Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Deutschlands Machtdemonstration
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
manchmal muss man das Leben einfach laufen lassen: Sommer, Sonne, Eis, Strand – der Hochsommer ist da, mit all seinen irdischen Freuden. Wenn Sie zum urlaubenden Teil der Bevölkerung gehören, herzlichen Glückwunsch! Dann befinden Sie sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 28 Prozent im beliebtesten Reise- und Sehnsuchtsland der Deutschen: Deutschland.
Und wenn Sie dann noch zu denen gehören, die ihre Ferien an der Ostsee verbringen, gar auf Fehmarn, dann konnten Sie in den vergangenen Tagen vielleicht Zeuge eines ungewöhnlichen Schauspiels werden. Denn durch den nur 19 Kilometer breiten Fehmarnbelt, nahezu in Sichtweite der Strandbesucher, tuckerten zwei chinesische Kriegsschiffe.
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Der Zerstörer "Jiaozuo", begleitet vom Flottenversorger "Honghu", passierte die enge Wasserstraße Richtung Osten mit dem Ziel Sankt Petersburg. Dort feierten die russischen Seestreitkräfte am vergangenen Sonntag den Tag der Marine, einen wichtigen russischen Nationalfeiertag, an dem auch die chinesische (und indische) Marine teilnahm. Wladimir Putin nutzte die Waffenschau als Machtsignal gegenüber dem Westen.
Die Fahrt der chinesischen Militärschiffe entlang der deutschen Küsten, die von der Bundespolizei aufmerksam beobachtet wurde, zeigt vor allem eines: Die Meere und Küsten sind längst Schauplatz globaler Machtkonflikte – und Deutschland ist mittendrin.
Denn die Chinesen sind nicht die Einzigen, die Militärpräsenz auf der anderen Seite des Globus zeigen. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) schickt im Zuge der Marinemission "Indo-Pacific Deployment 2024" zwei deutsche Kriegsschiffe einmal um die Welt. Die Fregatte "Baden-Württemberg" und der Einsatzgruppenversorger "Frankfurt am Main" starteten ihre Tour in den Pazifik im Mai in Wilhelmshaven und nehmen dieser Tage an der multinationalen Marineübung "Rimpac" nahe Hawaii teil, die von der US-Navy durchgeführt wird. Danach geht es für die deutschen Besatzungen weiter, zum eigentlichen Teil der Reise: einer Durchfahrt des Südchinesischen Meeres.
Die Mission ist nicht ohne Risiko. Auch wenn es ausdrücklich kein scharfer Einsatz deutscher Kriegsschiffe, sondern als "Präsenzfahrt" ausgeschildert ist, geht Deutschland damit auf Konfrontation mit der größten Seemacht der Welt: China.
Die chinesische Führung betrachtet das Südchinesische Meer als ihren Hinterhof. Schon 2021 schickte Deutschland eine Fregatte durch das wirtschaftlich und politisch bedeutsame Gewässer – sehr zum Ärger der chinesischen Regierung.
Dass Peking sich von der deutschen Militärdiplomatie provoziert fühlen könnte, ist dabei kein Ausrutscher, sondern Sinn der ganzen Unternehmung. Denn die vermeintliche Provokation durch deutsche Kriegsschiffe ist in Wahrheit gar keine: So wie China das Recht genießt, durch den Fehmarnbelt zu gondeln, dürfen deutsche Schiffe durch das Südchinesische Meer schippern.
Die freie Schifffahrt wird geregelt durch das UN-Seerechtsabkommen von 1982 (Unclos), das vom damaligen China unterzeichnet wurde, aber vom heutigen China regelmäßig verletzt wird. Die deutsche Fahrt durch den vermeintlichen chinesischen Hinterhof dient also dazu, den Chinesen klarzumachen, dass auch Deutschland künftig darauf achtet, dass das Seerecht eingehalten wird.
Eine andere Frage ist, ob sich die leninistische Diktatur unter Machthaber Xi Jinping von der deutschen Flagge vor ihren Küsten beeindrucken lässt. China hat auf dem Weg zur Vorherrschaft in einer der wichtigsten maritimen Regionen der Welt längst Fakten geschaffen: Peking errichtet seit Jahren militärische Vorposten im Meer, besetzt unbewohnte Riffe und Atolle, baut seine Seestreitkräfte massiv aus. Die Anrainerstaaten – die Philippinen, Indonesien, Malaysia, Brunei, Singapur, Vietnam, Taiwan – fühlen sich durch das aggressive Auftreten der chinesischen Supermacht bedroht, aber haben auch untereinander ungelöste Gebietsstreitigkeiten.
Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Vorfällen mit Fischerbooten. Chinas Küstenwache macht dabei regelmäßig Jagd auf Fischerboote anderer Nationen, rammt sie oder drängt sie gefährlich ab. Das Regime in Peking begründet seinen Griff nach der Macht historisch und auf Basis von Seekarten, die fast das gesamte Südchinesische Meer als chinesische Einflusszone ausflaggen. Auch hier in eklatantem Verstoß gegen internationales Seerecht.
Das Risiko einer militärischen Eskalation im Südchinesischen Meer ist also hoch. Für die kleineren Anrainerstaaten geht es um Meeresressourcen, Fangrechte, sichere Seewege und die Kontrolle über ein Gebiet, in dem ein Drittel des weltweiten Seehandels abgewickelt wird. Für die Supermächte China und USA, die das Gewässer längst zu einem Schauplatz ihrer globalen Rivalität gemacht haben, geht es um mehr: die Zukunft der regelbasierten internationalen Ordnung und das globale Gleichgewicht der Mächte.
Um die chinesischen Machtansprüche zu kontern und die ultimative Eskalation in der Region zu verhindern – einen Angriff der Chinesen auf Taiwan – haben auch die USA ihre Militärpräsenz immer weiter verstärkt. Die künftige US-Regierung, ob unter Führung von Trump oder Harris, wird ihren Schwerpunkt noch stärker auf den Machtkampf in Ostasien verlegen.
Bei dieser explosiven Gesamtlage drängt sich die Frage auf, ob es klug ist, dass künftig auch die Bundeswehr dort mitmischt. Ausgerechnet in einer Region, in der Deutschland historisch nichts zu melden hat, und mit einer Marine, die viele Jahre kaputtgespart wurde.
Die Bundesregierung hat die Frage bereits vor vier Jahren bejaht. In den "Leitlinien zum Indo-Pazifik" von 2020 hat Deutschland seine Interessen an der Region formuliert: Es geht um offene Seewege und Freihandel, die regelbasierte internationale Ordnung und um Stabilität in einem geopolitischen Großraum mit vier Nuklearmächten (China, Indien, Pakistan, Nordkorea).
Was damals noch theoretisch formuliert und von den westlichen Verbündeten belächelt wurde, wird jetzt Wirklichkeit. Verteidigungsminister Pistorius will keine Zeit verlieren und warnt, dass sich Deutschland eine "Vernachlässigung dieser Region nicht erlauben" könne.
Die instabile Weltlage gibt ihm recht: Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie sehr Europa auch von Partnern in anderen Weltregionen abhängig ist, sei es bei UN-Abstimmungen, Waffenlieferungen oder Sanktionen gegen Russland. In Berlin und anderen europäischen Hauptstädten reift die Erkenntnis, dass Europa für seine Verbündeten einstehen muss, wenn diese bedroht sind.
Auch China scheint mittlerweile immerhin zu akzeptieren, dass Deutschland Interessen in der Region hat. Was nicht bedeutet, dass die "Präsenzfahrt" in Peking mit Begeisterung aufgenommen werden wird.
Der eigentliche Knackpunkt wird jedoch ein anderer sein: Werden die deutschen Kriegsschiffe auch durch die Formosastraße fahren, besser bekannt als die Taiwanstraße? Aus chinesischer Sicht wäre es wohl ein größerer diplomatischer Eklat, obwohl das internationale Seerecht die Durchfahrt erlaubt.
Die Bundesregierung hält sich diesbezüglich noch bedeckt, zumindest nach außen hin. Gut möglich, dass sich Verteidigungsminister Pistorius bereits entschieden hat, aber die Entscheidung erst kurz vorher verkünden wird, um China kaum Reaktionszeit zu lassen.
Politisch gesehen bleiben Pistorius und der Bundesregierung eigentlich nur eine Option: auf die Fahrt durch die 180 Kilometer breite Wasserstraße zu pochen. Alles andere würde von China vermutlich als Unterwerfungsgeste auffassen, also das exakte Gegenteil dessen, was man als Kernziel der Pazifik-Mission formuliert hatte: das Eintreten für die freie Schifffahrt und die Aufrechterhaltung einer regelbasierten Ordnung.
Denn eine Mission, die sich für freie Seewege einsetzt, aber sich nicht traut, sie zu befahren, hätte man dann vielleicht auch sein lassen können.
Muss die Ampel ihr Wahlrecht nachbessern?
Wie es mit unserer Demokratie weitergeht, wird heute in Karlsruhe verkündet. Das Bundesverfassungsgericht urteilt am Vormittag, ob die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Wir erinnern uns: Die Reform, von der die CSU behauptete, sie sei "organisierte Wahlfälschung" wie in "Schurkenstaaten".
Das ist zwar ziemlich dick aufgetragen, aber die Ampel hat der Opposition tatsächlich mindestens einen triftigen Grund zur Kritik geliefert. Das sehen nicht nur viele Experten so, sondern auch einige Ampelpolitiker selbst.
Und offenbar auch das Gericht selbst. Denn wie unter anderem t-online am späten Montagabend erfuhr, halten die Richter in Karlsruhe das neue Wahlrecht der Ampel in Teilen für verfassungswidrig. Insbesondere die im neuen Wahlrecht gestrichene Grundmandatsklausel ist den Verfassungshütern ein Dorn im Auge.
Kurios an der Urteilsverkündung: Schon am Abend, bevor sich die Karlsruher Richter der Öffentlichkeit präsentieren sollten, um ihr Urteil bekannt zu geben, war die Entscheidung auf der Seite des Gerichts einsehbar. Über die vermeintliche Panne berichtet meine Kollegin Sara Sievert.
Ziel der Wahlrechtsreform ist es, den Bundestag zu verkleinern. Der war bei der vergangenen Wahl 2021 auf die Rekordgröße von 736 Abgeordneten angewachsen und er könnte noch größer werden. Das zu verhindern, halten theoretisch alle wesentlichen Parteien für eine gute Idee. Die umstrittene Frage ist seit Jahren nur: Wie gelingt das möglichst fair? Denn irgendwem tut es immer weh, wenn künftig deutlich weniger Politiker im Parlament sitzen.
Die Antwort der Ampel lautet: indem die Überhang- und Ausgleichsmandate wegfallen. Wie viele Sitze eine Partei im Parlament hat, darüber soll künftig nur ihr Zweitstimmenergebnis entscheiden. So sollen dem Bundestag künftig nur noch 630 Abgeordnete angehören.
Besonders die Union kritisiert jedoch eine Nebenwirkung: Ohne Überhangmandate werde das Direktmandat entwertet. Das könne sogar dazu führen, dass einzelne Wahlkreise gar nicht mehr repräsentiert seien. Überhangmandate standen einer Partei bislang dann zu, wenn sie mehr Wahlkreise direkt gewonnen hatte, als sie nach dem Zweitstimmenergebnis eigentlich bekommen hätte.
Künftig sollen nur noch die Direktkandidaten in den Bundestag kommen, deren Parteien auch genügend Zweitstimmen gewonnen haben. Alle anderen Wahlkreisgewinner bleiben draußen. Das empfindet vor allem die CSU als unfair. Kein Wunder – gewinnt sie doch in Bayern traditionell viele Direktmandate, kann sie aber bei den Zweitstimmen bundesweit keine großen Sprünge machen. Die Ampel argumentiert: Die Regeln gelten für alle, und viele Parteien verlieren Abgeordnete.
Laut des gestern Abend geleakten Urteils sehen die Verfassungsrichter das genauso wie die CSU. Für die Ampel ist das durchaus unangenehm. Im Gesetzgebungsverfahren hatte die Regierung nämlich kurz vor Schluss die sogenannte Grundmandatsklausel gestrichen. Sie sah vor, dass Parteien, die an der Fünfprozenthürde scheitern, dennoch entsprechend ihres Zweistimmenergebnisses in den Bundestag einziehen können, wenn sie mindestens drei Direktmandate erringen.
Das Argument der Ampel lautete: Passt nicht mehr ins neue System, das die Direktmandate den Zweitstimmen unterordnet. Nur hätte die Abschaffung dazu führen können, dass nicht nur die Linkspartei aus dem Bundestag fliegt, sondern auch die CSU. Denn für sie wäre es künftig trotz vieler Direktmandate schwierig geworden, bundesweit die fünf Prozent zu knacken. Insofern kann die nun festgestellte Verfassungswidrigkeit der gestrichenen Grundmandatsklausel als Erfolg für die CSU gewertet werden.
Es ist abermals ein Tadel für die Ampelkoalition aus Karlsruhe. Aber einer, den sie wohl verschmerzen kann.
Historisches Bild
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Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen weiterhin eine gute Woche. Am Mittwoch schreibt Ihnen David Schafbuch.
Ihr Daniel Mützel
Politischer Reporter
Twitter: @DanielMuetzel
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Mit Material von dpa.
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