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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Talk bei "Anne Will" Experten warnen vor "falschen Hoffnungen" für Ukraine
Ist der Krieg bald vorbei? Anne Wills Gäste diskutierten, was die überhöhten Erwartungen des Westens an die Gegenoffensive der Ukraine so gefährlich macht.
Die Ukraine steht militärisch unter Zugzwang und vor einer Mammutaufgabe. Mithilfe der vom Westen gelieferten Waffen will sie strategisch wichtiges Territorium von den russischen Besatzungskräften zurückerobern.
Anne Will diskutierte mit ihren Gästen am Sonntagabend über die Erfolgsaussichten dieses Vorhabens. "Gegenoffensive der Ukraine – Kann sie die Wende im Krieg bringen?", hatte die Moderatorin ihrer ARD-Talkrunde als Fragestellung vorgegeben.
Die Gäste
- Saskia Esken, SPD-Vorsitzende
- Norbert Röttgen, CDU-Außenpolitiker
- Wolfgang Ischinger, Präsident des Stiftungsrates der Münchner Sicherheitskonferenz
- Andrij Melnyk, Vize-Außenminister der Ukraine
- Nicole Deitelhoff, Friedens- und Konfliktforscherin
Der aus Kiew zugeschaltete ukrainische Vize-Außenminister Andrij Melnyk nannte den geplanten Gegenangriff seines Landes einen "Hoffnungsschimmer für die Menschen". Gleichzeitig warb der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland für die Lieferung von Kampfjets und Munition. Die Erwartungen an die Offensive versuchte er herunterzuschrauben, um Druck vom ukrainischen Militär zu nehmen.
Ist die Solidarität mit der Ukraine gefährdet?
Auch Wolfgang Ischinger warnte davor, sich falsche Hoffnungen zu machen. Am wahrscheinlichsten sei, dass die Befreiung okkupierter Gebiete viele Monate in Anspruch nehmen werde. Zu glauben, in ein paar Wochen werde alles vorbei sein, sei ganz falsch und "Gift für die notwendige langfristige Unterstützung, die die Ukraine brauchen wird".
Die Sorge, die sich hinter diesen Äußerungen verbarg, prägte den gesamten Talk: Eine Enttäuschung über den ausbleibenden schnellen Erfolg könnte im Westen erst die Aufmerksamkeit für den Krieg und dann die Solidarität mit der Ukraine erlahmen lassen. Wiederholt wurde in der Runde an die US-Präsidentschaftswahlen Ende 2024 erinnert. Das republikanische Lager könne unter der Führung eines Hardliners wie Donald Trump oder Ron DeSantis versuchen, aus der Unzufriedenheit mit dem Kriegsverlauf Profit zu schlagen und den überparteilichen Konsens in der Frage aufzulösen, befürchtete etwa CDU-Politiker Norbert Röttgen.
Nicole Deitelhoff erkannte allerdings auch diesseits des Pazifiks Abnutzungserscheinungen. Die Professorin für Internationale Beziehungen warnte davor, die Identifikation mit den Problemen der Ukraine könne in Europa enden, falls die Offensive versande. "Es wird umso schwieriger, dann den Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern. Und der ist nötig: Es stehen viele Wahlen an, nicht nur in den USA", gab die Wissenschaftlerin zu bedenken.
CDU-Politiker Röttgen wirft Scholz Zögerlichkeit vor
Röttgen sah – besonders in Deutschland – das Problem stattdessen eher aufseiten der Regierung. Während er sich stolz darauf zeigte, "wie vernünftig, wie empathisch, wie solidarisch" die Menschen reagierten, ging er besonders mit dem Bundeskanzler hart ins Gericht. "Olaf Scholz ist derjenige in Europa und im Westen, der immer der Zögerer war. Er war unwillig", kritisierte der christdemokratische Außenpolitiker den sozialdemokratischen Regierungschef.
Angesichts dessen, was auf dem Spiel stehe, habe er kein Verständnis für "diese Lethargie, dieses Nichthandeln, dieses Hakenschlagen", echauffierte sich Röttgen. "Es geht auch um uns. Es geht um die Zukunft Europas in den nächsten Jahrzehnten: ob sie friedlich sein wird, ob sie freiheitlich sein wird, ob wir wieder Aufrüstung haben, ob wir wieder geteilt sein werden", betonte das Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Röttgens Fazit: Wenn Deutschland seiner Führungsrolle gerecht geworden wäre, stünde Europa heute geeinter und die ukrainische Armee besser ausgerüstet da.
"As long as it takes", verspricht die SPD-Vorsitzende
Ein Vorwurf, gegen den Saskia Esken den Kanzler in Schutz nahm. Die SPD-Vorsitzende lobte Olaf Scholz dafür, die Panzer-Allianz für die Ukraine geschmiedet und den amerikanischen Präsidenten mit ins Boot geholt zu haben.
Der Ukraine sicherte die Sozialdemokratin, unabhängig vom Verlauf der Offensive, uneingeschränkte Solidarität zu. Man werde keinen russischen Diktatfrieden, sondern nur einen gerechten und nachhaltigen Frieden in Europa akzeptieren. Dazu müsse Putin sich mit seinen Truppen aus der Ukraine zurückziehen, stellte die Sozialdemokratin klar. "Das Versprechen gilt, dass wir an der Seite der Ukraine stehen – as long as it takes", bekräftigte Esken.
Melnyks Idee, dass die Verbündeten der Ukraine mit jeweils einem Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts helfen könnten, schienen Eskens Beteuerungen aber nicht zu umfassen. "Ich glaube, dass die Unterstützung der Ukraine sich nicht in Prozentzahlen von unserem BIP bemessen muss, sondern in dem, was die Ukraine braucht, und das werden wir auch aufbringen", entgegnete sie auf den Vorschlag des ukrainischen Diplomaten.
Keine falschen Hoffnungen wecken
Friedensforscherin Deitelhoff hatte diesbezüglich ebenfalls Zweifel. "Wenn wir schon mit zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für unsere Verteidigungsausgaben Probleme haben, dann wird es noch schwieriger, sich auf ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts nur für die Ukraine und ihre Unterstützung hinzubewegen", rechnete sie vor.
Auch dem ukrainischen Vize-Außenminister gegenüber schien das Motto in der Runde also zu lauten: keine falschen Hoffnungen wecken.
Zu einer konkreten Prognose über mögliche Angriffsziele und den Ablauf der ukrainischen Offensive wollte sich von den Gästen ohnehin niemand hinreißen lassen. So blieb bis zuletzt der Eindruck eines Talks, der die Zuschauerinnen und Zuschauer vor allem auf eines vorbereiten wollte: eine anhaltende Zeit der Ungewissheit und des Krieges in Europa.
- "Anne Will" vom 7. Mai 2023