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IAEA warnt vor Atomunfall in Saporischschja: Besorgniserregend deutlich


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Europas größtes AKW
"Wir spielen mit dem Feuer"


07.09.2022Lesedauer: 5 Min.
Rafael Grossi: Der IAEA-Generaldirektor hatte die Mission zur Chefsache gemacht.Vergrößern des Bildes
Rafael Grossi: Der IAEA-Generaldirektor hatte die Mission zur Chefsache gemacht. (Quelle: Fredrik Dahl/IAEA)
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Eine überraschend deutliche Warnung statt der erhofften Entwarnung: Das ist das Ergebnis der IAEA-Mission zum AKW Saporischschja. Und nun?

Alles nicht so schlimm, das Kraftwerk ist sicher – das war das Fazit, auf das man nach der IAEA-Mission zum AKW Saporischschja gehofft hatte. Doch es kam anders. "Etwas sehr, sehr Katastrophales könnte passieren", sagte der Chef der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA), Rafael Grossi, am Dienstag vor dem UN-Sicherheitsrat.

Die IAEA-Experten sollten prüfen, wie groß die Schäden in der Anlage sind – und ob die Sicherheit des Kraftwerks ernsthaft gefährdet ist. Am Dienstag legte die Behörde ihren Bericht vor. "Die IAEA ist weiterhin schwer besorgt um die Lage", lautete das Urteil. Die Situation sei "unhaltbar".

Seit März halten die russischen Truppen das AKW in der Südukraine besetzt. Betrieben wird die Anlage weiterhin durch die ukrainischen Mitarbeiter. Immer wieder wurde die Anlage durch Einschläge beschädigt. Moskau und Kiew weisen sich gegenseitig die Verantwortung für die Angriffe zu.

Die Ergebnisse des Berichts im Überblick:

  • Die IAEA fordert die sofortige Einrichtung einer nuklearen Sicherheitszone um das AKW, um den Austritt von Radioaktivität zu verhindern. Es seien dringend Maßnahmen nötig, um einen nuklearen Unfall zu verhindern, der durch "mit militärischen Mitteln verursachte Schäden" ausgelöst werden könnte.
  • Durch den wiederholten Beschuss der Anlage seien unter anderem Dächer von Lagerstätten für radioaktives Material beschädigt worden.
  • Es bestehe eine konstante Bedrohung der nuklearen Sicherheit. "Der anhaltende Beschuss könnte andere kritische Anlagensysteme und Ausrüstungen beschädigen und schwerwiegendere Folgen haben, einschließlich der unbegrenzten Freisetzung von radioaktivem Material in die Umwelt", heißt es in dem Bericht.
  • Russische Panzerfahrzeuge seien in Turbinenhallen stationiert. Das belegen zudem mehrere Fotos von der Anlage. Die Organisation fordert den Abzug der Waffensysteme – sie könnten die Sicherheit der Anlage gefährden.
  • Ein Teil des Strahlungsmesssystems funktioniere derzeit nicht.
  • Die Lage der ukrainischen Mitarbeiter sei ebenfalls unhaltbar, so die Experten. Es gibt zu wenig Personal, für das verbleibende herrschten "extrem stressige Bedingungen". So steige das Risiko für Bedienungsfehler. Die Mitarbeiter haben nicht Zugang zu allen Teilen der Anlage – insbesondere im Notfall stelle das eine Gefahr dar.
  • Die Notfallzentrale des AKW sei von russischen Truppen besetzt und daher für die ukrainischen Mitarbeiter nicht zugänglich. Die alternative Notfallzentrale sei nicht voll funktionsfähig und verfüge weder über eine unabhängige Stromversorgung noch über eine Internetverbindung.
  • Sorgen bereiten der IAEA zudem die Unterbrechungen der Stromversorgung für die Kühlung der Reaktorkerne und des Atommülls. In einer Einheit sind die Dieselgeneratoren – die Notstromversorgung für die Kühlung der Reaktoren – in Betrieb genommen worden. Es gibt zwar einen Vorrat an Diesel, die Lieferung von Nachschub ist durch die aktuelle Situation jedoch erschwert.

Dass diese Erkenntnisse nun die Öffentlichkeit erreichen, ließe sich als Etappensieg der Diplomatie bezeichnen. Sowohl die Ukraine als auch Russland hatten der Mission zustimmen müssen, auf die die internationale Gemeinschaft wochenlang gedrängt hatte.

"Mit dem Eintreffen der Experten bekommen wir zum ersten Mal seit fünf Monaten eine unabhängige Begutachtung der Anlagen durch ein internationales Team", erklärte Atomenergie-Experte Sebastian Stransky von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) zuvor im Gespräch mit t-online.

"Die IAEA steht Russland viel näher als der Ukraine"

Heinz Smital von Greenpeace hatte hingegen vor zu hohen Erwartungen gewarnt, auch aufgrund der komplexen Verstrickungen der UN-Behörde. Russland ist nach deren Angaben das Land mit den meisten internationalen Atomenergie-Projekten weltweit – alle unterstützt von der IAEA, sagte Smital zu t-online. Zudem finden sich aus den Jahren vor dem Krieg zahlreiche weitere Kooperationsprojekte, von gemeinsamer Krebsforschung bis zu Bildungsprogrammen für nachhaltige Kernenergie. In der Ukraine ging es vor dem Krieg hingegen vor allem um die Folgen der Atomkatastrophe von Tschernobyl.

"Die IAEA steht Russland viel näher als der Ukraine", kritisierte der Greenpeace-Experte zuvor. Seine Befürchtung: Die internationale Organisation könnte weniger kritisch sein, als es angebracht wäre. "Die Ergebnisse wird man kritisch begutachten müssen – ebenso die Transparenz der IAEA", so Smital.

"Dass die IAEA das nicht benennt, ist problematisch"

Nach Veröffentlichung des Berichts sagt er nun, er sei überrascht von der Deutlichkeit der Warnung. "Das muss man positiv anerkennen", so Smital zu t-online. Schuldzuweisungen für den Beschuss der Anlage finden sich im Bericht allerdings nicht – das kritisiert der Atomenergie-Experte. "Es gibt mit Russland einen klaren Aggressor, der ein Atomkraftwerk raubt. Dass die IAEA das nicht klar benennt und versucht, sich diplomatisch herauszuziehen, ist problematisch." Andererseits wäre die Mission wohl nicht zustande gekommen, wenn so etwas erwartbar gewesen wäre, glaubt er.

Die IAEA

Die Internationale Atomenergie-Organisation (englisch International Atomic Energy Agency, IAEA) ist eine autonome Organisation innerhalb des Systems der Vereinten Nationen. Die Behörde unterstützt die Betreiber von Atomkraftwerken bei Sicherheitsfragen und überwacht im zivilen Bereich die Verwendung nuklearen Materials.

Russlands Präsident Wladimir Putin kritisierte die fehlende Schuldzuweisung am Mittwoch jedoch ebenfalls – allerdings bezogen auf den angeblichen Beschuss durch die Ukraine. Allerdings leugnete er auch, dass Russland an der Anlage militärische Ausrüstung stationiert habe – während der Bericht der IAEA dies klar belegt. Die russische Besatzung, insbesondere die Stationierung von Militärgerät auf der Anlage und die Kontrolle der ukrainischen Mitarbeiter des AKW, werden dort klar als Gefahr für die Sicherheit benannt.

"So deutliche Worte sind ungewöhnlich"

Damit habe er nicht gerechnet, räumt Smital ein: "So deutliche Worte sind ungewöhnlich für die IAEA." Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj begrüßte die Warnungen: Es sei "eine gute Sache", dass der Bericht russisches Militärgerät auf dem Gelände und den "Druck auf unsere Angestellten" erwähne, sagte Selenskyj am Dienstag.

Wie es nun weitergeht, scheint auch nach dem Bericht weiter unklar. Die IAEA fordert eine Sicherheitszone rund um das AKW. Bisher hatte Russland das abgelehnt. Auch vor dem UN-Sicherheitsrat am Dienstag sagte der russische Botschafter Wassili Nebensja, sein Land warte auf konkrete Vorschläge Grossis zu der demilitarisierten Zone. Russland werde darüber nicht mit der Ukraine verhandeln, weil diese ihre eigene Nuklearanlage beschieße. Der ukrainische Präsident Selenskyj machte hingegen einen Abzug der russischen Truppen zur Bedingung.

AKW droht Abschaltung

Derweil ist die Situation vor Ort nach wie vor weit von Entspannung entfernt – obwohl zwei der IAEA-Experten nun dauerhaft dort stationiert sind. Am Dienstag warf Russlands Verteidigungsministerium der Ukraine vor, Saporischschja innerhalb von 24 Stunden 15 Mal mit Artillerie beschossen zu haben. Dem Besatzungsvertreter Wladimir Rogow zufolge soll es sieben Einschläge im Bereich des Kraftwerk-Trainingszentrums gegeben haben.

Der ukrainische Betreiber Enerhoatom teilte am Montag mit, dass es beim sechsten und letzten noch betriebenen Block eine Notabschaltung gegeben habe. Später übermittelte Kiew an die IAEA die Information, der Strombedarf des Kraftwerks werde nach einer erzwungenen Trennung vom ukrainischen Netz weiter von einem im Betrieb befindlichen Reaktor gedeckt – die wichtige Kühlung der Reaktoren war damit zunächst sichergestellt.

Doch auch am Mittwoch war die Anlage noch immer vom Netz getrennt. Sollte dies weiterhin der Fall sein, werde man auf Dieselgeneratoren zurückgreifen müssen – potenziell könne aber die Situation eintreten, dass der Dieseltreibstoff ausgehe. Daher prüfe man die Abschaltung des gesamten AKW, sagte der Nuklearsicherheitsbeauftragte Oleh Korikow.

Experte fordert Konsequenzen für IAEA

Dass es auch nach der IAEA-Mission nicht einfach werden würde, war bereits vorher klar: "Die Situation ist ein absolutes Novum", sagte Sebastian Stransky. "Dafür gibt es keine Blaupause." Heinz Smital fordert unterdessen Konsequenzen auch von der Atomenergieorganisation: "Die IAEA kann nicht einerseits so tun, als könnten die Geschäftsbeziehungen mit Russland normal weiterlaufen und andererseits vor der Gefahr eines Atomunfalls in einem russisch besetzten AKW warnen."

Interesse an einer absichtlich herbeigeführten nuklearen Katastrophe dürfte zwar keine der Seiten haben: Die Ukraine nicht, weil es ihr eigenes Gebiet ist, aber auch Russland nicht, weil aufgrund der vorherrschenden Windrichtung die Radioaktivität wohl auf russisches Gebiet getragen werden würde.

Man könne davon ausgehen, "dass niemand einen schweren Reaktorunfall gezielt provozieren wird", sagt Greenpeace-Experte Smital. "Aber durch die zunehmende Eskalation und die Unübersichtlichkeit der Situation ist es ein hochbrisantes Pulverfass, das sich nicht so leicht entschärfen lässt." Auch IAEA-Chef Grossi sieht keinen Grund zur Entwarnung: "Wir spielen mit dem Feuer", stellte er am Dienstag fest.

Verwendete Quellen
  • Telefonate mit Heinz Smital am 30.08.2022 und am 07.09.2022
  • Telefonat mit Sebastian Stransky am 30.08.2022
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