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Putin verhängt Kriegsrecht: "Eine formelle Kriegserklärung ist völlig unrealistisch"


Kriegsrecht in annektierten Regionen
"Eine formelle Kriegserklärung ist völlig unrealistisch"

Von t-online, ld

Aktualisiert am 19.10.2022Lesedauer: 3 Min.
Ukraine-Krieg: Der andauernde Beschuss ukrainischer Energieanlagen könnte einen kalten Winter bescheren. (Quelle: Glomex)

Mit Verhängung des Kriegsrechts weitet die russische Besatzung ihre Macht aus. Ist die Erklärung eine weitere Eskalation?

Der russische Präsident Wladimir Putin nennt seinen als "militärische Spezialoperation" bezeichneten Angriff auf die Ukraine zwar immer noch nicht Krieg. Er verhängt aber nun in den vier annektierten Regionen den Kriegszustand – unter anderem mit der Begründung, dass vor der Annexion dort ja das ukrainische Kriegsrecht gegolten habe. Das bedeutet, dass dort nun russisches Kriegsrecht gilt, das mit massiven Einschränkungen für die persönlichen Freiheiten der Menschen einhergeht.

So gelten etwa eine Sperrstunde und Militärzensur: Es werden Kontrollpunkte (Checkpoints) eingerichtet und Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt, wie der russische Menschenrechtsanwalt Pawel Tschikow erklärt. Möglich seien auch Festnahmen von bis zu 30 Tagen, die Beschlagnahme von Eigentum, die Internierung von Ausländern sowie Reisebeschränkungen für russische Staatsbürger ins Ausland. Auch die Zwangsarbeit in Rüstungsbetrieben soll möglich sein.

Doch warum geht Putin diesen Schritt? Was bedeutet er für die Menschen in den besetzten Regionen und in Russland? Und ist eine offizielle Kriegserklärung Russlands an die Ukraine nun absehbar?

"Russland braucht dringend Manpower"

Der Politikwissenschaftler und Sicherheitsexperte Gerhard Mangott der Universität Innsbruck hält das für unwahrscheinlich. "Eine formelle Kriegserklärung ist völlig unrealistisch", sagte Mangott im Gespräch mit t-online. Er glaube, man sei im Kreml noch weit von der Erklärung des Kriegszustandes in Russland entfernt.

Denn Putin verfolge mit der Ausrufung des Kriegsrechts in den besetzten Gebieten ein anderes mittelfristiges Ziel: "Er will eine Rechtsgrundlage für eine allgemeine Mobilmachung in diesen annektierten Regionen schaffen." Die russische Armee stehe unter großen Druck, Verluste in den eigenen Reihen auffüllen zu müssen. "Russland braucht dringend Manpower".

Zunächst habe man versucht, die Lücken durch die Teilmobilmachung in Russland zu füllen. Jetzt werde man vermutlich durch Zwangsrekrutierungen auch in den Regionen Cherson und Saporischschja versuchen, Männer für die Front zu organisieren. In den Regionen Donezk und Luhansk, sagt Mangott, sei das ohnehin schon Praxis.

Eine unmittelbare Eskalation weitere Eskalation an der Front sei dadurch aber nicht wahrscheinlicher geworden: Russland gehe es vor allem darum, die Personalstärke seiner Streitkräfte zu vergrößern. "Der heutige Tag ist eine Dokumentation des Kontrollanspruches Russlands über diese vier ukrainischen Regionen."

Auch angrenzende Regionen erhalten weitreichende Befugnisse

So sieht es auch der Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations in Berlin. Putin wolle den Anspruch untermauern, "das man über diese Gebiete herrscht", sagte Gressel dem Nachrichtensender "Welt". Praktisch würde sich in den besetzten Gebieten wenig ändern: Die russische Armee habe schon in den vergangenen Monaten "rangeschafft", also Menschen zwangsrekrutiert, erweiterte Sicherheitsbefugnisse in Anspruch genommen und Zivilisten für Zwangsarbeit herangezogen. Diese Praktiken würden mit dem neusten Schritt lediglich in eine vermeintliche Legalität gegossen.

Außerdem könnte das Verhängen des Kriegsrechts auch Auswirkungen auf das Bild des Kriegs haben, wie es sich Menschen im Westen darstellt: Bislang hätten Informationen aus den sozialen Netzen dabei geholfen, Truppenbewegungen, Aufmärsche und Manöver nachzuvollziehen. Doch mit der neuen Rechtslage sei das veröffentlichen von solchen Inhalten verboten, erklärt Gressel.

Lage für Menschenrechte dürfte sich verschärfen

Menschenrechtsanwalt Tschikow und andere Experten betonen zudem, dass im Zusammenhang mit dem Kriegsrecht im Grunde alle Regionen Russlands in der einen oder anderen Weise betroffen sein könnten. Der Kriegszustand zieht Angaben des Kreml zufolge nach sich, dass die Bewachung von militärischen und anderen staatlichen Objekten weiter verschärft wird.

Besonders geht es demnach um die Sicherung der öffentlichen Ordnung, also um den verstärkten Schutz etwa von Verkehrs- und Kommunikationswegen sowie Energieanlagen. Zudem können Evakuierungen angeordnet werden, um Menschen in sichere Regionen umzusiedeln.

Bürger können auch zur Unterstützung bei Verteidigungsaufgaben herangezogen werden, um etwa Kriegsschäden zu beseitigen, wie der Jurist Tschikow ausführt. Eingeschränkt werde nicht zuletzt auch die Arbeit politischer Parteien und das Versammlungs- oder Streikrecht. Menschenrechtler befürchten, dass sich die schwierige Lage in den betroffenen ukrainischen Regionen, die schon bisher unter ukrainischem Kriegsrecht lebten, weiter verschärft, weil die russischen Behörden größere Machtbefugnisse besitzen.

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur dpa
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