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Deutschland fehlt die Vision: Warum das die AfD stärkt und die Wut nährt


Tagesanbruch
Angst vor dem Abstieg


Aktualisiert am 24.06.2024Lesedauer: 7 Min.
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Jubel bricht sich Bahn: Die deutschen Spieler feiern den 1:1-Ausgleichstreffer von Niclas Füllkrug.Vergrößern des Bildes
Jubel bricht sich Bahn: Die deutschen Spieler feiern den 1:1-Ausgleichstreffer von Niclas Füllkrug. (Quelle: Christian Charisius/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

so lässt es sich doch in die neue Woche starten: Endlich ist Sommer drin, wo "Sommer" draufsteht, fast ganz Deutschland erwartet heute Traumwetter und dann schießt sich die Fußballnationalmannschaft auch noch mit einem Tor in der Nachspielzeit als Gruppenerster ins Achtelfinale der Heim-EM. Hätten Sie das nach der eher durchwachsenen Vorbereitung und dem letzten WM-Auftritt gedacht? Ich muss gestehen: Ich nicht. Ich hatte den Glauben verloren.

Doch zum Glück kommt es in Fußballdeutschland nicht in erster Linie darauf an, was ein einzelner Fan denkt, sondern darauf, was die Mannschaft denkt. Und die hat offenkundig an sich geglaubt – selbst nach dem langen Rückstand gestern gegen die Schweiz. Nationalstürmer und Gruppensieg-Sicherer Niclas Füllkrug brachte das in der ZDF-Doku "Heimvorteil" auf den Punkt: Wenn wir den Rückenwind vom Land bräuchten, sagte er im September 2023, "dann haben wir ein Problem, wenn er nicht da ist".

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Man könne sich schließlich nicht auf etwas verlassen, das man nicht zu einhundert Prozent beeinflussen kann. Stattdessen müsse das Team zusehen, "das Vertrauen in uns selbst zu stärken, damit wir diese Stärke auf den Platz bringen". Denn, da war sich Füllkrug sicher: "Wir haben die Qualität und die Stärke."

Auch die Politik braucht solche Erzählungen

So viel Zuversicht würde ich mir beizeiten auch von der Mannschaft in der Regierung wünschen. Vielleicht ist die sogar da, hinter den verschlossenen Türen des Bundeskanzleramts. Doch anders als die DFB-Elf trägt die BRD-Siebzehn das Vertrauen in die eigene Stärke nicht – oder nicht glaubhaft – nach außen.

Vor fünf Tagen schrieb mein Chef an dieser Stelle, Kanzler Scholz könne etwas von Bundestrainer Julian Nagelsmann lernen. Ich möchte das Bild noch etwas weiter aufziehen und behaupten: Deutschland fehlt eine Vision. Es fehlt eine positive Erzählung, wie die Zukunft des Landes aussehen kann. Man könnte auch sagen: Es fehlt der Traum vom Titel.

"Die Zukunft ist heute ein einziger Abwehrkampf"

Nun ist die Aufgabe, ein Land mit über 80 Millionen Einwohnern zu führen, natürlich ungleich komplexer, als 26 Profi-Fußballer auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören. Trotzdem wäre es ein erster wichtiger Schritt für die Politik, ihr Ziel überhaupt zu formulieren. Und zwar konkreter als "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben", wie es etwa die CDU im letzten Bundestagswahlkampf plakatierte. Inzwischen scheint es jedoch nicht einmal mehr für solche Wischiwaschi-Visionen zu reichen.

"In der politischen Bildersprache ist die Zukunft heute ein einziger Abwehrkampf auf einer abschüssigen Bahn nach unten", sagte der Soziologe Hartmut Rosa im Gespräch mit "tagesschau.de". "Gegen die Russen. Gegen den Klimawandel. Gegen den wirtschaftlichen Niedergang. Gegen die AfD. Gegen die Migration. Das sorgt für Hoffnungslosigkeit und Wut."

Die Deutschen fürchten den Verlust

War man früher der Überzeugung, dass es die eigenen Kinder einmal besser haben werden als man selbst, ist es heute umgekehrt: Ihnen wird es schlechter gehen – und mir selbst gleich mit. Sozialwissenschaftler nennen dieses Phänomen Statusangst. Die Sorge, dass die eigene wirtschaftliche Situation gefährdet sei, dass der soziale Abstieg drohe.

Nicht die tatsächliche Lage im Hier und Jetzt ist also entscheidend für die Stimmung im Land, sondern die künftigen Aussichten. Wer fürchtet, etwas verlieren zu können, wird skeptisch gegenüber der Demokratie – und bewegt sich in Richtung der politischen Ränder. Das erklärt, warum auch immer mehr Bürger aus der Mittelschicht und junge Menschen die AfD wählen. Und übrigens auch, warum die AfD im Osten stärker ist als im Westen.

Denn wie die Politikwissenschaftler Philip Manow und Hanna Schwander in ihrer Studie zum Rechtspopulismus zeigen, bilden vor allem jene Menschen Statusangst aus, die in ihrem Leben schon einmal die Erfahrung gemacht haben, dass es abwärts gehen kann – und darauf blicken im Osten viel mehr Bürgerinnen und Bürger zurück als im Westen. Stichwort Wendetrauma. Stichwort Massenentlassungen nach dem Mauerfall.

Zwei Dinge sind jetzt entscheidend

Es besteht also eine seltsame Diskrepanz: Objektiv geht es vielen Deutschen gar nicht so schlecht, doch unzufrieden sind sie trotzdem. Für den Soziologen Rosa keine Überraschung: "Unsere Wahrnehmung, ob wir in guten oder schlechten Zeiten leben, hängt nämlich weniger davon ab, was wir haben, sondern eben davon, worauf wir uns zubewegen." Und da gebe es derzeit die Wahrnehmung einer Bewegung auf eine einzige dunkle Wand aus Kriegen, Seuchen und Klimakatastrophen.

Um das zu ändern, braucht es zwei Dinge:

  1. das schon angesprochene positive Gegenmodell, wie die Zukunft sein wird,
  2. die Besinnung auf die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen, mit denen sich dieses Ziel erreichen lässt. Denn eine Krise wirkt umso weniger bedrohlich, je sicherer ich mir bin, sie bewältigen zu können.

Alles nur Krieg, Verbote und Verzicht? Nein.

Statt es also mit Begriffen wie "Kriegstüchtigkeit" und "neuem Wehrdienst" so aussehen zu lassen, als bestünde die Zukunft nur noch aus Krieg und Aufrüstung, müsste die Koalition deutlich machen, dass all das zwar aus guten Gründen nötig sein kann, aber das langfristige Ziel eine friedlichere Welt bleibt.

Statt bei der Klimakrise den Fokus auf Verzicht und Verbote zu setzen, wäre es hilfreicher zu betonen, was man gewinnt, wenn weniger Verbrenner die Luft verschmutzen, wenn die Städte grüner werden oder was der Einzelne spart, wenn er auf Wärmepumpe statt Gasheizung setzt.

Und statt bei der Migration den Eindruck zu erwecken, als sei sie per se schlecht und nichts als eine Belastung, könnte man genauso gut erzählen, dass die gesetzliche Rentenversicherung gerade so viele Beitragszahler hat wie noch nie – und das vor allem dank Einwanderung aus dem Ausland.

Kurz gesagt: Man könnte den Menschen das Gefühl geben, ja, es gibt einen Haufen Probleme, aber wir kriegen das schon hin. Denn wir wissen erstens, wo wir hinwollen, und zweitens, mit welchen Mitteln. Dann fällt auch die Leistung auf dem Platz leichter – sei es im Kabinett oder im Stadion.


Apropos Bundeskabinett

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Keine Kürzungen im Sozialen, aber mehr Treffsicherheit: Bundeskanzler Olaf Scholz hat das ARD-Sommerinterview am Sonntagabend genutzt, um seinen Positionen im Haushaltsstreit Nachdruck zu verleihen. "Wir werden den Sozialstaat verteidigen. Und wir werden ihn auch entwickeln", sagte er auch mit Blick auf Mahnungen aus der SPD, Einschnitte bei Sozialausgaben abzuwenden.

Beim Bürgergeld kündigte Scholz ein härteres Durchgreifen an. Es dürfe nicht passieren, "dass jemand arbeitet, das Einkommen verschweigt und dann noch gleichzeitig Bürgergeld bekommt." Auch dürfe sich niemand davor drücken, mitzuarbeiten, um die eigene Arbeitslosigkeit zu überwinden.

Im zuvor gesendeten Online-Format "Frag selbst!", bei dem Nutzer sozialer Medien ihre Fragen an den Kanzler stellen konnten, gestand Scholz zudem, dass die Koalition eine Mitschuld an ihren schlechten Umfragewerten habe. Es habe nicht geholfen, dass die Bürgerinnen und Bürger in Zeiten großer Unsicherheit "das Ringen um die richtige Lösung so dramatisch mitverfolgen" konnten.

Oder anders gesagt: dass sich die Ampelkoalition bei quasi jeder wichtigen Entscheidung öffentlich zerstritten hat. Man habe zwar "unglaublich viele Entscheidungen getroffen, die dazu dienen, dass man zuversichtlich in die Zukunft blicken kann", es sei jedoch nicht gut, dass man "im Pulverdampf nicht gesehen hat, was dort entschieden worden ist."


Apropos Stadion

Es war zäh, es war mühsam, aber am Ende ist es noch mal gut gegangen: Mit dem späten Ausgleich durch Niclas Füllkrug hat die deutsche Fußballnationalelf den Gruppensieg perfekt gemacht. Zum Spielbericht der Sportkollegen geht es hier.

Es war beileibe nicht das beste Spiel der Deutschen, trotzdem war der Punkt gegen lästig gut taktierende Schweizer verdient. Und: Womöglich war der lange Rückstand die Bewährungsprobe, die das Team noch gebraucht hat, um zu merken, dass es damit umgehen kann. Oder, wie es Toni Kroos formulierte: "Wir haben gezeigt, dass wir an uns glauben bis zum Ende." Eine Qualität, die noch mal wertvoll werden könnte.


Was steht an?

Erneut vor Gericht: Björn Höcke, AfD-Landeschef in Thüringen, muss sich binnen kurzer Zeit ein zweites Mal strafrechtlich verantworten. Er soll im Dezember 2023 als Redner auf einer Veranstaltung in Gera die NS-Losung "Alles für Deutschland" verwendet haben – obwohl zu dem Zeitpunkt bereits ein anderes Strafverfahren wegen derselben Parole gegen ihn lief. Im Falle einer Verurteilung droht Höcke eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe.


Erneut zu Besuch: Außenministerin Annalena Baerbock reist zum achten Mal seit der Terrorattacke der islamistischen Hamas nach Israel. Hauptgrund ist die wachsende Sorge vor einer Eskalation des Konflikts mit der proiranischen Hisbollah-Miliz im Libanon. Gesprochen wird aber auch über die humanitäre Lage im Gazastreifen sowie das militärische Vorgehen Israels in Rafah.


Erneuter Anlauf: Menschliche Organe können bisher nur nach ausdrücklicher Zustimmung entnommen werden. Das will eine fraktionsübergreifende Abgeordnetengruppe ändern und an diesem Montag einen Antrag für die "Einführung einer Widerspruchsregelung" vorstellen. Damit würden zunächst alle als Organspender gelten – außer, man widerspricht.


Erneute Entscheidung: Während Spanien schon vor dem letzten Spieltag als Sieger in der Gruppe B feststeht, ist Platz zwei noch für jeden drin. Die größten Chancen hat aber Italien. Das sind die heutigen EM-Partien:

  • 21 Uhr: Kroatien – Italien in Leipzig (ZDF/MagentaTV)
  • 21 Uhr: Albanien – Spanien in Düsseldorf (RTL/MagentaTV)

Das historische Bild

1988 warteten die Deutschen auf Nachricht aus Hessen, dort hatte sich ein schweres Grubenunglück ereignet. Mehr lesen Sie hier.


Ohrenschmaus

Es gibt kein Festival, auf dem ich öfter war als auf dem Hurricane im niedersächsischen Scheeßel. Heute reisen die letzten Besucher von dort ab – womöglich mit diesem Indie-Klassiker im Ohr.


Lesetipps

Bringen neue Schulden Deutschland voran? Darüber hat t-online mit Clemens Fuest gesprochen, einem der bekanntesten Volkswirte des Landes. Im Interview mit meinen Kollegen Florian Schmidt und Mauritius Kloft erklärt der Präsident des Münchner Ifo-Instituts außerdem, welche Folgen die Heim-EM für Deutschland hat und kritisiert die Renten-Pläne der Ampel.


Donald Trump will an die Macht zurück – allen Skandalen zum Trotz. Die Folgen könnten auch für Deutschland verheerend sein. Krimiautor Don Winslow will einen Wahlsieg Trumps verhindern. Wie das gelingen soll, erklärt er im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.


Obwohl die EM in Deutschland stattfindet, sind unter den Sponsoren vor allem chinesische Firmen. Selbst große deutsche Autokonzerne sind diesmal nicht dabei. Was dahintersteckt, hat meine Kollegin Frederike Holewik notiert.


Zum Schluss

So viel zur Strahlkraft von Fußball und Politik.

Ich wünsche Ihnen einen vergnügten Start in die Woche! Morgen schreibt wieder Florian Harms für Sie.

Herzliche Grüße

Christine Holthoff
Redakteurin Finanzen
X: @c_holthoff

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Mit Material von dpa.

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