Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Achtung vor dieser Irreführung
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
während die Temperaturen hier in Washington eisig bei unter -10 Grad bleiben, ist die politische Lage so heiß wie wohl seit vier Jahren nicht mehr. Donald Trump ist gerade mal zwei Tage als 47. US-Präsident im Amt. Seine Lawine an Verfügungen, den Executive Orders, ist aber so gewaltig, dass Politiker, Journalisten, Juristen und Menschenrechtsorganisationen kaum hinterherkommen. Hier können Sie meinen Report dazu lesen.
Diese Überforderung ist gewollt – und von langer Hand über Jahre hinweg geplant worden. Ich kann Ihnen von hier nur berichten: Jeder, der seine Aufgabe darin sieht, den neuen Machtinhaber im Weißen Haus zu kontrollieren, versucht sein Bestes.
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Was mir in den vergangenen Wochen und besonders in diesen ersten Tagen aufgefallen ist: In seiner neuen Amtszeit wenden Donald Trump und viele Republikaner eine rhetorische Strategie an. Sie beruft sich auf eine Politik des "gesunden Menschenverstands". Sie nennen das hier "common sense".
Dieser Politik-Ansatz soll pragmatisch, vernünftig, gerecht und ideologiefrei wirken. Und damit bei der breiten amerikanischen Bevölkerung Anklang finden. Doch wer genau hinsieht, dem offenbart sich eine beunruhigende Realität: Der Verweis auf diesen "gesunden Menschenverstand", auf Normalität und Sachlichkeit dient in Wahrheit als Deckmantel für tief ideologische, oft spaltende Maßnahmen und für die Gefahr von Machtmissbrauch.
Nur ein Beispiel: Im US-Heimatschutzministerium gab es seit 2021 eine Richtlinie. Sie besagte, dass Beamte der Abschiebebehörde, der Immigration and Customs Enforcement (ICE), sich bei ihren Einsätzen an bestimmte Regeln halten müssen. So sollten Migranten aus humanitären Gründen nicht in Schulen, Kirchen und Gesundheitseinrichtungen festgenommen werden.
Per Unterschrift hat Trump nun verfügt, dass diese ICE-Beamten größere Befugnisse bekommen. Festnahmen von Migranten dürfen ab sofort ohne Einschränkungen und überall erfolgen. Das bisherige Mindestmaß an gesetzlichen Schutzmaßnahmen wird in dem Trump-Dekret durch den "gesunden Menschenverstand" der Beamten ersetzt. Was das genau bedeuten soll, ist unklar. Klar ist nur, dass damit das Vorgehen der Beamten jeder Kontrolle entzogen wird.
Der "gesunde Menschenverstand" ist als politisches Schlagwort ungeheuer wirkungsvoll. Denn es appelliert einerseits an gemeinsame, kulturelle Werte. Andererseits weckt es den Glauben an unbürokratische Entscheidungen. Gegner dieses propagierten "common sense" werden damit schnell zu Feinden des Volkes oder zur weltfremden Elite erklärt, die lieber an bürokratischen und ideologischen Dogmen festhält, als dem Volkswillen zu entsprechen.
Sicher, die Republikaner haben mit Donald Trump die Wahl klar gewonnen. Die Mehrheit in einer Demokratie darf trotzdem nicht mit dem Volkswillen gleichgesetzt werden. Den nämlich gibt es in Wahrheit nicht. Zur Demokratie gehört insbesondere der Schutz von Minderheiten. Doch die Trump-Regierung hat es auf viele dieser Gruppen abgesehen. Dazu gehört die kleine Gruppe von Menschen, die als Transgender und Intersexuelle bezeichnet werden, also jene, die sich nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren oder die schlicht biologisch weder eindeutig männlich noch weiblich sind. Dazu gehört aber auch die große und sehr komplexe Gruppe illegaler Einwanderer.
Die Wahrheit hinter dem politischen Ansatz vom "gesunden Menschenverstand": Bei der Einwanderungspolitik soll der Eindruck entstehen, Abschottung und Abschreckung seien flächendeckender Konsens. Das Ziel: Kritische oder differenzierte Debatten sollen unterbunden und abweichende Meinungen als irrational oder extrem abgetan werden. Die Mehrheit der Amerikaner sieht zwar illegale Migration als ein Problem an, das gelöst werden muss. Wie die Lösungen aber aussehen sollen, darüber wird aber gestritten.
In Washington wurde am Dienstag bei einer Begegnung deutlich, dass diese Abschreckungspolitik keineswegs von allen geteilt wird: Beim traditionellen Morgengottesdienst am Tag nach der Amtseinführung sprach die Bischöfin von Washington, Mariann Edgar Budde, den direkt vor ihr sitzenden Donald Trump an: "Bitte haben Sie Gnade, Mister Präsident".
Sie appellierte an ihn, dass Millionen von illegalen Einwanderern trotz fehlender Papiere keineswegs als Kriminelle in den USA lebten. Sondern vor allem schlecht bezahlte Jobs als Erntehelfer auf den Feldern, als Tellerwäscher in den Restaurants oder als Putzkräfte in den Wohnungen wohlhabender Amerikaner verrichteten – und Steuern zahlten.
Kinder lebten fortan an jedem Tag in Angst, dass ihre Eltern abgeschoben und sie von ihnen getrennt werden könnten, so die Bischöfin. Wegen des geschürten Hasses auf trans Menschen hätten viele von ihnen nun Angst um ihr Leben, sagte Mariann Budde. Trump rollte dazu genervt mit den Augen. Und Vizepräsident Vance flüsterte empört mit seiner Frau.
Der Präsident beschwerte sich später bei den Reportern. Er habe den Gottesdienst "wenig interessant" gefunden. "Das könnten sie wirklich besser machen", Trump. Die aufgebrachten Kommentare gegen die Bischöfin in den sozialen Netzwerken reichten später von "widerlich" bis "unverschämt." Die Botschaft der Attacken: Diese Frau hat wohl den Verstand verloren.
Trumps "common sense"-Strategie geht weit über die Einwanderungspolitik hinaus. Die Trump-Regierung nutzt sie in vielen Politikfeldern, etwa um Umweltvorschriften zurückzufahren, das Wahlrecht einzuschränken oder um Industrien zu deregulieren – oftmals zum Nachteil von Arbeitnehmern und Verbrauchern. Das Totschlagargument dabei ist fast immer Effizienz, Vernunft oder Pragmatismus.
Journalisten, Politiker und in ganz besonderem Maße die Bürger müssen sich darum bei jeder, der sie flutenden Maßnahmen fragen: Wer definiert hier gerade den "gesunden Menschenverstand"? Wessen Interessen dient er? Und welche realen Konsequenzen haben diese Maßnahmen für die Betroffenen? Man könnte es auch so sagen: Man sollte seinen eigenen gesunden Verstand gerade dann einsetzen, wenn jemand behauptet, im Namen aller zu handeln.
In Deutschland fällt einem in diesem Zusammenhang schnell die AfD-Vokabel "Gender-Gaga" ein. Nach anfänglicher Empörung hat sie längst Einzug in die Alltagssprache vieler anderer Parteien und auch in die Medien gefunden. Als Strategie nennt man so etwas ein erfolgreiches Framing.
"Gender-Gaga" wird dabei als gewissermaßen krankhaftes und irres Gegenteil eines propagierten gesunden Menschenverstandes inszeniert. Was damit allerdings genau gemeint sein soll, ist ebenso schwammig wie dem aus den USA entlehnten Wort "woke". Im Zweifel wird einfach alles darunter verstanden, was eine bestimmte Gruppe stört. Im Zweifel ist "woke" oder "gaga" dann alles, was anders ist als die propagierte Norm. Auch die Bischöfin aus Washington wurde nach ihrer kritischen Intervention übrigens als "woke" beschimpft.
Trump unterstützt diese "Anti-Woke"-Strömung in seiner "Make America Great Again"-Bewegung nach Kräften. Das machte er mit der Unterzeichnung eines weiteren Dekrets an seinem ersten Tag deutlich: Es soll in den USA in offiziellen Zusammenhängen nur noch Mann oder Frau geben. Alles andere ist eben gaga.
Wo es in Wahrheit bei einer Regelung vielleicht um den Schutz von Minderheiten ging, die niemandem etwas wegnahmen, wurde so über die Zeit eine behauptete Bedrohung für die Allgemeinheit. Zugleich führten die betroffenen Gruppen ihrerseits einen radikalen Kampf. Kritik wurde oft reflexhaft als Rassismus, Sexismus oder Diskriminierung verunglimpft. Der perfekte Mix für eine unversöhnliche Spaltung.
Was optimistisch stimmen kann: Im wahren Leben, also wenn echte Menschen aufeinandertreffen, dort kann man den gesunden Menschenverstand oft wirklich finden. Bei gegenseitiger Nachbarschaftshilfe, bei Anteilnahme, Mitgefühl und ehrenamtlichem Engagement. Dort schweigen die oft erbarmungslosen, sozialen Netzwerke und auch die immer lauteren Parolen aus der Politik. Zur Vernunft gehört das gegenseitige Verständnis. Und das entsteht beim Miteinander.
Ohrenschmaus
An so wilden Tagen wie den vergangenen, an denen viele Dinge gleichzeitig geschehen, kann es schwerfallen, die Ruhe zu bewahren. Filmmusik, ohne Gesang, hilft zumindest mir beim Fokussieren. Weil ich neulich in Los Angeles auf dem Walk of Fame über den Stern des deutschen Hollywood-Komponisten Hans Zimmer gestolpert bin, habe ich gestern seinen Soundtrack zu "Interstellar" angehört. Hier finden Sie mein Lieblingsstück in einer Live-Version.
Was steht an
Bundeskanzler Olaf Scholz reist nach Paris. Zwei Tage nach der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Donald Trump wird er sich dort mit Präsident Emmanuel Macron austauschen.
Im Schweizerischen Davos wird das Weltwirtschaftsforum fortgesetzt. Unter anderem treten dort der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck und die EZB-Chefin Christine Lagarde auf.
Nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg: Am Mittwoch soll ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Landtag von Sachsen-Anhalt eingesetzt werden.
Das historische Bild
Queen Victoria regierte ein wahres Weltreich, 1901 ging mit ihrem Tod eine Ära zu Ende. Mehr lesen Sie hier.
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Donald Trump ist zurück im Weißen Haus, Elon Musk soll ihm beim Durchregieren helfen. Was will der Multimilliardär erreichen? Es könnte gefährlich werden, warnt der Historiker Quinn Slobodian im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.
Der neue Machthaber im Weißen Haus beeinflusst schon jetzt den Krieg in der Ukraine – mit Folgen für Wladimir Putin und die ukrainischen Verteidiger, analysiert mein Kollege Patrick Diekmann.
Viele deutsche Parteien sehen Donald Trump skeptisch. Doch er hat auch einige Verbündete in Europa. Gemeinsam bedrohen sie nun die Einheit der EU, wie mein Kollege Jakob Hartung schreibt.
Zu guter Letzt
Diese amüsante Szene geistert seit der Amtseinführung durchs Netz. Noch-Vize-Präsidentin Kamala Harris und der neue Vize-Präsident J.D. Vance teilten auf dem Weg zur Amtseinführung im Kapitol eine Limousine. Der Secret Service musste Vance allerdings auf einen Fehler hinweisen. Hier geht es zur Szene.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Morgen schreibt Ihnen t-online-Chefredakteur Florian Harms.
Ihr
Bastian Brauns
Washington-Korrespondent
Twitter @BastianBrauns
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Mit Material von dpa.
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