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Demokratie und kaum Korruption: Das rätselhafteste deutsche Wunder


Meinung
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Tagesanbruch
Das rätselhafteste deutsche Wunder

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 03.04.2023Lesedauer: 6 Min.
Dunkle Wolken über Berlin.Vergrößern des Bildes
Was man in Deutschland besonders gern sieht: dunkle Wolken. (Quelle: Reiner Zensen/Imago Images)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

falls Sie der Meinung sein sollten, dass in Deutschland vieles richtig schiefläuft – oder vielleicht auch nur halb- oder viertelschief –, dann muss ich Sie gleich an dieser Stelle enttäuschen. Denn ich finde, die Lage ist bei Weitem nicht so schlimm, wie sie oft dargestellt wird.

Uns geht es so gut – und wir sind oft so unzufrieden. Das ist vermutlich das rätselhafteste deutsche Wunder.

Damit Sie mich nicht missverstehen: Natürlich gibt es bei uns vieles, das sich beklagen lässt. Die Preise steigen rasant, die Regierung zankt sich selbst über Lappalien, bald könnte es den größten Streik im öffentlichen Dienst seit 1992 geben – und im März hat es so viel geregnet wie seit über 20 Jahren nicht mehr.

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Und das ist nur die Momentaufnahme. Es laufen auch ein paar grundsätzliche Dinge nicht wirklich gut: Unser Gesundheitssystem ist trotz gegenteiliger Beteuerungen von Politikern ungerecht; wir haben unsere demografischen Probleme noch immer nicht gelöst; die Verwaltung ist in einer überkommenen analogen Bürokratie erstarrt; die Bundeswehr würde sich freuen, wenn sie nur marode wäre; der größte Staatskonzern (also der mit den Zügen) widerlegt täglich das, was eigentlich der Markenkern dieses Landes sein soll (höchste Qualität, Zuverlässigkeit etc.). Mir fiele noch einiges ein – und Ihnen noch viel mehr.

Und trotzdem kommt es nun, mein großes Aber: Denn im Leben ist eben auch alles relativ. Deshalb meine Frage: Fällt Ihnen spontan ein Land ein, in dem es sich trotz der zuvor beschriebenen Defizite alles in allem so gut leben lässt wie bei uns?

Bevor Sie möglicherweise denken "Na klar, da gibt es doch ganz viele", gestatten Sie mir noch einen Hinweis. Es gibt bei uns einige Dinge, die wir als selbstverständlich erachten, die aber im internationalen Vergleich alles andere als selbstverständlich sind: Wir sind eines der freiesten Länder und unsere Demokratie gehört zu denen, die am besten funktionieren (schöne Grüße nach Peking und Washington); es gibt bei uns kaum Korruption (fragen Sie mal in Russland, Indien, Argentinien oder Bulgarien nach, wie es auch sein kann); die Mordrate bei uns gehört zu den niedrigsten überhaupt (in Südafrika und Mexiko kann man schön Urlaub machen, aber wer dort lebt, schützt sich oft lieber mit hohen Mauern).

Und ja, es gibt Staaten, die im internationalen Vergleich noch besser abschneiden als Deutschland. Je nach Ranking finden sich häufig skandinavische Vertreter, die Schweiz, weitere europäische Länder oder etwa Neuseeland und Singapur weit oben. Und keine Frage: Dort ist es meistens mindestens genauso lebenswert wie in Deutschland. Aber selbst wenn man großzügig rechnet, handelt es sich um maximal zehn Staaten. Auf der Welt gibt es fast 200.

Und ich bin mir relativ sicher, dass viele Menschen, die bei uns etwas auszusetzen haben, auch in der globalen Top Ten fündig würden.

In Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland zum Beispiel ist es kühler und im Winter auch dunkler als bei uns.

In der Schweiz wird es vermutlich auch nicht mehr so, wie es niemals war. In diesem vermeintlich verlässlichsten unter den verlässlichen Ländern verschwindet inzwischen auch schon mal übers Wochenende eine Bank, die kurz vorher noch zu den größten überhaupt gehörte.

In den Niederlanden sitzen 17 Parteien im Parlament, die Regierungsbildung dauerte zuletzt 271 Tage – und inzwischen triumphiert bei Wahlen eine Anti-Establishment-Partei.

Sind Sie in Frankreich schon mal TGV gefahren? Klar, der ist meistens schneller als der ICE, aber für Passagiere oft auch unbequemer.

Und würden Sie in Singapur nicht manchmal das Kaugummikauen genauso vermissen wie ein politisches System, in dem nicht nur eine Partei das Sagen hat?

Ich liste das nicht alles auf, weil ich glaube, wir könnten nicht vieles bei uns verbessern. Und schon gar nicht, weil ich denke, in Deutschland sei alles so großartig, dass der Rest der Welt eine Menge von uns lernen könnte. Im Gegenteil: Ich finde wenig peinlicher als deutsche Politiker, die andere Regierungen erziehen wollen. Oder deutsche Touristen, die im Ausland den Einheimischen mal erklären, wie man dies und das richtig macht.

Trotzdem bin ich überzeugt, dass Milliarden Menschen gern nur unsere Probleme hätten. Deshalb könnten wir uns doch auch einfach mal freuen, dass es uns alles in allem so gut geht. Und dass trotz eines brutalen Krieges in der nahegelegenen Ukraine und einer international sehr angespannten Lage vieles sogar besser läuft als gedacht.

Wer Anfang April 2022 prognostiziert hätte, dass wir nicht nur ohne russisches Gas durch den Winter kommen werden, sondern auch ohne nennenswerte Probleme, wäre genauso verlacht worden wie jemand, der in Aussicht gestellt hätte, dass man bald überall den Nahverkehr nutzen kann, ohne an wirren Tastenkombinationen an Automaten oder undurchschaubaren Tarifen in Apps zu verzweifeln.

Wenn Ihnen das jetzt alles zu positiv ist, können Sie meine Argumentation selbstverständlich falsch finden. Sie können der Meinung sein, hier beschönige jemand soziale Missstände. Sie können erschrocken sein, dass das Wort Klima an dieser Stelle zum ersten Mal auftaucht. Sie können beklagen, der Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands komme zu kurz. Und so weiter.

Niemand wird Ihnen verbieten, das zu denken – und es auch kundzutun. Noch so eine Sache, die in Deutschland wirklich wunderbar ist.


Adieu sagen…

Das Ergebnis der Parlamentswahl in Finnland ist deutlicher als vorhergesagt: Die Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Sanna Marin sind nur drittstärkste Kraft hinter den Konservativen und den Rechtspopulisten geworden. Die Regierungszeit der 37-Jährigen dürfte damit beendet sein. Was von Marins Amtszeit auf jeden Fall bleibt: Finnland wird in wenigen Tagen offiziell das 31. Nato-Mitglied.

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Hoffen…

Olaf Scholz reist heute zu seinem Antrittsbesuch nach Rumänien. In Bukarest trifft er auch die moldauische Präsidentin Maia Sandu. Seit dem vergangenen Jahr ist Moldau EU-Beitrittskandidat. Das Land, das zwischen Rumänien und der Ukraine liegt, ist eines der ärmsten in Europa. In der abtrünnigen Region Transnistrien sind seit den Neunzigerjahren russische Soldaten stationiert.


Bangen…

In Berlin stellen CDU und SPD am Vormittag ihren Koalitionsvertrag vor – natürlich auf Landes- und nicht auf Bundesebene. Die größte Hürde steht aber noch bevor: Bis 21. April müssen die SPD-Mitglieder entscheiden. Und die Begeisterung in der Partei hält sich in engen Grenzen.


Sich schon mal freuen…

Falls Sie es kaum erwarten können: Heute startet offiziell der Verkauf des 49-Euro-Tickets. Sie können es als Handyticket oder Chipkarte erwerben. Beides bringt Ihnen allerdings vorerst nichts, denn gültig ist es erst ab dem 1. Mai. Und ja: Hochoffiziell heißt es Deutschland-Ticket.


Ohrenschmaus

Weil ich Sie ja heute dazu animieren will, mehr das Positive zu sehen, gibt es hier eine Liste mit entsprechenden Songs. Es existieren natürlich unzählige solcher Übersichten.


Lesetipps

"Ich weiß, dass Oliver Kahn lügt", sagte Rekordnationalspieler Lothar Matthäus meinem Kollegen Julian Buhl am Samstagabend in der Halbzeitpause des Spiels Bayern München gegen Borussia Dortmund – und heizte damit einen Streit an, den sich beide davor geliefert hatten. Anlass war die nicht ganz so perfekt gelaufene Trennung von Trainer Julian Nagelsmann. Am Sonntag konterte erst Kahn die Attacke von Matthäus, dann legte der wiederum nach.


Als klar war, dass Donald Trump als erster Ex-Präsident in der Geschichte der USA angeklagt wird, stieg mein Washingtoner Kollege Bastian Brauns in den nächsten Zug nach New York City. Was er bei seinem Besuch im Trump-Tower erlebte, können Sie hier lesen – und seine Einschätzung, wie die nächsten Tage verlaufen, hier in seiner Video-Analyse sehen.


Ob an Unis, Schulen oder im Verhör: Das islamische Regime vergiftet systematisch Protestierende im Iran. Meine Kollegin Marianne Max hat mit der Expertin Gilda Sahebi über die brutalen Methoden und die Strategie dahinter gesprochen.


Historisches Bild

Mit den Geschossen von heute hat das "Ur-Motorrad" wenig gemein, aber zu seiner Zeit war es revolutionär. Mehr dazu erfahren Sie hier.


Zum Schluss

Die Regierung sorgt zumindest für Frieden beim Fußball.

Ich wünsche Ihnen einen optimistischen Start in die Woche. Morgen schreibt Florian Harms wieder für Sie den Tagesanbruch.

Herzliche Grüße

Ihr Sven Böll
Managing Editor t-online
Twitter: @SvenBoell

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Mit Material von dpa.

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