnen, aber jetzt muss man ihn gewinnen.
Anonymer Leser, 38 Jahre alt
Noch größer als die Sorge um Zugeständnisse scheint unter den Lesern die Angst vor einer gänzlichen Niederlage im russischen Angriffskrieg zu sein. "Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg. Es war ein irrsinniger Fehler, ihn zu beginnen, aber jetzt muss man ihn gewinnen, sonst wartet auf uns das Leid der Besiegten [...]", sagt etwa ein Leser.
Ähnlich geht es Alexej aus dem sibirischen Jakutsk: "Ich unterstütze den Krieg nicht, aber ich will auch nicht, dass Russland verliert. [...] Die Welt, wie wir sie kennen, wie wir sie gewohnt sind, wird mit Sicherheit zusammenbrechen, und es kommen noch dunklere Zeiten. [...]", schreibt er. Was genau er damit meint, führt er nicht aus – ähnlich wie etwa russische Propagandisten, die den Krieg gegen die Ukraine im Staatsfernsehen regelmäßig als alternativlos darstellen.
Wie das russische Staatsfernsehen funktioniert und warum so viele Russinnen und Russen der Propagandashow des Kremls glauben, sehen Sie im Video:
Angst vor der Niederlage
Ein Leser aus dem kasachischen Astana fürchtet wirtschaftliche Folgen für Russland im Fall eines Sieges der Ukraine: "Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – Nein danke", schreibt er. Bereits jetzt hat der Angriff Russlands auf sein Nachbarland jedoch massive wirtschaftliche Folgen.
Nach dem Einmarsch von Russlands Truppen war der Rubel-Kurs eingebrochen und lag monatelang deutlich unter dem Vorkriegsniveau, ein Großteil westlicher Firmen hat sich aus dem Land zurückgezogen, das russische Export- und Importgeschäft ist durch Sanktionen getroffen.
Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – Nein danke!
Anonymer Leser aus Astana
Auch ein Leser aus dem westsibirischen Tjumen deutet in seiner Angst vor einer Niederlage wirtschaftliche Sorgen an. "[...] Ich habe nicht vor, die nächsten 20 Jahre Reparationen für Fehler zu bezahlen, die andere begangen haben. Mit der Verliererseite wird niemand reden", sagt er. Zur Waffe greifen wolle er jedoch nicht.
Kreml-Erzählung vom angeblich faschistischen Europa
Zudem äußert sich der Leser aus Tjumen kritisch zu den Beitrittsambitionen der Ukraine zur EU. "Wenn dort ein europäischer Staat entstehen sollte, dann einer, der mit Francos Spanien oder Portugal unter Salazar vergleichbar ist und sich keinen Deut von Putins Russland unterscheiden würde", sagt er.
Er greift damit offenbar die Propaganda des Kremls auf, die Regierung in Kiew bestünde aus Neonazis: Francisco Franco herrschte bis 1975 vier Jahrzehnte lang als nationalistischer Diktator in Spanien; António de Oliveira Salazar führte bis 1968 ein autoritäres konservativ-nationalistisches Regime in Portugal.
Warum der Leser das glaubt, führt er nicht aus. Der ukrainische Präsident Selenskyj war im Jahr 2019 von der Mehrheit des Parlaments im Rahmen demokratischer Wahlen zum Regierungschef gewählt worden. Neue Wahlen sind für die Nachkriegszeit in Planung.
Angebliche Russophobie als Kriegsgrund
Zudem beschweren sich die Leser über eine angeblich westliche Ablehnung russischer Bürger. "Am Anfang habe ich [den Krieg gegen die Ukraine] abgelehnt [...]. Aber mit der Zeit habe ich gesehen, wie viel Hass es gegenüber Russland und den Russen gibt [...] – da wurde mir klar, dass die Russophobie und andere Dinge, die ich früher für stumpfe Propaganda gehalten hatte, nicht immer gelogen sind", sagt etwa Viktoria aus St. Petersburg.
Eine Ablehnung einiger Menschen gegenüber Russland ist jedoch vor allem auf den Einmarsch russischen Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 zurückzuführen. Immer wieder lässt die russische Militärführung dicht besiedelte Wohngebiete und andere zivile Ziele beschießen.
So gilt etwa der russische Luftangriff auf ein Theater in Mariupol als eines der schwersten Kriegsverbrechen im Krieg gegen die Ukraine. Bei dem Angriff auf das Gebäude, das der Zivilbevölkerung als Schutzort diente, starben im März vergangenen Jahres etwa 600 Menschen, darunter zahlreiche Kinder.
"Wir verteidigen nur unsere Souveränität"
Doch auch Sergej aus Perm beschuldigt westliche Staaten der Russophobie und behauptet: "Russland ist kein 'Terrorstaat', wir verteidigen nur unsere Interessen und unsere Souveränität." Damit bezieht er sich auf die Ablehnung Moskaus hinsichtlich eines möglichen Nato-Beitritts der Ukraine. Fakt aber ist: Als souveräner Staat hat die Ukraine ein Recht darauf, einen Beitrittsantrag zu dem Militärbündnis zu stellen.
Dass Russland dennoch bereit ist, seinen Willen notfalls mit Gewalt durchzusetzen, hat Moskau bewiesen: Russischen Truppen und Söldnern werden zahlreiche Kriegsverbrechen vorgeworfen; etwa das Massaker an der Bevölkerung im Kiewer Vorort Butscha und die Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland und offenbar auch Belarus. Gegen Putin wurde daher bereits ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs erlassen.
Russische Leser geben Ukraine Mitschuld
Auch geben einige "Meduza"-Leser der Ukraine eine Mitschuld am Ausbruch des Kriegs und an dessen Länge. "Die Ukraine stellt eine Gefahr für unsere Grenzen im Süden dar", behauptet etwa Murad aus Moskau. Dabei verweist er darauf, dass Kiew betone, sich die Halbinsel Krim und die von Russland seit 2014 besetzten Oblaste Luhansk und Donezk in der Ostukraine zurückholen zu wollen.
Dies ist tatsächlich erklärtes Ziel Kiews. Die Regierung hatte die Krim-Brücke, die das russische Festland und die annektierte Halbinsel miteinander verbindet, zuletzt offiziell zum Kriegsziel erklärt. Kiew beruft sich jedoch auf das Recht zur Selbstverteidigung. Russland hatte die Krim bereits 2014 völkerrechtswidrig annektiert. Im September folgten die völkerrechtswidrige Annektierung großer, unklar abgegrenzter Teile der ukrainischen Oblaste Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson.
Da bleibe ich lieber bei meinen Landsleuten, als auf das Wohlwollen irgendeines Podoljak oder eines amerikanischen Beamten zu hoffen, der am Krieg verdient.
Dimitri aus Moskau
Dimitri, ebenfalls aus Moskau, behauptet, dass die ukrainische Führung und die USA wirtschaftliche Gründe hätten, den Krieg weiterzuführen. "[...] Da bleibe ich lieber bei meinen Landsleuten, als auf das Wohlwollen irgendeines Podoljak [Mychajlo Podoljak, ein Berater Selenskyjs] oder eines amerikanischen Beamten zu hoffen, der am Krieg verdient."
Dass die Behauptung Dimitris nicht stimmt, zeigen Zahlen: So hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine das Land neben vielen Menschenleben bereits mehr als 250 Milliarden Euro gekostet. Die US-Regierung hat das Land seit Kriegsausbruch mit Militärhilfen in Höhe von mehr als 35,7 Milliarden Dollar unterstützt. Doch Dimitri ist nicht der Einzige, der der russischen Propaganda Glauben schenkt, die nur einen Bruchteil von dem im Staatsfernsehen zeigt, was im Krieg gegen die Ukraine tatsächlich geschieht.
- dekoder.org: "Ich bin nicht für den Krieg, aber …"
- swp-berlin.org: "Friedensverhandlungen im Krieg zwischen Russland und der Ukraine: Mission impossible"
- tagesschau.de: "++ Selenskyj erteilt Friedensinitiative eine Absage ++"
- apnews.com: "AP evidence points to 600 dead in Mariupol theater airstrike"
- amnesty.de: "Ukraine: Angriff auf Theater in Mariupol ist Kriegsverbrechen russischer Truppen"
- time.com: "How Putin's Denial of Ukraine's Statehood Rewrites History"
- cambridge.org: "Resolution ES-11/4 Territorial Integrity of Ukraine: Defending the Principles of the Charter of the United Nations"
- germania.diplo.de: "Annexion der Krim durch Russland ist und bleibt Völkerrechtsbruch"
- statista.de: "Ukraine-Krieg: Lieferungen und Zusagen von militärischem Material durch die USA an die Ukraine in den Jahren 2022 und 2023"
- stern.de: "Kriegskosten: 250 Milliarden Euro, Flüchtlinge: 23 Millionen, tote Zivilsten: 9000"